Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 20.07.2006

LSG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, erlass, unterkunftskosten, dringlichkeit, hauptsache, vollziehung, sicherstellung, sammlung, quelle, link

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
25. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 25 B 838/07 AS ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 2 S 2 SGG, § 9 Abs 2
S 2 SGB 2 vom 20.07.2006, GG
(Einstweiliger Rechtsschutz - fehlender Anordnungsgrund -
vergangener Zeitraum - ungeklärte Verfassungsmäßigkeit des §
9 Abs 2 S 2 SGB 2 nF - Berücksichtigung des
Partnereinkommens zugunsten des nicht leiblichen Kindes)
Leitsatz
1. Für die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für abgelaufene
Zeiträume besteht in aller Regel kein Anordnungsgrund gemäß § 86 b Abs. 2 SGG.
2. Auch bei ungeklärter Verfassungsmäßigkeit des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II führt eine im
Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes anzustellende Folgenabwägung in der Regel nicht
zum Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin
vom 7. Mai 2007 aufgehoben.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind für das gesamte Verfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung die
Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die
Zeit vom 15. Februar 2007 bis zum 31. Juli 2007 (Ende des Bewilligungszeitraumes).
Die Antragstellerin zu 1) ist die Mutter der 1991 geborenen Antragstellerin zu 2).
Gemeinsam bewohnen sie mit dem Lebensgefährten der Antragstellerin zu 1), Herrn
DC, eine Mietwohnung unter der im Rubrum genannten Anschrift. Der Mietzins beträgt
einschließlich Nebenkosten 528,70 EUR monatlich. Die Antragstellerin zu 1) bezieht aus
einer Nebenbeschäftigung ein Einkommen in Höhe von 165,- EUR brutto monatlich, für
die Antragstellerin zu 2) wird ein monatliches Kindergeld von 154,- EUR gewährt. Herr C
verfügt über ein Einkommen aus Arbeitslosengeld I in Höhe von 1.438,80 EUR (bereinigt
um eine Versicherungspauschale von 30,- EUR) monatlich.
Mit – hier nicht streitgegenständlichem – Bescheid vom 12. Juli 2006 gewährte der
Antragsgegner den Antragstellerinnen für den Zeitraum vom 1. August 2006 bis zum
31. Januar 2007 Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 298,23 EUR monatlich.
Hinsichtlich der Antragstellerin zu 1) ergab sich unter Anrechung des Einkommens des
Herrn C kein ungedeckter Bedarf; hinsichtlich der Antragstellerin zu 2) fand eine
Einkommensanrechnung nicht statt, so dass sich nach Abzug des gewährten
Kindergeldes in Höhe von 154,- EUR vom ermittelten Bedarf von 452,23 EUR ein
monatlicher Zahlbetrag in der genannten Höhe (298,23 EUR) ergab. Mit Bescheid vom
17. November 2006 hob der Antragsgegner unter Hinweis auf den zum 1. August 2006
geänderten § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II vorgenannten Bescheid auf: Nach dieser Vorschrift
sei u. a. auch das Einkommen und Vermögen des in Bedarfsgemeinschaft lebenden
Partners eines Elternteils beim Bedarf des in der Gemeinschaft lebenden
unverheirateten Kindes zu berücksichtigen. Durch das Einkommen des Herrn C könne
demzufolge für den vorgenannten Zeitraum auch der Bedarf der Antragstellerin zu 2)
vollständig gedeckt werden.
In einem gegen vorgenannten Bescheid geführten einstweiligen Rechtsschutzverfahren
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In einem gegen vorgenannten Bescheid geführten einstweiligen Rechtsschutzverfahren
ordnete das Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 8. Januar 2007 (Az: S 103 AS
10869/06 ER) die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerinnen gegen
den (Aufhebungs-) Bescheid vom 17. November 2006 an und verpflichtete den
Antragsgegner im Wege der Aufhebung der Vollziehung zur Auszahlung der mit
Bescheid vom 12. Juli 2006 bewilligten Leistungen für Dezember 2006 und Januar 2007.
Zur Begründung führte das Sozialgericht aus, dass das Aussetzungsinteresse der
Antragstellerinnen überwiege; denn von der Verfassungswidrigkeit des § 9 Abs. 2 Satz 2
SGB II sei auszugehen. Mit Beschluss vom 22. Mai 2007 hob das Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg (Az: L 5 B 240/07 AS ER) vorgenannten Beschluss auf und wies das
vorläufige Rechtsschutzbegehren unter Hinweis darauf, dass das Gericht im vorläufigen
Rechtsschutzverfahren an das geltende Recht, mithin an § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II,
gebunden sei, zurück.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 5. Februar 2007 lehnte der Antragsgegner
den Folgeantrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom
1. Februar 2007 bis zum 31. Juli 2007 unter Hinweis darauf, dass der Bedarf der
Antragstellerinnen aufgrund der Einkommenssituation der Bedarfsgemeinschaft gemäß
§ 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II gedeckt sei, ab. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2007 zurück, woraufhin die
Antragstellerinnen am 21. März 2007 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben haben
(Az: S 119 AS 3841//07).
