Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 19.09.2006

LSG Berlin und Brandenburg: krankengeld, hauptsache, dringlichkeit, rechtsschutz, erlass, zukunft, entstehung, rückzahlung, scheidung, währung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 19.09.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Neuruppin S 9 KR 77/06 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 9 B 302/06 KR ER
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 8. Mai 2006 wird
zurückgewiesen. Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht den Antrag auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, weil die Voraussetzungen des § 86 b Absatz 2 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) nicht vorliegen.
1. Ausweislich des bereits bei dem Sozialgericht gestellten Antrags begehrt der Antragsteller die Gewährung von
Krankengeld ab dem 1. April 2006 auf unbestimmte Zeit. Für die Zeit vom 1. April bis zum Zeitpunkt der Entscheidung
des Senats im Beschwerdeverfahren fehlt es jedenfalls an einem Anordnungsgrund, denn insoweit besteht keine
besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlich machen kann. Der Antragsteller hat
– auch nach Erhalt der Entscheidung des Sozialgerichts, die unter Anderem auf das Fehlen des Anordnungsgrundes
gestützt war – keine Umstände vorgetragen, die einen Anordnungsgrund begründen können.
a) In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes
nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der
Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung
[VwGO], 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur
Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein
spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann.
Die rückwirkende Feststellung einer – einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden – besonderen Dringlichkeit ist
zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn
die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4
Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung
im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare,
anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der
Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 – 1 BvR
1586/02 – und vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen
Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese
Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Ent-scheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere
Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den
zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.
b) Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4
GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume
verlangen kann, so insbesondere dann, wenn ande-renfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht
erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des
Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine – stattgebende – Entscheidung im Verfahren
der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Derartige Umstände hat der Antragsteller
jedoch nicht vorgetragen, sie sind auch nicht sonst ersichtlich. Soweit der Antragsteller geltend macht, er benötige die
Gewährung von Krankengeld, um Übergangsgeld von der Deutschen Rentenversicherung oder eine
Rehabilitationsleistung zu erhalten, ist dies nicht geeignet, einen Anordnungsgrund herbeizuführen. Denn selbst dann,
wenn der Antragsteller für einen zurückliegenden Zeitraum im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes einen
Anspruch auf Krankengeld vorläufig zuerkannt bekäme, läge darin keine endgültige Ge-währung von Krankengeld. Nur
eine solche endgültige Gewährung von Krankengeld wäre in-essen geeignet, als Grundlage für weitere
Sozialleistungen zu dienen, denn andere Sozialleistungen knüpfen lediglich an der endgültigen und nicht an einer bloß
vorläufigen Gewährung von Krankengeld an. Der Antragsteller könnte auch durch eine zusprechende Entscheidung im
einstweiligen Rechtsschutz keine Besserstellung im Hinblick auf Renten- oder Rehabilitationsleistungen erhalten; eine
solche Besserstellung wäre für ihn allenfalls dann zu erzielen, wenn er den Anspruch auf Krankengeld in einem
Verfahren der Hauptsache endgültig zuerkannt erhielte. Dies bedeutet gleichzeitig, dass insoweit effektiver
Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren erlangt werden und dem Antragsteller ein Zuwarten auf die Entscheidung in der
Hauptsache zugemutet werden kann.
Soweit der Antragsteller darüber hinaus geltend macht, er sei einkommenslos, die Inanspruchnahme von Leistungen
nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) sei ihm nicht zumutbar, liegt auch hierin kein Umstand, der für
einen zurückliegenden Zeitraum einen Anord-nungsgrund im Sinne von § 86b Absatz 2 SGG begründen kann. Denn
der Antragsteller hat bis zur Beschwerdeentscheidung keine Sozialleistungen bezogen, sondern sich Einkommen auf
anderem Wege, möglicherweise unter Inanspruchnahme privater Darlehen seiner Mutter, beschafft. Insofern dient das
Begehren auf vorläufigen Rechtsschutz nur dazu, die durch diese finanzielle Hilfe Dritter aufgelaufenen
Verbindlichkeiten des Antragstellers zu tilgen. Die Beschaffung der Mittel zur Rückzahlung privater Schulden durch
die Bewilligung von Krankengeld kann jedoch in einem Verfahren der Hauptsache erfolgen, ohne dass dem
Antragsteller schwere, nicht wieder gutzumachende Nachteile entstehen würden.
Vor diesem Hintergrund bedarf es im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung, ob dem Antragsteller für die Zeit
vom 1. April bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren tatsächlich ein Anspruch auf
Krankengeld zugestanden hat. Vielmehr ist es dem Antragsteller aus den vorgenannten Gründen zumutbar, den
Ausgang eines diesbezüglichen Verfahrens der Hauptsache abzuwarten.
2. Für die Zeit nach der Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren fehlt es an dem erforderlichen
Anordnungsanspruch. Denn selbst dann, wenn – wie vom Antragsteller geltend gemacht – am 18. November 2004 ein
neuer, gesonderter Anspruch auf Krankengeld entstan-den sein sollte, so hätte dieser spätestens mit Ablauf des 17.
Mai 2006 gemäß § 48 Absatz 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) geendet, weil zu diesem Zeitpunkt
die Höchstbezugsdauer von 78 Wochen erschöpft gewesen wäre. Dies bedeutet, dass dem Antragsteller – selbst die
Richtigkeit seines bisherigen prozessualen Vorbringens unterstellt – jedenfalls für die Zukunft kein Anspruch auf
Krankengeld mehr zustehen kann. Zwar ist rechtlich nicht gänzlich ausgeschlossen, dass möglicherweise zu einem
nach dem 18. November 2004 liegenden Zeitpunkt ein neuer Anspruch auf Krankengeld mit einer möglichen neuen
Höchstbezugsdauer von 78 Wochen entstanden sein könnte. Der Antragsteller hat hierzu jedoch weder etwas
vorgetra-gen noch lässt sich aus den dem Senat vorliegenden Akten hierzu etwas entnehmen, was für die Entstehung
eines solchen Anspruches sprechen könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht nicht anfechtbar.