Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 04.09.2006

LSG Berlin-Brandenburg: umzug, wohnung, behinderung, zumutbarkeit, therapie, auflage, link, sammlung, quelle, krankheit

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
28. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 28 B 1061/07 AS
PKH
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 114 ZPO, § 115 ZPO, § 73a
SGG, § 22 Abs 1 S 3 SGB 2
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Prozesskostenhilfe -
Kosten der Unterkunft - Umzug - Zumutbarkeit - Behinderung -
Krankheit
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. September 2006 wird aufgehoben.
Der Klägerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin ab Antragstellung
Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt H G-B, Mastr., B, beigeordnet. Beträge aus
dem Vermögen oder Raten sind nicht zu zahlen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die nach § 172 Abs. 1 und § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der
Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. September 2006, der das
Sozialgericht nicht abgeholfen hat (§ 174 SGG), ist begründet. Der Klägerin ist für das
erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG in
Verbindung mit §§ 114 Satz 1, 115, 119 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) zu
gewähren.
Die Gewährung von Prozesskostenhilfe setzt nach den genannten Vorschriften voraus,
dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht
auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Diese Erfolgsaussicht war im maßgeblichen
Zeitpunkt, der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrages in der ersten Instanz
gegeben.
Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu
verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das
Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz
erfordert, nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen (vgl. BVerfGE 81, 347, 357).
Die Fachgerichte überschreiten den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der
Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der hinreichenden Erfolgsaussicht
verfassungsrechtlich zukommt, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch
den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird. Das ist namentlich der Fall, wenn
das Fachgericht die Anforderungen an die Erfolgsaussicht überspannt und dadurch den
Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu
Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlt (vgl. BVerfGE 81, 347, 358).
Kommt insbesondere eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht und liegen keine
konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beweisaufnahme mit
großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden ausgehen würde,
so läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, dem Unbemittelten wegen
fehlender Erfolgsaussichten seines Rechtsschutzbegehrens Prozesskostenhilfe zu
verweigern (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. zuletzt
Beschluss vom 3. Juni 2003, 1 BvR 1355/02, NJW-RR 2003, 1216). Dies muss dazu führen,
dass die Erfolgsaussicht eines Rechtsschutzbegehrens dann nicht verneint werden darf,
wenn entweder Aufklärungsbedarf in tatsächlicher Hinsicht besteht oder aber schwierige
rechtliche Fragen zu klären sind, deren Klärung der Durchführung eines Verfahrens der
Hauptsache vorbehalten sein muss.
Diese Voraussetzungen erfüllt das Rechtsschutzbegehren der Klägerin, mit dem sie sich
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Diese Voraussetzungen erfüllt das Rechtsschutzbegehren der Klägerin, mit dem sie sich
im Kern gegen die Aufforderung zur Absenkung der Kosten der Unterkunft wendet und
die Übernahme der tatsächlichen Kosten der Unterkunft auch über den 30. September
2006 hinaus begehrt. Denn nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II sind, soweit die
Aufwendungen für die Unterkunft den nach der Besonderheit des Einzelfalles
angemessenen Umfang übersteigen, als Bedarf des allein stehenden Hilfebedürftigen
oder der Bedarfsgemeinschaft so lange zu berücksichtigen, wie es dem allein stehenden
Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist,
durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die
Aufwendungen zu senken, in der Regel längstens für sechs Monate. Dabei ist die
Zumutbarkeit umgehender Kostensenkungsbemühungen in aller Regel anzunehmen.
Allein die typischerweise mit einem Umzug verbundenen Belastungen machen einem
Umzug nicht unzumutbar; es muss sich um eine vom Durchschnitt abweichende
besondere Belastungssituation handeln, wie Gebrechlichkeit bei hohem Alter, eine
aktuelle schwere Krankheit oder eine Behinderung. Bei substantiierter Berufung auf
gesundheitsbedingte Umzugshindernisse ist gegebenenfalls eine gutachterliche Klärung
geboten (vgl. Berlit in LPK-SGB-II, 2. Auflage 2007, § 22 Rdnr. 59 m. w. Nachw.).
Ein solcher Sachverhalt liegt hier vor. Der minderjährige und durch seine Mutter
vertretene Kläger hat unter Vorlage u. a. zweier Schreiben der Leitenden Kinderärztin Dr.
S. S des Z für K e. V. vom 16. Mai 2005 und vom 16. Oktober 2006 vorgetragen, dass er
unter einer multimodalen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung, einer
Koordinationsstörung der Grobmotorik und einer Interaktionstörung leidet. Die Ärztin gibt
an, dass bei einem Wohnungs- und Umfeldwechsel negative Folgen für die Entwicklung
des Klägers zu befürchten seien. Der Erfolg der laufenden Therapie hänge wesentlich
vom Erhalt des „Schutzraumes“ Wohnung ab. Der Kläger benötige für seine Entwicklung
unbedingt die Stabilität des Wohnumfeldes. Ergänzend hat das Jugendamt des Bezirkes
Friedrichshain-Kreuzberg in einem Schreiben vom 27. September 2006 mitgeteilt, dass
ein Wohnungswechsel und eine Wohnraumveränderung die jetzige seelische Situation
des Klägers destabilisieren und weitere Jugendhilfemaßnahmen erforderlich machen
würde, die bei einem Beibehalten der jetzigen Wohnung nicht notwendig wären. Inwieweit
dieser Vortrag zutrifft und falls ja, ob dieser Sachverhalt einem Umzug in der derzeitigen
Situation entgegensteht, muss in dem Hauptsacheverfahren ermittelt und
gegebenenfalls durch Einholung eines Gutachtens geklärt werden.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG in
Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO).
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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