Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 24.02.2010

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
27. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 27 P 21/10
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 15 SGB 11
Grundpflege - Baden
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom
24. Februar 2010 aufgehoben.
Die Beklage wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 5. Dezember 2007 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Februar 2008 verurteilt, der Klägerin mit
Wirkung vom 13. Juli 2007 Pflegegeld nach der Pflegestufe III zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten
Verfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die im Jahre 1933 geborene Klägerin erkrankte im Jahre 1938 an einer Poliomyelitis und
leidet jetzt an folgenden gesundheitlichen Einschränkungen:
- Lähmung des gesamten Körpers nach Kinderlähmung (Postpoliomyelitissyndrom)
mit Tetraparese nach Polio 1938),
- Anlage einer Kunstblase,
- Abnutzungserscheinungen des Skelettsystems,
- Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck.
Seit dem Jahre 1991 bezog die Klägerin nach damaligem Krankenversicherungsrecht
Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit, seit dem Jahre 1995 Leistungen der
sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II. Am 13. Juli 2007 beantragte sie bei
der Beklagten die Zuerkennung der Pflegestufe III. Nach Durchführung medizinischer
Ermittlungen lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 5. Dezember 2007 und
Widerspruchsbescheid vom 29. Februar 2008 den Antrag mit der Begründung ab, die
zeitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Pflegestufe III würden nicht erfüllt.
Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Berlin u. a. ein Gutachten der
Sachverständigen Dr. B vom 3. Juli 2009 eingeholt. Darin ist die Sachverständige zu der
Einschätzung gelangt, bei der Klägerin seien durchschnittlich täglich 206 min
Pflegeaufwand im Bereich der Grundpflege und mehr als 60 min im Bereich der
hauswirtschaftlichen Versorgung anzusetzen. Im Einzelnen setzte sie folgende Werte an:
In einer durch das Sozialgericht veranlassten ergänzenden Stellungnahme vom 19.
Dezember 2009 hat die Sachverständige darüber hinaus ausgeführt, es könnten bei der
Klägerin weitere 5 min Pflegeaufwand für die nächtliche Umlagerung sowie 15 min
täglicher Pflegeaufwand für die Ermöglichung einer Mittagsruhe angesetzt werden, so
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täglicher Pflegeaufwand für die Ermöglichung einer Mittagsruhe angesetzt werden, so
das sich der Grundpflegebedarf insgesamt auf 226 Minuten täglich durchschnittlich
erhöhe. Dieser Pflegeaufwand habe bereits bei Antragstellung vorgelegen und
entspreche ungefähren Schätzwerten entsprechend den Begutachtungsrichtlinien.
Mit Gerichtsbescheid vom 24. Februar 2010 hat das Sozialgericht die Klage nach
vorangegangener Anhörung der Beteiligten abgewiesen, weil die zeitlichen
Voraussetzungen für die Pflegestufe III nicht erfüllt seien.
Mit ihrer am 1. April 2010 bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
eingegangenen Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter, ab Antragstellung die
Zuerkennung der Pflegestufe III und entsprechende Pflegeleistung zu erhalten. Sie
macht geltend, die zeitlichen Grenzen für die Ernährung, für die Körperpflege und auch
für die Mobilität seien falsch angesetzt. Es sei ein häufigeres Duschen und Baden
möglich und auch medizinisch sinnvoll. Der zeitliche Aufwand für das Füttern müsse
höher angesetzt werden, weil die normale Fütterung für die Klägerin sehr unangenehm
und schmerzhaft sei. Auch seien häufige Besuche bei Ärzten, Physiotherapeuten und
anderen Einrichtungen im Rahmen der Mobilität zu berücksichtigen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 24. Februar 2010
aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 5. Dezember 2007
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Februar 2008 zu verurteilen, ihr ab
dem 13. Juli 2007 Pflegegeld entsprechend der Pflegestufe III zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen
auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die
Verwaltungsakten der Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen
haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144
Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist auch in der Sache begründet. Die Klägerin hat für den
gesamten streitbefangenen Zeitraum auf Leistungen nach der Pflegestufe III, weil die
Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch/Elftes Buch (SGB XI) in
Verbindung mit § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB XI erfüllt sind. Zwischen den Beteiligten
steht fest, dass die Klägerin bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität
täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der
Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt sowie dass der Umfang
des Bedarfs in der hauswirtschaftlichen Versorgung täglich durchschnittlich mehr als 60
Minuten beträgt; auch der Senat hat hieran nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens
(§ 128 SGG) keinen Zweifel.
