Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 10.10.2007

LSG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, wichtiger grund, staatliches handeln, öffentliches interesse, kündigung, existenzminimum, bekanntgabe, arbeitslosigkeit, anfang, heizung

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
10. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 10 B 2154/08 AS ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 31 Abs 1 S 1 Nr 1 Buchst c
SGB 2 vom 10.10.2007, § 31
Abs 3 S 6 SGB 2 vom
10.10.2007, § 31 Abs 4 Nr 3
Buchst b SGB 2 vom
10.10.2007, § 31 Abs 5 S 1
Halbs 1 SGB 2 vom 10.10.2007,
§ 144 Abs 1 S 1 SGB 3
Absenkung des Arbeitslosengeld II auf Leistungen für
Unterkunft bei jungem Erwachsenen - Sperrzeit wegen
Arbeitsaufgabe - kein Konkurrenzverhältnis der Vorschriften -
fehlende ergänzende Sachleistungen - Ermessensreduzierung -
Anspruch auf Gewährleistung des physischen Existenzminimums
- verfassungskonforme Auslegung
Tenor
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 24. Oktober 2008
wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens
zu tragen.
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet, mit der sich die Antragsgegnerin gegen den
im Tenor bezeichneten Beschluss wendet, mit dem das Sozialgericht (SG) Berlin die
aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 24. September 2008 der 19 geborenen
Antragstellerin gegen den (Sanktions-)Bescheid der Antragsgegnerin vom 28. August
2008 angeordnet hat.
Da das Rechtsschutzziel der alleinstehenden und allein wohnenden Antragstellerin darin
besteht, auch für die Zeit vom 01. Oktober 2008 bis zum 31. Dezember 2008
Arbeitslosengeld (Alg) II in der ihr ursprünglich mit Bescheid 23. Juli 2008 bewilligten
Höhe von 617,13 EUR monatlich (Regelleistung 351,00 EUR; Leistungen für Kosten der
Unterkunft und Heizung von 266,13 EUR) zu beziehen, hat das SG ihr Begehren
zu Recht gemäß § 86b Abs 1 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Antrag auf Anordnung
der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs vom 24. September 2008 (Schreiben
vom 20. September 2008) gegen den Bescheid vom 28. August 2008 gewürdigt, weil
ihm nicht schon kraft Gesetzes diese Wirkung zukommt (§ 39 Nr 1 Zweites Buch
Sozialgesetzbuch iVm § 86a Abs 2 Nr 4 SGG) und die Möglichkeit einstweiligen
Rechtsschutz über den Erlass einer Anordnung iS von § 86b Abs 2 Satz 2 SGG zu
suchen, gegenüber der Anordnung der aufschiebenden Wirkung nachrangig ist (§ 86b
Abs 2 Satz 1 SGG). Denn mit dem Bescheid vom 28. August 2008 hat die
Antragsgegnerin den der Antragstellerin zuvor zuerkannten Anspruch „auf die
angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung“ für den bezeichneten streitigen
Zeitraum beschränkt und den Bewilligungsbescheid vom 23. Juli 2008 „insoweit“ ab dem
01. Oktober 2008 unter Berufung auf § 48 Abs 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB
X) iVm § 31 Abs 4 Nr 3b SGB II aufgehoben, weil die Antragstellerin den mit der B T
GmbH (im Folgenden GmbH) geschlossenen Arbeitsvertrag wegen des Vorwurfs des
Diebstahls fristlos zum 26. Juni 2008 gekündigt habe.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (§ 86b Abs. 1
Satz 1 Nr 2 SGG) gegen den (Sanktions-)Bescheid vom 28. August 2008 ist begründet.
Die aufschiebende Wirkung dauert bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit des Bescheides
fort (Schoch in Schoch/Schmidt-Assmann/Pietzner, VwGO, Stand: September 2004,
RdNr 363 zu § 80 unter Hinweis auf Bundesverwaltungsgericht E 78, 198,
210). Voraussetzung für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch das Gericht
ist, dass das private Interesse des Anfechtenden, den Vollzug des angefochtenen
Bescheides bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen (privates
Aussetzungsinteresse), gegenüber dem öffentlichen Interesse an dessen Sofortvollzug
(öffentliches Vollzugsinteresse) überwiegt. Dies ist der Fall, da hier der in Rede stehende
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(öffentliches Vollzugsinteresse) überwiegt. Dies ist der Fall, da hier der in Rede stehende
Bescheid rechtswidrig ist und am Vollzug eines rechtswidrigen Bescheides kein
öffentliches Interesse besteht.
