Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 22.03.2010

LSG Berlin-Brandenburg: teleologische auslegung, prostitution, arbeitsförderung, erlass, drucksache, aktiven, anspruchsvoraussetzung, zivilprozessordnung, form, verfügung

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
29. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 29 AL 117/10 B ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 57 SGB 3, § 1 Abs 2 Nr 4 SGB
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Sozialgerichtliches Verfahren; einstweilige Anordnung bei
Geltendmachung von Leistungen der Arbeitsförderung für die
Vergangenheit; Gründungszuschuss; Förderung der Aufnahme
einer selbstständigen Tätigkeit im Bereich der Prostitution;
Anforderungen an den Nachweis der Tragfähigkeit der
Existenzgründung
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
22. März 2010 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Der Antrag der Antragstellerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die
Durchführung des Beschwerdeverfahrens vor dem Landessozialgericht Berlin-
Brandenburg wird abgelehnt.
Gründe
Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist unbegründet. Das Sozialgericht hat den
Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass der Antragsteller das
Bestehen eines zu sichernden Rechts (den so genannten Anordnungsanspruch) und die
Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (den so genannten Anordnungsgrund)
glaubhaft macht. (§ 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -, § 920 Abs. 2
Zivilprozessordnung – ZPO -). Auch im Beschwerdeverfahren sind die tatsächlichen und
rechtlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich (OVG
Hamburg, NVwZ 1990, 975).
In Bezug auf Leistungen zur Arbeitsförderung für die Zeit ab dem Antragszeitpunkt bis
zur Entscheidung des erkennenden Senates steht der Antragstellerin kein
Anordnungsgrund zur Seite. Derartige Ansprüche für die Vergangenheit können
regelmäßig nicht im Wege eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens anerkannt
werden. Diese sind in einem Hauptsacheverfahren geltend zu machen. Etwas Anderes
kann nur dann in Betracht kommen, wenn die sofortige Verfügbarkeit von für
zurückliegende Zeiträume zu zahlenden Hilfen zur Abwendung eines gegenwärtig
drohenden Nachteils erforderlich ist. Diesbezüglich ist jedoch von der Antragstellerin
nichts glaubhaft gemacht worden.
Soweit die Antragstellerin die Verpflichtung der Antragsgegnerin begehrt, im Wege der
einstweiligen Anordnung Leistungen für die Zeit ab der Entscheidung des Senats zu
erhalten, fehlt es ebenfalls an einem Anordnungsgrund. Die Antragstellerin hat nicht
glaubhaft gemacht, dass sich für sie derzeit wesentliche Nachteile ergeben, die durch
den Erlass einer einstweiligen Anordnung abzuwehren wären. Aufgabe des einstweiligen
Rechtsschutzes in Fällen der vorliegenden Art ist es, eine akute Notlage zu beseitigen,
denn nur dann kann von einem wesentlichen Nachteil gesprochen werden, den es
abzuwenden gilt, und bei dem ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache
nicht zuzumuten wäre. Ein solcher Sachverhalt ist hier jedoch von der Antragstellerin
nicht glaubhaft gemacht worden. Denn im November 2009 trägt sie in Form einer
eidesstattlichen Versicherung vor, ein durchschnittliches Einkommen von ca. 1000,- € zu
haben. Da in der Beschwerdeschrift dazu keine Angaben gemacht werden, ist von
diesem durchschnittlichen Einkommen auch noch aktuell auszugehen. Auch wenn die
Antragstellerin unter Berücksichtigung des Abzuges des Krankenversicherungsbeitrages
- nach eigenen Angaben in Höhe von 311,85 € - ihren Lebensunterhalt nicht gesichert
sieht, erscheint es keineswegs glaubhaft, dass sie die für sie befürchteten Nachteile
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sieht, erscheint es keineswegs glaubhaft, dass sie die für sie befürchteten Nachteile
nicht auf andere Weise abwenden kann. Bisher war der Lebensunterhalt der
Antragstellerin offensichtlich sichergestellt; angesichts der von ihr selbst genannten
Einkommensverhältnisse sowie der zu entrichtenden Miete auch unter Abzug des von ihr
zu entrichtenden Krankenversicherungsbeitrages dürfte er auch zukünftig ausreichend
gesichert sein. Dieses Ergebnis gilt umso mehr als sie den Beginn der begehrten
Leistung offen lässt bzw. in das Ermessen des Gerichts stellt.
Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob vorliegend ein Anordnungsanspruch gegeben
ist oder nicht, wenngleich auch nach Auffassung des Senats die Entscheidung der
Antragsgegnerin und des Sozialgerichts nicht zu beanstanden ist. Es wird insoweit - auch
unter Berücksichtigung des Beschwerdevortrages - gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG auf
die überzeugenden Gründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen. Mit der
Ablehnung der Gewährung eines Gründungszuschusses hält sich die Antragsgegnerin im
Rahmen der Zielsetzung des § 1 Abs. 1 Satz 3 SGB III.
