Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 14.03.2006

LSG Berlin und Brandenburg: diabetes mellitus, hauptsache, versorgung, nahrung, erlass, rechtsschutz, zivilprozessordnung, obsiegen, demenz, interessenabwägung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 14.03.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Cottbus S 6 P 4/05
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 24 P 2/06 ER
Der Antrag der Klägerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgewiesen. Kosten des Antragsverfahrens
haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Klägerin begehrt im Hauptsacheverfahren von der Beklagten Leistungen nach der Pflegestufe I.
Das Sozialgericht hat hierzu folgenden Sachverhalt – den auch der Senat nach Überprüfung für zutreffend hält –
festgestellt:
Die 1935 geborene Klägerin leidet an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus und Herzinsuffizienz. Sie wohnt allein
und wird von der im gleichen Ort wohnenden Nichte betreut.
Am 12. November 2003 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Leistungen der Pflegeversicherung, weil sie Hilfe
beim Waschen, Duschen und Baden, teilweise bei der Zahnpflege, beim Kämmen, bei der mundgerechten Zubereitung
der Nahrung, beim An- und Auskleiden, beim Treppensteigen, beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung und
bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötige. Die Beklagte ließ die Klägerin durch die Ärztin Frau M in häuslicher
Umgebung untersuchen. Frau M stellte in ihrem Gutachten vom 08. April 2004 fest, dass ein Hilfebedarf bei der
Ganzkörperwäsche, beim Duschen, beim Ankleiden und bei der hauswirtschaftlichen Versorgung mit einem
Zeitaufwand für die Grundpflege von 24 Minuten bestehe. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. April
2004 die Bewilligung von Pflegegeld ab, weil der vom Gesetzgeber geforderte zeitliche tägliche Mindestpflegeaufwand
nicht vorläge. Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch trug die Klägerin vor, der zeitliche Aufwand für die einzelnen
Pflegeleistungen sei zu gering berücksichtigt worden. Im Widerspruchsverfahren wurde ein Pflegetagebuch geführt,
wegen dessen Einzelheiten auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen wird. Die Beklagte wies den
Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2004, der Klägerin zugestellt am 03. Januar 2005, als
unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, für eine Zuordnung zur Pflegestufe I werde weder die geforderte
Häufigkeit des Hilfebedarfs noch der festgelegte Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als
Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson benötige, erreicht.
Dagegen hat die Klägerin am 01. Februar 2005 Klage erhoben.
Sie trägt vor, sie müsse zweimal täglich gespritzt werden, es bestehe ein Mehraufwand bei der Zubereitung der
Nahrung und sie bedürfe wegen der Polyneuropathie beider Beine bei allen Verrichtungen der Hilfe.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23. April 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.
Dezember 2004 zu verurteilen, der Klägerin ab 24. November 2003 Pflegegeld nach Pflegestufe I zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich auf ihr Vorbringen im Widerspruchsbescheid.
Das Gericht hat einen Befundbericht der behandelnden Ärztin der Frau W eingeholt. Wegen der Einzelheiten des
Befundberichtes wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
Sodann hat das Sozialgericht mit Urteil vom 07. Dezember 2005 die Klage abgewiesen und zur Begründung im
Wesentlichen ausgeführt, dass nach der Auswertung der im Verwaltungsverfahren durchgeführten Begutachtung und
des Befundberichtes der behandelnden Ärztin Wendland und unter kritischer Würdigung des geführten
Pflegetagebuches festzustellen sei, dass die Klägerin nicht mehr als 45 Minuten täglich Hilfe bei der Grundpflege
bedürfe. Deshalb sei der erhebliche Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung unerheblich, da nach der
Vorschrift des § 15 Sozialgesetzbuch - Pflegeversicherung - (SGB XI) auf die Grundpflege allein mindestens 46
Minuten Pflegebedarf täglich entfallen müssten.
Gegen dieses dem Betreuer der Klägerin am 16. Dezember 2005 durch Einwurfeinschreiben bekannt gegebene Urteil
hat dieser am 12. Januar 2006 Berufung eingelegt und zugleich den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.
Die Eilbedürftigkeit ergebe sich daraus, dass hier schnelle Hilfe nötig sei, um der Klägerin ein würdevolles und relativ
schmerzfreies Leben zu ermöglichen.
Aus diesem Vorbringen des Betreuers der Klägerin ergibt sich der Antrag,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin bis zur Entscheidung in
der Hauptsache Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung nach Pflegestufe I zu gewähren.
Die Antragsgegnerin hat im Verfahren zur Hauptsache dargelegt, dass die Berufung zurückzuweisen sei, da die
medizinischen Ermittlungen ergeben hätten, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I bei der Antragstellerin nicht
vorlägen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze und wegen der weiteren Einzelheiten des
Sachverhalts auf den Inhalt der Gerichtsakten (L 24 P 2/06 und L 24 P 2/06 ER) sowie der Verwaltungsakte der
Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG - zulässige Antrag ist unbegründet.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache – hier das Landessozialgericht – eine einstweilige
Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist der Fall, wenn das Bestehen eines
Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes nach summarischer Prüfung wahrscheinlich ist (vgl. Meyer-
Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 7. Auflage, § 86 b Rdnr. 27).