Für die im Rahmen der Interessenabwägung zu prüfende Erfolgsaussicht des
Rechtsbehelfs ist wie in der Hauptsache grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Erlasses
(genauer: der Bekanntgabe) der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen (vgl. zum
maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei einer isolierten
Anfechtungsklage <§ 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alt SGG>: Bundessozialgericht , Urteil
vom 22. August 2000 – B 2 U 33/99 R, juris RdNr 15 mwN = SozR 3-2200 § 712 Nr 1 und
Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, RdNr 32a ff zu § 54 mwN),
hier also – da der Widerspruch der Antragstellerin noch nicht beschieden ist – auf den
Zeitpunkt der Bekanntgabe des angefochtenen Bescheids vom 28. August 2008. Die
Bekanntgabe ist – unter Zugrundelegung der zuletzt von der Antragstellerin gegenüber
dem Senat telefonisch gemachten Angaben, wonach sie den Bescheid Anfang
September 2008 erhalten hat – Anfang September 2008 erfolgt (§ 40 Abs 1 Satz 1 SGB
II iVm §§ 37 Abs 1, 39 Abs 1 Satz 1 SGB X).
Als Ermächtigungsgrundlage für die von der Antragsgegnerin verfügte
Leistungsbeschränkung kommt allein § 31 Abs 5 Satz 1 1. HS SGB II iVm § 31 Abs 4 Nr
3b SGB II iVm § 144 Abs 1 Satz 1 und 2 Nr 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) in
Betracht; diese Bestimmungen tragen die Entscheidung im Ergebnis nicht, weil es an
einer gleichzeitigen Bewilligung von Sachleistungen oder geldwerten Leistungen nach §
31 Abs 3 Satz 6 SGB II fehlt.
Nach § 31 Abs 5 Satz 1 1. HS SGB II wird bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die - wie
die Antragstellerin im maßgeblichen Zeitraum - das 15. Lebensjahr, jedoch noch nicht
das 25. Lebensjahr vollendet haben, das Alg II unter den in den Absätzen 1 und 4
genannten Voraussetzungen auf die Leistungen nach § 22 SGB II beschränkt. Nach § 31
Abs 4 Nr 3b SGB II gelten die Absätze 1 bis 3 entsprechend bei einem erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen, der die in dem Dritten Buch genannten Voraussetzungen für den
Eintritt einer Sperrzeit erfüllt, die das Ruhen oder Erlöschen eines Anspruchs auf
Arbeitslosengeld begründen. Nach § 31 Abs 6 1. HS SGB II treten Absenkung und Wegfall
mit Wirkung des Kalendermonats ein, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes,
der die Absenkung oder den Wegfall der Leistung feststellt, folgt. Absenkung und Wegfall
dauern drei Monate (§ 31 Abs 6 Satz 2 SGB II). Bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die
das 15. Lebensjahr jedoch noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, kann der
Träger die Absenkung und den Wegfall der Regelleistung unter Berücksichtigung aller
Umstände des Einzelfalls auf sechs Wochen verkürzen (§ 31 Abs 6 Satz 3 SGB II).
Während der Absenkung oder des Wegfalls der Leistung besteht kein Anspruch auf
ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des Zwölften Buches (§ 31
Abs 6 Satz 4 SGB II).
Entgegen der Auffassung des SG, das sich insoweit auf Stimmen in der Literatur und der
Rechtssprechung beruft, wird die Anwendbarkeit des § 31 Abs 4 Nr 3b SGB II hier nicht
durch die vermeintlich speziellere Regelung des § 31 Abs 1 Satz 1 Nr 1c SGB II gesperrt.
Denn § 31 Abs 1 Satz 1 Nr 1c SGB II unterfällt nur ein Teil der von § 31 Abs 4 Nr 3 b SGB
II erfassten Sachverhalte, d.h. ein echtes Konkurrenzverhältnis, das zu Gunsten von § 31
Abs 1 Satz 1 Nr 1c SGB II zu lösen ist, um dem Erfordernis der Rechtsfolgenbelehrung
Rechnung zu tragen, besteht nur teilweise. Es ist nicht gegeben, wenn – wie vorliegend –
zum Einen das Arbeitsverhältnis nicht auf Initiative der Antragsgegnerin zustande
gekommen ist, weil dann ein Weigern iS des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr 1c SGB II nicht vorliegt
(zum Begriff sogleich) und zum Anderen erfasst § 31 Abs 1 Satz 1 Nr 1c SGB II nicht den
Fall, dass während des Leistungsbezuges eine Beschäftigung (die Antragstellerin hatte
während des vom 15. Juni 2008 bis zum 26. Juni 2008 andauernden
Beschäftigungsverhältnisses Alg II aufgrund des Bescheids der Antragsgegnerin vom 01.
