Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 13.03.2007

LSG Berlin-Brandenburg: diabetes mellitus, innere medizin, behinderung, diplom, bluthochdruck, mensch, vitamin, mangel, lendenwirbelsäulensyndrom, tinnitus

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
11. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 11 SB 193/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 145 Abs 1 SGB 9, § 146 Abs 1
SGB 9, § 147 Abs 1 SGB 9
Zuerkennung des Merkzeichens "erhebliche Gehbehinderung"
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. März 2007
wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu
erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt im Rahmen eines Erstfeststellungsantrages, nachdem der Beklagte
im Klageverfahren einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 ab Juni 2004 anerkannt
hat, noch die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ (erheblich gehbehindert).
Die 1938 geborene Klägerin beantragte am 12. Juli 2004 die Feststellung einer
Behinderung, eines GdB und von Merkzeichen. Sie machte unter anderem geltend, sie
leide unter einem Glaucom, einem Tinnitus, einem Bluthochdruck, Rhythmusstörungen,
einer chronischen Bronchitis, einer Neurodermitis, Knoten in Schilddrüse und Brust,
einem Bandscheibenvorfall der Halswirbelsäule, einer Arthrose/Spondylose der
Lendenwirbelsäule sowie einer Polyneuropathie der Beine und Hände. Nach Einholung
und Auswertung von Unterlagen der die Klägerin behandelnden Ärzte erkannte der
Beklagte mit Bescheid vom 21. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 1. Juli 2005 einen GdB von 40 wegen folgender Behinderungen:
Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden der Halswirbelsäule,
chronisches Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom, Knochenkalksalzminderung (Einzel-
GdB 30),
Polyneuropathie (Einzel-GdB 20),
Seelische Störung (Einzel-GdB 20),
Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen (Einzel-GdB 20),
Ohrgeräusche (Einzel-GdB 10),
Chronische Bronchitis (Einzel-GdB 10),
Neurodermitis (Einzel-GdB 10) und
Hüftgelenksverschleiß beidseits (Einzel-GdB 10)
an (die der Beklagte mit den jeweils genannten lediglich verwaltungsinternen Einzel-GdB
bewertet hat). Die Anerkennung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die
Zuerkennung des Merkzeichens „G“ lehnte der Beklagte ab.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin erkannte der Beklagte
mit Bescheid vom 1. November 2006 einen GdB von 50 ab Juli 2004 an. Dieser
Höherbewertung des Gesamt-GdB lag eine Erhöhung des Einzel-GdB von 20 auf 30 für
die psychosomatische Störung zu Grunde.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der Fachärztin für Innere Medizin Dr. K vom 13.
März 2006, der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. Dr vom 20. März 2006, des Arztes für
Lungen- und Bronchialheilkunde Dü vom 19. März 2006, der Ärztin für Augenheilkunde
Dr. Sp vom 28. März 2006, der Fachärztin für Orthopädie Diplom-Medizinerin L vom 30.
März 2006 und der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Diplom-Medizinerin G vom
21. Mai 2006 eingeholt.
Mit Urteil vom 13. März 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur
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Mit Urteil vom 13. März 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur
Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Bescheid vom 1. November 2006 sei
rechtmäßig. Mit der am 1. August 2006 erhobenen Klage habe die Klägerin die
Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises beantragt. Dies setze die Zuerkennung
eines GdB von mindestens 50 voraus. Einen GdB von 50 habe der Beklagte im
Klageverfahren anerkannt. Damit sei dieses Klagebegehren erledigt. Soweit die Klägerin
nunmehr einen höheren GdB als 50 begehre und sich auf nach ihrer Ansicht
eingetretene Verschlechterungen und Verschlimmerungen unter anderem der
Dauerschmerzsymptomatik und des Sehvermögens sowie einen neu hinzu getretenen
Vitamin-B-12-Mangel sowie einen Diabetes mellitus berufe, stelle dies eine
Klageänderung dar. Das Gericht lasse dahinstehen, ob diese Klageänderung zulässig sei,
da auch unter Berücksichtigung des neuen Vorbringens keine andere Entscheidung
möglich sei. Übliche seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen seien bei der
Bewertung des GdB bereits berücksichtigt. Das bei der Klägerin vorliegende
Sehvermögen rechtfertige keinen GdB von 20. Der festgestellte Vitamin-B-12-Mangel
stelle keine zu berücksichtigende Beeinträchtigung dar, da er medikamentös
ausgeglichen werde. Der festgestellte Diabetes mellitus sei mit einem Einzel-GdB von 10
zu bewerten. Eine Erhöhung des Gesamt-GdB komme damit nicht in Betracht. Auch die
Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung lägen nicht vor. Die Klägerin sei in
der Lage, ortsübliche Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen.