Lediglich ergänzend ist anzuführen, dass die Leistungen der aktiven Arbeitsförderung,
wozu gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4 SGB III auch der Gründungszuschuss zur Aufnahme einer
selbständigen Tätigkeit (§ 57 SGB III) gehört, insbesondere auch „unterwertiger
Beschäftigung“ entgegenwirken sollen (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 4 SGB III). In der BT-
Drucksache 14/7347 S. 72 heißt es dazu:
„Durch die Ergänzung des Absatzes 2 um die neue Nummer 4 wird verdeutlicht, das
aktive Arbeitsmarktpolitik auch die Zielsetzung verfolgt, durch Maßnahmen der
beruflichen Weiterbildung oder sonstige arbeitsmarktpolitische Maßnahmen
Qualifikationsverluste möglichst zu vermeiden und damit unterwertiger Beschäftigung
entgegenzuwirken“.
Zwar ist unter Beschäftigung gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB III die nichtselbständige
Arbeit zu verstehen. Auch wenn Ausgangspunkt jeder Auslegung der Wortsinn einer
Vorschrift ist, ist letztlich die teleologische Auslegung maßgeblich. Diese teleologische
Auslegung gebietet indes eine Ausweitung der Nr. 4 des § 1 Abs. 2 SGB III auf
unterwertige selbständige Tätigkeiten. Denn es würde einen Wertungswiderspruch
bedeuten, wenn zwar das „Vermittlungsverbot“ in Prostitution nach der Entscheidung
des Bundessozialgerichts (BSG) vom 6. Mai 2009 weiterhin Bestand hat, der
selbständige Unternehmer, der solche Tätigkeiten ermöglicht, nach § 57 SGB III, in Form
einer Leistung der aktiven Arbeitsförderung (s.o.) gefördert werden soll. Zu
berücksichtigen ist insoweit, dass das BSG nicht zwischen „schlichter“ oder „gehobener“
Prostitution unterschieden hat. Durch das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse
der Prostituierten (ProstG vom 20. Dezember 2001, BGBl. I S. 3983) hat der
Gesetzgeber keine Aussage des Inhalts getroffen, dass Prostitution nunmehr als
reguläre Beschäftigung zu billigen und staatlich aktiv zu fördern sei. Zwar ist nach dem
ProstG die Prostitution nicht mehr als sittenwidrig anzusehen, gleichwohl führt die
„Legalisierung von Beschäftigungsverhältnissen in der Prostitution“ nicht dazu, dass
Prostitution „ein Beruf wie jeder andere“ geworden ist. Im Hinblick auf den
Schutzgedanken des ProstG soll sich für die Bundesagentur für Arbeit - im Gegenteil -
die Aufgabe ergeben, ihre Vermittlungsmöglichkeiten zugunsten eines Ausstiegs aus der
Tätigkeit als Prostituierte zur Verfügung zu stellen (vgl. B. IV. des Berichtes der
Bundesregierung vom Januar 2007 zu den Auswirkungen des ProstG, BT-Drucksache
16/4146 S. 16).
Ferner ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruches im Übrigen aber auch bereits
deshalb nicht glaubhaft gemacht, weil es unbeschadet der übrigen
Anspruchsvoraussetzungen des § 57 Abs. 1, Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGB III bereits an einer
aussagekräftigen Beschreibung des Existenzgründungsvorhabens fehlt. Wenn man den
von der Antragstellerin beauftragten Steuerberater Jörg Ruben als fachkundige Stelle für
die Einschätzung der Tragfähigkeit der Existenzgründung genügen lässt, woran der
Senat bei diesem Vorhaben Zweifel hat, müssen den Unterlagen mindestens ein
schlüssiges Unternehmenskonzept, die voraussichtlichen Einnahmen, eine
Rentabilitätsvorschau und der Finanzbedarf entnommen werden können (Stratmann in
Niesel, Kommentar zum SGB III, 5. Auflage, § 57 Rn. 11). Diesen Anforderungen genügt
das zu dieser Anspruchsvoraussetzung zweizeilige Schreiben des Steuerberaters Ruben
vom 18. August 2009 in keiner Weise. Der Nachweis einer Tragfähigkeit der
Existenzgründung in diesem Bereich dürfte auch schwer zu erbringen sein, ist aber
Anspruchsvoraussetzung für eine Förderung mit dem Gründungszuschuss. Mit dem
Hinweis „angesichts der Klarheit des Berufsbildes („gehobene Prostitution“) ist eine
weitere Schilderung entbehrlich“, ist im Übrigen keineswegs glaubhaft gemacht, der
Bereich der „schlichten“ Prostitution stehe nicht im Fokus, d.h. im Vordergrund.
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Aus diesen Gründen, nämlich wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg, war auch der
Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abzulehnen (§ 114 Zivilprozessordnung -
ZPO-).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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