April 2008 bezogen) unter Bedingungen aufgegeben wird, die eine verhaltensbedingte
Arbeitgeberkündigung (hierzu sogleich) rechtfertigen. Davon ausgehend sind die
Bedenken, dass bei Anwendbarkeit des § 31 Abs 4 Nr 3b SGB II kaum noch ein
eigenständiger Anwendungsbereich für § 31 Abs 1 Satz 1 Nr 1c SGB II verbleibt (andere
Sanktionstatbestände scheiden nach Lage der Dinge hier aus), unbegründet. § 31 Abs 1
Satz 1 Nr 1c SGB II findet (einschließlich des Erfordernisses der Rechtsfolgenbelehrung)
in allen Fällen der vorsätzlichen Nichtaufnahme einer angebotenen Arbeit etc bzw deren
Abbruch nach zunächst erfolgter Aufnahme (Beginn der zur Arbeit etc gehörenden
Tätigkeit) Anwendung, weil nur dann ein Weigern iS des § 31 Abs 1 Satz 1 Nr 1c SGB II zu
bejahen ist (Rixen in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, RdNr 17 und 14 zu § 31
mwN). Ein systematisches Argument, den nur in § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGB III erfassten Fall
arbeitsvertragswidrigen, eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigenden Verhaltens
allgemein für die Bezieher von Alg II sanktionslos zu stellen, besteht, ausgehend von
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allgemein für die Bezieher von Alg II sanktionslos zu stellen, besteht, ausgehend von
einem Verhältnis der Vorschriften zueinander, wie es soeben dargelegt wurde, nicht.
Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGB III ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Dauer
einer Sperrzeit, wenn der Arbeitnehmer sich versicherungswidrig verhalten hat, ohne
dafür einen wichtigen Grund zu haben. Versicherungswidriges Verhalten liegt gemäß §
144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III vor, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis
gelöst oder durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung des
Beschäftigungsverhältnisses gegeben hat und er dadurch vorsätzlich oder grob
fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat (Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe). Falls der
Vorwurf des Diebstahls zu Recht erhoben worden ist, wofür nach Aktenlage alles spricht,
wenngleich sich die notwendige Gewissheit wohl erst im Rahmen einer Beweisaufnahme
wird gewinnen lassen, ist für die Belange des vorliegenden einstweiligen
Rechtsschutzverfahrens davon auszugehen, dass die Antragsstellerin die
Voraussetzungen für den Eintritt einer Sperrzeit und damit auch den
Sanktionstatbestand des § 31 Abs. 4 Nr. 3b SGB II erfüllt hat. Die Antragstellerin, die
keine Aussicht auf einen konkreten Anschlussarbeitsplatz hatte, hat nämlich durch
Kündigung ihr Beschäftigungsverhältnis mit der GmbH gelöst und hierdurch zumindest
grob fahrlässig ihre Arbeitslosigkeit herbeigeführt. Unerheblich ist in diesem
Zusammenhang, dass ihre Kündigung einer Vermeidung einer außerordentlichen
Kündigung durch die GmbH gedient hat, die Arbeitslosigkeit also ansonsten durch eine
Kündigung der GmbH eingetreten wäre. Denn für die Beurteilung der Frage, ob eine
Lösung des Beschäftigungsverhältnisses zum Eintritt der Arbeitslosigkeit geführt hat,
kommt es allein auf den tatsächlichen Geschehensablauf an. Keine Beachtung findet
demgegenüber ein hypothetischer Geschehensablauf (st Rspr. des BSG: vgl. u.a. Urteil
vom 12. Juli 2006 – B 11a AL 47/05 R, juris RdNr 12 = SozR 4-4300 § 144 Nr 13). Der
Antragstellerin stand für ihr Verhalten auch kein wichtiger Grund zur Seite. Zwar können
Nachteile für das berufliche Fortkommen unter Umständen zur Unzumutbarkeit des
Abwartens der arbeitgeberseitigen Kündigung führen. Ein - die Sperrzeit wegen
Arbeitaufgabe ausschließender – wichtiger Grund für die Lösung des
Beschäftigungsverhältnisses kommt aber nur in Betracht, wenn dem Arbeitnehmer
ansonsten eine rechtmäßige Arbeitgeberkündigung aus nicht verhaltensbedingten
Gründen zum gleichen Zeitpunkt droht (BSG, aaO, Leitsatz), was hier aber gerade nicht
der Fall war.