Die Tatsachenbehauptungen zu dieser Prüfung sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 in Verbindung mit §
920 Abs. 2 und § 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO -). Der Anordnungsgrund besteht in der Eilbedürftigkeit der
einstweiligen Anordnung; der Anordnungsanspruch ist der materiell-rechtliche Anspruch, der für den vorläufigen
Rechtsschutz begehrt wird, wobei das Obsiegen nach den glaubhaft gemachten Tatsachen überwiegend
wahrscheinlich sein muss.
Im vorliegenden Fall ist weder ein Anordnungsgrund noch ein Anordnungsanspruch gegeben. Bei der summarischen
Beurteilung im Rahmen des Anordnungsverfahrens ergeben sich erhebliche Zweifel daran, ob die Klägerin tatsächlich,
wie von ihrem Betreuer vorgetragen, entgegen den Feststellungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen -
MDK -, mehr als 45 Minuten täglich im Bereich der Grundpflege der Hilfe bedarf. Die Feststellungen des MDK im
Verwaltungsgutachten werden im Wesentlichen durch den Befundbericht der behandelnden Ärztin für
Allgemeinmedizin W vom 03. Juli 2005, die die Klägerin seit über zehn Jahren behandelt, bestätigt. Diese hat
dargelegt, dass bei der Klägerin im Bereich der Grundpflege kein ständiger Hilfebedarf besteht und geht damit von
einem noch geringeren Bedarf als die Beklagte aus.
Das Gutachten des Prof. Dr. E für das Amtsgericht Brandenburg an der Havel vom 07. September 2004 ist hier nicht
verwertbar, da es keinerlei Angaben zu einem etwaigen Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege macht und der
Sachverständige hiernach auch nicht gefragt war. Wenn der Sachverständige Dr. E im Rahmen des Gutachtens im
Betreuungsverfahren eine leichte bis mittelschwere Demenz und eine diabetische Polyneuropathie beider Beine und
eine starke Schwerhörigkeit diagnostiziert, so hat dies keine Aussagekraft darüber, ob die Klägerin pflegebedürftig ist.
Wenn die Klägerin bzw. ihr Betreuer ohne neue medizinisch begründete Darlegungen vortragen, die Feststellungen der
Ärzte seien unzutreffend, wird dadurch allein ein über die Feststellungen des MdK hinausgehender Pflegebedarf nicht
belegt. Daher ist ein Anordnungsanspruch derzeit nicht überwiegend wahrscheinlich.
Auch ist ein Anordnungsgrund weder glaubhaft gemacht noch ist er ersichtlich. Es wird eine so genannte
Regelungsanordnung begehrt, da die Antragstellerin wünscht, eine Rechtsposition, nämlich den Bezug von
Pflegegeld, vorläufig (neu) zu begründen, und zwar ohne dass, wie oben dargelegt, sicher zu beurteilen wäre, ob die
Anspruchsvoraussetzungen für den Pflegegeldanspruch gegeben sind. Eine Regelungsanordnung ist in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis dann zu erlassen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Es sind vorliegend keine wesentlichen Nachteile ersichtlich, die dazu führen müssen, dass die Abwägung
der Interessen der Antragstellerin am Bezug der Leistung und der Antragsgegnerin daran, dass sie eine einstweilig
gewährte Leistung unter Umständen nicht zurückerhält, zugunsten der Antragstellerin ausfallen muss. Bei einem
Pflegegeldanspruch geht es um eine finanzielle Leistung, insoweit sind die finanziellen Interessen beider Beteiligter
grundsätzlich gleich. Über das bloße Ausbleiben der Leistung und daraus möglicherweise resultierende
Zahlungsschwierigkeiten hinaus hat die Antragstellerin nichts vorgetragen, was ihr das Abwarten der Entscheidung in
der Hauptsache nicht zumutbar machen könnte.
Die einstweilige Anordnung darf die Hauptsache nicht vorwegnehmen. Es können deshalb bei Leistungsklagen auf
Geldzahlungen nur unter sehr engen Voraussetzungen Anordnungen zur vorläufigen Befriedung des Antragstellers
geboten sein (Meyer-Ladewig, a. a. O., Rdnr. 31). Insoweit sieht der Senat einen Anordnungsgrund bei
Zahlungsansprüchen insbesondere dann, wenn unter der - hier nicht gegebenen – Voraussetzung einer günstigen
Erfolgsprognose zur Hauptsache neben dem bloßen Ausbleiben der Zahlungen schwerwiegende und unzumutbare
Nachteile drohen, die anders nicht abgewendet werden könnten. Diese sind hier nicht vorgetragen und nicht
ersichtlich. Im Antrag selbst sind zu den finanziellen Verhältnissen der Antragstellerin keine Angaben gemacht und
solche demgemäß erst recht nicht glaubhaft gemacht worden.
Bei der gebotenen Interessenabwägung überwiegt daher das Interesse der Antragsgegnerin, so dass der Antrag mit
der Kostenfolge aus § 193 Abs. 1 SGG zurückzuweisen war.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).