Mit dem hier angefochtenen Beschluss vom 7. Mai 2007 hat das Sozialgericht Berlin den
Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aus den Gründen des Beschlusses
des Sozialgerichts Berlin vom 8. Januar 2007 verpflichtet, den Antragstellerinnen Hilfe
zum Lebensunterhalt nach dem SGB II ab dem 15. Februar 2007 (gerichtliche
Antragstellung) bis zum Abschluss des Bewilligungszeitraumes (31. Juli 2007) zu
bewilligen, und zwar in Höhe von 99,30 EUR monatlich für die Antragstellerin zu 1) und in
Höhe von 386,93 EUR monatlich für die Antragstellerin zu 2).
Hiergegen hat der Antragsgegner mit Telefax vom 18. Mai 2007 an demselben Tag
vorliegende Beschwerde eingelegt. Mit Beschluss vom 27. Juli 2007 hat der Senat auf
Antrag des Antragsgegners die Vollziehung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin
vom 7. Mai 2007 im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 199 Abs. 2 SGG
ausgesetzt.
Der Antragsgegner beantragt,
den Beschluss des Sozialgericht Berlin vom 7. Mai 2007 aufzuheben und den Antrag
auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Die Antragstellerinnen beantragen,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde des Antragsgegners ist nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
zulässig, insbesondere statthaft, und hat auch in der Sache Erfolg.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ergehen, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierzu hat der
betreffende Antragsteller das Bestehen des zu sichernden materiellen Anspruches
(Anordnungsanspruch) sowie die besondere Dringlichkeit des Erlasses der begehrten
einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz
4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung).
Hiervon ausgehend hat die Beschwerde des Antragsgegners Erfolg.
Die Antragstellerinnen haben entgegen der Auffassung des Sozialgerichts weder einen
Anordnungsgrund noch einen Anordnungsanspruch auf Gewährung der begehrten
Leistungen für den Zeitraum vom 15. Februar 2007 bis zum 31. Juli 2007 glaubhaft
gemacht.
Vorliegend fehlt es bereits am Bestehen eines Anordnungsgrundes. Nach ständiger
Rechtsprechung des Senats (vgl. u. a. Beschluss vom 19. Februar 2008, Az: L 25 B
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Rechtsprechung des Senats (vgl. u. a. Beschluss vom 19. Februar 2008, Az: L 25 B
238/08 AS ER) beurteilt sich im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung das
Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den
Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der
Beschwerdeentscheidung. Denn eine besondere Dringlichkeit kann grundsätzlich nur auf
Wirkungen für die Zukunft gerichtet sein. Für vergangene, d. h. abgelaufene Zeiträume,
ist die Annahme einer besonderen Dringlichkeit nur ausnahmsweise für den Fall
gerechtfertigt, dass eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der
Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht
abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die
Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.
Dies zugrunde gelegt, drohen den Antragstellerinnen keine unzumutbaren Nachteile,
wenn ihrem Begehren auf Gewährung höherer Grundsicherungsleistungen für
vergangene Zeiträume, die hier allein streitgegenständlich sind, nicht sofort
entsprochen wird. Dem steht nicht entgegen, dass bereits im erstinstanzlichen
Verfahren vor dem Sozialgericht eine Entscheidung ergangen ist, mit der der
Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur Gewährung von Leistungen für
den hier maßgeblichen Bewilligungszeitraum verpflichtet wurde. Denn die Entscheidung
ist nicht entsprechend umgesetzt worden. Weder hat der Antragsgegner entsprechende
Leistungen erbracht, noch haben die Antragstellerinnen vor der
Aussetzungsentscheidung des Senats mit Beschluss vom 27. Juli 2007 entsprechende
Vollstreckungsmaßnahmen eingeleitet. Vor diesem Hintergrund fehlt es daher an einer
Eilbedürftigkeit und ist es den Antragstellerinnen zuzumuten, die Entscheidung im
Hauptsacheverfahren abzuwarten.
Überdies fehlt es aber auch am Bestehen eines Anordnungsanspruchs.