Mit Rücksicht auf die im September 2008 erfolgte Bekanntgabe des Bescheids vom 28.
August 2008 ist auch zumindest der Beginn des Sanktionszeitraum (01. Oktober 2008)
zutreffend bestimmt worden. Ob die Antragsgegnerin allerdings dessen Ende (31.
Dezember 2008) vor dem Hintergrund der nach § 31 Abs. 6 Satz 3 SGB II zu treffenden
Ermessensentscheidung über eine Verkürzung des Sanktionszeitraums auf sechs
Wochen in rechtmäßiger Weise verfügt hat, ist angesichts der von ihr im Bescheid vom
28. August 2008 gewählten Formulierung „…Eine Verkürzung der Absenkung auf 6
Wochen ist nach Abwägung der in Ihrem Fall vorliegenden Umstände mit den Interessen
der Allgemeinheit nicht gerechtfertigt…“ und der Anforderungen, die § 40 Abs. 1 Satz 1
SGB II iVm § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X an die Begründung von Ermessensentscheidungen
stellt, zweifelhaft. Denn nach der zuletzt genannten Norm muss die Begründung einer
Ermessensentscheidung auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die
Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist (vgl. hierzu auch
Engelmann in von Wulffen, SGB X, 6. Aufl 2008, RdNr 6 zu § 35 mwN), so dass es nahe
liegt, die von der Antragsgegnerin als Begründung gewählte Formulierung als formelhaft
und damit als nicht ausreichende Begründung anzusehen. Diese Frage kann der Senat
jedoch im Ergebnis offen lassen.
Denn der (Sanktions-)Bescheid ist jedenfalls im vollen Umfange rechtswidrig, weil die
Antragsgegnerin es unterlassen hat, der Antragstellerin Sachleistungen oder geldwerte
Leistungen für den Sanktionszeitraum zu bewilligen. Nach § 31 Abs 3 Satz 6 SGB II kann
die Antragsgegnerin bei einer Minderung des Alg II um mehr als 30 vom Hundert der
nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung in angemessenem Umfang ergänzende
Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Dem Wort „kann“ ist zu
entnehmen, dass die Bewilligung dieser Leistungen bei Erfüllung der tatbestandlichen
Voraussetzungen (hier: Minderung des Alg II um mehr als 30 vom Hundert der nach § 20
SGB II maßgebenden Regelleistung) im pflichtgemäßen Ermessen steht (§ 39 Abs 1 Satz
2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil). Der auf der Rechtsfolgenseite des §
31 Abs 3 Satz 6 SGB II der Antragsgegnerin eingeräumte Ermessensspielraum
verdichtet sich jedoch in Fällen der vorliegenden Art, in denen die Regelleistung auf Null
gekürzt wird, regelhaft derart, dass sie nur dann rechtmäßig handelt, wenn sie die
anstelle der Geldleistung vorgesehene(n) Leistung(en) bewilligt und diese Entscheidung
mit der Sanktionsentscheidung verbindet.
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Die Notwendigkeit dieser Lesart der einschlägigen gesetzlichen Regelungen ergibt sich
ausgehend vom Umfang der Beschränkung aus der Bedeutung der Positionen, in die die
Sanktionsentscheidung eingreift, insbesondere aus der Qualität ihrer
verfassungsrechtlichen Gewährleistung aus der Menschenwürde (Art 1 Abs 1
Grundgesetz ) und dem Schutzgebot des Artikel 2 Abs 2 GG. Mit der Gewährung
der Regelleistung (neben den Leistungen für KdU sowie der Vermittlung von
Krankenversicherungsschutz) löst der Gesetzgeber seinen Anspruch ein, dem
Bedürftigen ein soziokulturelles Existenzminimum zu garantieren und eröffnet durch die
Gewährung als Geldleistung, die Pauschalen unter Beachtung früherer Sonderbedarfe
beinhaltet, im bescheidenen Umfang die Möglichkeit Auswahlentscheidungen zu treffen
(BSG, Urteil vom 22. April 2008 – B 1 KR 10/07 R, juris RdNr 29 und 46). Den so
bemessenen Anspruch situationsabhängig zu begrenzen, ist dem Gesetzgeber (und
folgenden gesetzmäßigen Verwaltungsentscheidungen) verfassungsrechtlich nicht
verwehrt; „verfassungsfest“ ist dagegen (unbeschadet dessen, dass auch insoweit kein
Betrag und kein Leistungsmodus verfassungsrechtlich vorgegeben ist; BSG, aaO, RdNr
28 und 31) das zur physischen Existenz Unerlässliche („physisches Existenzminimum“).