Streitig ist zwischen den Beteiligten lediglich noch, ob der Aufwand in der Grundpflege
den nach § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB XI erforderlichen Mindestbedarf von
durchschnittlich 240 Minuten täglich erreicht. Das Sozialgericht hat insoweit – gestützt
auf die Feststellungen der gerichtlichen Sachverständigen – lediglich einen
Durchschnittsbedarf von 226 Minuten täglich zugrunde gelegt. Zur Überzeugung des
Senats indessen beträgt der tägliche Bedarf in der Grundpflege durchschnittlich
mindestens 247 Minuten, wodurch die Voraussetzungen des Anspruchs insgesamt erfüllt
werden. Dies ergibt sich daraus, dass nicht – wie von der Sachverständigen zugrunde
gelegt – täglich durchschnittlich neun Minuten für das Duschen oder Baden anzusetzen
sind, sondern zur Überzeugung des Senats täglich durchschnittlich mindestens 30
Minuten für diesen Bereich angesetzt werden müssen. Die Sachverständige setzt hierbei
dreimal wöchentlich den Aufwand für das Duschen an und ermittelt dann den täglichen
Durchschnittswert von neun Minuten. Zur Überzeugung des Senats auf der Grundlage
des Ergebnisses des gesamten Verfahrens indessen steht fest, dass der – tatsächlich
den Erfordernissen entsprechende – Bedarf der Klägerin sich deswegen als höher
darstellt, weil der Klägerin die Möglichkeit eröffnet werden muss, täglich gebadet zu
werden.
Bei der Klägerin ist nämlich zu bedenken, dass sie nicht nur in weitreichendem Maße
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Bei der Klägerin ist nämlich zu bedenken, dass sie nicht nur in weitreichendem Maße
gelähmt ist, sondern dass bei ihr auch eine Kunstblase angelegt wurde. Der Senat hat
keine Zweifel daran, dass die Herstellung der hygienischen Mindestbedingungen hier das
Maß der Körperpflege über den sonst üblichen Aufwand hinaus erheblich steigert und
angesichts der vorgenannten atypischen Einschränkungen den Erfordernissen einer
angemessenen Körperpflege nur durch ein mindestens täglich stattfindendes Baden
Rechnung getragen werden kann, für das auch keine medizinische Kontraindikation
besteht.
Nach D 4.0/V./4.3 der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur
Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI (Begutachtungs-Richtlinien –
BRi) umfasst das Baden eine Ganzkörperwäsche in einer Badewanne, wobei der
Antragsteller entweder sitzen oder liegen kann. Zum eigentlichen Waschvorgang
gehören sowohl die Vor- und Nachbereitung, das Waschen des ganzen Körpers selbst
sowie das Abtrocknen des Körpers. Ferner sind die Angaben zu Punkt D 4.0/III./4. zur
Ermittlung des zeitlichen Umfangs des regelmäßigen Hilfebedarfs zu berücksichtigen.
Hiernach bleibt die individuelle Pflegesituation für die Feststellung des zeitlichen
Umfangs des Hilfebedarfs maßgeblich. Insbesondere ist zu prüfen, ob die Durchführung
der Pflege durch besondere Faktoren wie z. B. verrichtungsbezogene
krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen beeinflusst ist. Dies führt im vorliegenden Fall
dazu, dass die vorgenannten besonderen gesundheitlichen Einschränkungen in der
Person der Klägerin einen täglichen Aufwand für das Baden bedingen, der mindestens 30
Minuten im Durchschnitt beträgt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des
Verfahrens in der Sache selbst.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 SGG nicht
ersichtlich sind.Urteil:
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