Soweit es die Antragstellerin zu 1) betrifft, folgt dies daraus, dass deren ungedeckter
Bedarf von 435,24 EUR monatlich (Regelsatz von 311,- EUR plus anteilige
Unterkunftskosten in Höhe von 176,24 EUR nach Abzug des bereinigten Einkommens
von 52,- EUR) durch einen bestehenden Einkommensüberhang des Herrn C mit dem die
Antragstellerin zu 1) in eheähnlicher Gemeinschaft lebt, vollständig abgedeckt ist, vgl. §
9 Abs. 2 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 7 Abs. 3 Nr. 3 c) SGB II. Denn selbst wenn
zugunsten des Herr C, wie das Sozialgericht meint, lediglich ein Einkommen in Höhe des
Pfändungsfreibetrages von 930,- EUR monatlich berücksichtigt werden könnte, ergibt
sich nach Abzug seines Bedarfs von monatlich 487,23 EUR (Regelsatz von 311,- EUR
plus anteilige Unterkunftskosten in Höhe von 176,24 EUR) ein Überhang von monatlich
442,77 EUR, dem ein ungedeckter Bedarf der Antragstellerin zu 1) von 435,24 EUR
gegenübersteht. Die vom Sozialgericht insoweit vorgenommene Berechnung des
Bedarfs der Antragstellerin zu 1) unter Gegenüberstellung des Gesamteinkommens der
Bedarfsgemeinschaft findet im Gesetz keine Stütze.
Ein Anordnungsanspruch ist aber auch nicht gegeben, soweit es den ungedeckten
Bedarf der Antragstellerin zu 2) betrifft.
Als ungedeckter Bedarf ist entgegen den Berechnungen des Sozialgerichts von einem
Betrag von 298,23 EUR monatlich auszugehen. Insoweit ist von deren Bedarf von 452,23
EUR monatlich (Regelleistung 276,- EUR und anteilige Unterkunftskosten von 176,23
EUR) das gewährte Kindergeld von 154,- EUR gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 SGB II als deren
Einkommen in Abzug zu bringen, da es zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes benötigt
wird.
Ob hinsichtlich des ungedeckten Bedarfs der Antragsstellerin zu 2) ein
Anordnungsanspruch ausscheidet, weil der insoweit anfallende Bedarf aus dem
vorhandenen und einzusetzenden Einkommen des Herrn D C zu bestreiten ist, lässt sich
derzeit im Eilverfahren nicht abschließend klären. Für eine Anrechung spricht
grundsätzlich die Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II, wonach bei unverheirateten
Kindern, die u. a. mit einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die die
Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes nicht aus ihrem eigenen Einkommen
und Vermögen beschaffen können, auch das Einkommen und Vermögen des in
Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners zu berücksichtigen ist. Diese Voraussetzungen
wären vorliegend gegeben. Auch würde das Einkommen des Herrn C ausreichen, um
neben dem Bedarf der Antragstellerin zu 1) den ungedeckten Bedarf der Antragstellerin
zu 2) abzudecken. Insoweit ist entgegen der Auffassung des Sozialgerichts von einem
monatlich verfügbaren Einkommen von 1.438,80 EUR - und nicht in Höhe des
Pfändungsfreibetrages von 930,- EUR – auszugehen. Denn die insoweit behaupteten
anderweitigen Verbindlichkeiten des Herrn C können mangels ihrer Titulierung vorliegend
keine einkommensmindernde Anrechnung finden (vgl. LSG Berlin-Brandenburg,
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keine einkommensmindernde Anrechnung finden (vgl. LSG Berlin-Brandenburg,
Beschluss vom 22. Mai 2007 – Az: L 5 B 240/07 AS ER).
Ob die einen Anordnungsanspruch ausschließende Vorschrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB
II indes verfassungsgemäß ist, ist derzeit nicht geklärt, so dass der Senat seine
Entscheidung vorliegend im Rahmen einer Abwägung der Folgen trifft, die entstehen
würden, wenn das Gericht die begehrte Anordnung nicht erließe, sich später im
Hauptsacheverfahren allerdings herausstellte, dass der Anspruch besteht, gegenüber
den Folgen, die entstünden, wenn das Gericht die begehrte Anordnung erließe, sich aber
in der Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch nicht besteht (vgl. hierzu: LSG
Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Oktober 2006 - L 19 B 599/06 AS ER -). Die
insoweit zu treffende Folgenabwägung fällt hier zu Lasten der Antragstellerin zu 2) aus.
Dabei fällt einerseits, auch wenn es hier bei Leistungen der Grundsicherung um die
Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens und damit die Absicherung des
Existenzminimums geht, ins Gewicht, dass der Senat sich grundsätzlich an das geltende
Recht gebunden fühlt und sich die Verfassungswidrigkeit der Vorschrift des § 9 Abs. 2
Satz 2 SGB II nicht dergestalt aufdrängt, dass jedenfalls ihre Anwendung im Rahmen des
vorliegenden Eilrechtsschutzverfahrens auszusetzen wäre. Andererseits führt ihre
Anwendung angesichts der vorliegenden Einkommenssituation der Bedarfsgemeinschaft
auch nicht zu unerträglichen Ergebnissen. Nicht unberücksichtigt bleiben kann
schließlich, dass es vorliegend allein darum geht, inwieweit ein ungedeckter Bedarf der
Antragstellerin zu 2) für einen allein zurückliegenden Zeitraum durch anzurechnendes
Einkommen des Herr C gedeckt wäre.
Angesichts dessen war auf die Beschwerde hin die erstinstanzliche Entscheidung
insgesamt aufzuheben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden, § 177 SGG.
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