Der deutsche Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich verpflichtet, für im Inland lebende
Bedürftige – neben immaterieller Achtung – jedenfalls das zur physischen Existenz
Unerlässliche zu gewähren. Zu diesem das „nackte Überleben“ sichernden „physischen
Existenzminimum“ (zu diesem abgesenkten Sicherungsniveau in Abgrenzung zum
soziokulturellen Minimum, vgl. Soria, JZ 2005, 644 ff) gehören neben Obdach und
ausreichender medizinischer Versorgung, was im vorliegenden Fall durch die
Weiterzahlung der Leistung für die KdU gewährleistet wird, da diese Leistungen als Teil
des Anspruchs auf Alg II (§ 19 Satz 1 SGB II) für den Leistungsbezieher beitragsfreien
Versicherungsschutz in der gesetzlichen Krankenversicherung vermitteln (§§ 5 Abs 1 Nr
2 a, 252 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch), vor allen Dingen auch ausreichende Nahrung
und Kleidung (BSG, aaO, RdNr 31).
Daraus folgt, dass für Leistungsansprüche nach dem SGB II begrenzendes staatliches
Handeln umso weniger Spielraum besteht, je mehr es sich der „denkbar untersten
verfassungsrechtlichen Grenze“ nähert (BSG, aaO, RdNr 31), es muss zuverlässig darauf
gerichtet sein, ein Unterschreiten dieser Grenze zu vermeiden (BSG, aaO, RdNr 45).
Zum rechtlichen Kontext gehört weiter die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG)
eindeutig formulierte Position, dass eine Verletzung grundgesetzlicher Gewährleistungen
durch die Vorenthaltung des Existenzminimums auch dann nicht hinnehmbar ist, wenn
sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai
2005 – 1 BvR 569/05, juris RdNr 26 = NVwZ 2005, 927, 928).
Dem genügt der Bescheid vom 28. August 2008 nicht. Weil die Regelleistung auf Null
reduziert wird, ist für die Antragstellerin das physische Existenzminimum nicht länger
gewährleistet, da eine Bedarfsdeckung nur noch bezüglich der Kosten der Unterkunft
und Heizung und des Krankenversicherungsschutzes erfolgt, bezüglich aller anderen
Bedürfnisse, insbesondere bezüglich der (ersichtlich nicht aufschiebbaren) Beschaffung
von Lebensmitteln, ausfällt. Dieser Eingriff ist nach dem aufgezeigten Maßstab allenfalls
in Verbindung mit einer anderweitigen hinreichenden Gewährleistung der
verfassungsrechtlichen Untergrenze des sozialrechtlichen Existenzminimums
rechtmäßig möglich. Von der dafür gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit, die in der
Bewilligung von ergänzenden Sachleistungen oder Geldleistungen in angemessenem
Umfang besteht (§ 31 Abs 3 Satz 6 SGB II), hat die Antragsgegnerin keinen Gebrauch
gemacht und damit die durch die Kürzung der Regelleistung auf Null geschaffene
verfassungsrechtlich prekäre Lage nicht abgewendet. Von der Pflicht, das physische
Existenzminimum ersatzweise zu sichern, ist die Antragsgegnerin insbesondere nicht
deshalb frei, weil sie die Antragstellerin darauf hingewiesen hat, dass ihr solche
Leistungen auf Antrag gewährt werden könnten. Dies ist nach den aufgezeigten
verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, die dahin gehen, eine Unterschreitung des
physischen Existenzminimums sicher und auch nur vorübergehend zu vermeiden,
unzureichend und auch nicht etwa deshalb geboten, weil eine Entscheidung nach § 31
Abs 3 Satz 6 SGB II nicht ohne Mitwirkung der Antragstellerin getroffen werden könnte.
Im Übrigen verkennt die Antragsgegnerin, dass Leistungen nach § 31 Abs 3 Satz 6 SGB
II jedenfalls dann keines neuen Leistungsantrags (§ 37 Abs. 1 SGB II) bedürfen, wenn -
wie hier - in bereits laufende, auf einem Leistungsantrag beruhende Bewilligungen von
Alg II eingegriffen wird. Zwar enthält das SGB II (anders z.B. § 122 Abs. 2 SGB III) keine
ausdrücklichen Regelungen zu der Frage, wann ein Antrag erneut gestellt werden muss
bzw wann die Wirkungen eines wirksam gestellten Antrags erlöschen. Der somit
heranzuziehende allgemeine Grundsatz besagt aber, dass ein verfahrensrechtlicher
Antrag (und um einen solchen handelt es sich bei einem Antrag nach § 37 Abs 1 SGB II;
vgl hierzu Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, RdNr 17 zu § 37) fortwirkt,
solange die hierauf fußende Bewilligungsentscheidung nicht zurückgenommen,
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solange die hierauf fußende Bewilligungsentscheidung nicht zurückgenommen,
widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise
erledigt ist (vgl. § 39 Abs. 2 SGB X). Demnach führt erst die bestandskräftige und
vollständige Aufhebung der Bewilligungsentscheidung zur Notwendigkeit eines neuen
Leistungsantrags (Link, aaO, RdNr 19 unter Hinweis u.a. auf BSG SozR 3-4100 § 100 Nr
5), an der es hier fehlt. Diesem Ergebnis kann auch nicht entgegen gehalten werden, bei
den Leistungen nach § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II handele es sich um ein rechtliches „aliud“
gegenüber den ursprünglich für den Sanktionszeitraum bewilligten Regelleistungen mit
der Folge, dass es eines erneuten Leistungsantrags bedürfe. Denn die zuerst genannten
Leistungen stellen gegenüber den zuletzt genannten Leistungen lediglich ein „minus“
dar.
Keiner Entscheidung bedurfte, welche Gesichtspunkte im Einzelnen dafür in Betracht
kommen, Leistungen nach § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II abzulehnen (und die damit auch
geeignet wären, eine Sanktionsentscheidung des vorliegenden Umfangs ohne damit
verbundene Entscheidung über „Ersatzleistungen“ zu rechtfertigen). Nach dem
dargestelltem Zusammenhang dürften nur Sachverhalte in Betracht kommen, in denen
ein Auskommen desjenigen, der mit einer Sanktion belegt werden soll, erkennbar
anderweitig gesichert ist, ohne dass Unterstützungen durch Dritte/Familienangehörige,
für die eine entsprechende Rechtspflicht nicht besteht, in den Blick genommen werden
müssten. Ferner wäre in diesem Zusammenhang ggf. die Bedeutung von liquidem
Schonvermögen zu wägen. Derartige Sachverhalte liegen hier ersichtlich nicht vor.
Der Senat sieht sich mit seinen Erwägungen zur Notwendigkeit, den Leistungsbezieher
nicht gänzlich ohne Regelleistung oder eine deren vollständigen Ausfall kompensierende
Leistung zu lassen, in Übereinstimmung mit der bereits zum Bundessozialhilfegesetz
vertretenen Auffassung, dass auch in Ansehung weitgehender Sanktionen der
Leistungsfall „unter Kontrolle“ gehalten werden müsse (dazu ausführlich Rothkegel,
Sozialhilferecht, Kap 11 RdNr 55 ff mwN), d.h. ein vollständiger Entzug der
Geldleistungen nicht isoliert erfolgen kann, sondern immer mit Initiativen zur
angemessenen weiteren Bewältigung des Leistungsfalles einhergehen muss.
Dass die Antragsgegnerin der Antragstellerin am 30. Oktober 2008 für wenige Tage
(Ende Oktober/Anfang November 2008) Lebensmittelgutscheine tatsächlich ausgestellt
hat, ist schon deshalb nicht entscheidungserheblich, weil diese nachträgliche
Entscheidung - zumindest in zeitlicher Hinsicht - weit hinter dem zurück bleibt, wozu die
Antragsgegnerin aus verfassungsrechtlichen Gründen verpflichtet war und ist.
Soweit das SG neben der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs
gegen den Bescheid vom 28. August 2008 im Tenor des angefochtenen Beschlusses
auch noch die Aufhebung der Vollziehung (§ 86b Abs. 1 Satz 3 SGG) für den Fall
angeordnet hat, dass dieser Bescheid bereits vollzogen worden ist, hat sich der
Beschluss erledigt, nachdem die Antragsgegnerin zwischenzeitlich der Antragstellerin die
Regelleistung für die Zeit vom 01. Oktober 2008 bis zum 15. November 2008 erneut,
wenn auch nur vorläufig, bewilligt und diese auch ausgezahlt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit einer Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG).
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