Gegen dieses ihr am 18. April 2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 15. Mai 2007
Berufung eingelegt, um ihr Begehren weiter zu verfolgen. Sie ist weiterhin der Ansicht,
das Merkzeichen „G“ sei zu bewilligen. Die sie behandelnde Orthopädin habe bestätigt,
dass sie maximal 500 m am Stück laufen könne. Zusätzlich sei sie durch ein Glaucom
und einen Tinnitus beeinträchtigt. Aufgrund des Bluthochdrucks falle sie häufig um. So
sei sie auch im März 2007 zweimal kurz hintereinander außerhalb ihrer Wohnung
umgefallen und habe sich einen Nasenbeinbruch, eine Stauchung der Halswirbelsäule
sowie eine Prellung des Knies zugezogen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. März 2007 aufzuheben, den Bescheid
des Beklagten vom 21. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.
Juli 2005 in der Fassung des Bescheides vom 1. November 2006 abzuändern und den
Beklagten zu verurteilen, bei ihr ab Juli 2004 die gesundheitlichen Voraussetzungen für
die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Er hält an seiner Auffassung fest, dass der Klägerin Merkzeichen nicht zustehen.
Der Senat hat Befundberichte der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. Dr vom 29. Dezember
2007, der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Diplom-Medizinerin G vom 21.
Februar 2008 und der Fachärztin für Orthopädie Diplom-Medizinerin L vom 13. Mai 2008
eingeholt.
Die als Sachverständige bestellte Fachärztin für Arbeitsmedizin Dr. F hat in ihrem
Gutachten vom 5. September 2008 unter anderem ausgeführt, bei der Klägerin lägen
eine Lendenwirbelsäulenfunktionseinschränkung mit Nervenwurzelreizerscheinungen
sowie eine sensible Polyneuropathie der Beine, die sie mit Einzel-GdB von jeweils 20
bewertete, eine Funktionsbehinderung der Beingelenke, eine chronische Bronchitis sowie
Bluthochdruck/Herzrhythmusstörungen, die sie mit Einzel-GdB von jeweils 10 bewertete,
vor.
Der GdB für die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Gesundheitsstörungen der
unteren Gliedmaßen, der Lendenwirbelsäule und der inneren Leiden betrage insgesamt
30. Die Klägerin sei in der Lage, eine 2000 Meter weite Wegstrecke im Ortsverkehr zu
Fuß zurückzulegen. Auch unter Berücksichtigung von Pausen sei ihr dies binnen 30 min
möglich.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf
den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des
Beklagten (Gz.: ) verwiesen. Der Inhalt dieser Unterlagen war Gegenstand der
mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
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Die Berufung hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, insbesondere ist sie statthaft sowie
form- und fristgerecht erhoben. Sie ist aber nicht begründet, denn das Sozialgericht
Berlin hat die Klage zu Recht abgewiesen. Zutreffend hat die Beklagte den Antrag der
Klägerin auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung
des Merkzeichens „G“ abgelehnt, denn die Klägerin hat keinen Anspruch hierauf.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer
Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt
oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmen, die öffentlichen Personenverkehr
betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises im
Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich zu befördern. Gemäß § 146
Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit
erheblich beeinträchtigt, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch
durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der
Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren
für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die
üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Im Interesse der Gleichbehandlung aller
behinderten Menschen erfolgt die konkrete Festsetzung nach Maßgabe der in den
„Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht
und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP, herausgegeben vom Bundesministerium
für Gesundheit und Soziale Sicherung, aktuelle Ausgabe: 2008) niedergelegten
Maßstäben. Diese sind zwar kein Gesetz und auch nicht aufgrund einer gesetzlichen
Ermächtigung erlassen. Es handelt sich jedoch bei ihnen um eine auf besonderer
medizinischer Sachkunde beruhenden Ausarbeitung, die die möglichst gleichmäßige
Anwendung dieser Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet zum Ziel hat. Die AHP engen
das Ermessen der Verwaltung ein, führen zur Gleichbehandlung und sind deshalb auch
geeignet, gerichtlichen Entscheidungen zugrunde gelegt zu werden. Gibt es solche
anerkannten Bewertungsmaßstäbe, so ist nach der Rechtsprechung grundsätzlich von
diesen auszugehen (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 18. September 2003, BSGE
91, 205-211, SozR 4-3250 § 69 Nr. 2 Rdnr. 18). Deshalb stützt sich der Senat auf die
genannten AHP. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt
es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalls an, sondern darauf,
welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen
– noch zu Fuß zurückgelegt werden (AHP Nr. 30 Abs. 2 S. 2, S. 137). Nach der
Rechtsprechung gilt als übliche Wegstrecke in diesem Sinne eine Strecke von etwa zwei
Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (vgl. BSG, Urteil vom 10.
Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273-281 (277) = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Dieser
Maßstab ist erstmals von den AHP 1996 (Nr. 30 Abs. 2) übernommen und in den zur
Zeit gültigen AHP 2004 /2008 beibehalten worden. In den Absätzen 3 bis 5 der Nr. 30
geben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen,
bevor angenommen werden kann, dass ein schwerbehinderter Mensch infolge einer
Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr
erheblich beeinträchtigt ist.
Nach Nr. 30 Abs. 3 AHP sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen
Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer
behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens als erfüllt anzusehen, wenn
auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen
und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50
bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den
unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen
sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z. B. bei Versteifung des Hüftgelenkes,
Versteifung des Knie- und Fußgelenkes in ungünstiger Stellung, arteriellen
Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40. Auch bei inneren Leiden kommt es bei
der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an.
Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor
allem bei Herzschäden und bei Lungenschäden mit einem Einzel-GdB von 50
anzunehmen. Auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der
körperlichen Leistungsfähigkeit sind die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen.
Die Klägerin erfüllt diese Voraussetzungen der Nr. 30 Abs. 3 AHP nicht.
Die Klägerin leidet unter den bereits mit Bescheid vom 01. November 2006 anerkannten
und von dem Beklagten zutreffend bewerteten Behinderungen, aus denen sich bei
Berücksichtigung nur der sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der
unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule kein GdB von wenigstens 50 ergibt.
Eine Behinderung ist gemäß § 2 SGB IX die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden
Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder
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Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder
seelischen Zustand beruht und die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt. Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als GdB nach
Zehnergraden abgestuft von 20 bis 100 festzustellen. Bei mehreren
Funktionsbeeinträchtigungen, wie sie bei der Klägerin vorliegen, ist nach § 69 Abs. 3 SGB
IX der Gesamt-GdB nach den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer
Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander
festzustellen.
Die Klägerin leidet zunächst unter einer Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, einem
Bandscheibenschaden der Halswirbelsäule, einem chronischen Hals- und
Lendenwirbelsäulensyndrom sowie einer Knochenkalksalzminderung. Von diesen
Behinderungen wirkt sich lediglich das Lendenwirbelsäulensyndrom auf die Gehfähigkeit
der Klägerin aus. Diese hat die Sachverständige Dr. F zutreffend mit einem Einzel-GdB
von 20 bewertet. Nach den Anhaltspunkten (Nummer 26.18, Seite 116) werden
Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen in einem
Wirbelsäulenabschnitt mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet. Wirbelsäulenschäden mit
mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt bedingen
einen Einzel-GdB von 20. Erst Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen
Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt werden mit einem Einzel-GdB von 30
bewertet. Bei der Klägerin lässt sich selbst unter Beachtung der
Nervenwurzelreizerscheinungen und der anhaltenden Schmerzensymptomatik ein GdB
von mehr als 20 für die Beschwerden der Lendenwirbelsäule nicht rechtfertigen.
Des Weiteren wirkt sich die bei der Klägerin vorliegende Polyneuropathie auf das
Gehvermögen aus. Diese ist mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten, denn dies
entspricht den Vorgaben der Anhaltspunkte (Nummer 26.18, Seite 128) und ist durch
die Sachverständige Dr. F bestätigt worden.
Die weiteren bei der Klägerin vorliegenden und sich auf das Gehvermögen auswirkenden
Behinderungen Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, chronische Bronchitis und
Hüftgelenksverschleiß beidseits hat der Beklagte zutreffend mit Einzel-GdB von jeweils
10 bewertet. Der von der Klägerin geklagte Vitamin-B-12-Mangel wird medikamentös
ausgeglichen, das Sehvermögen der Klägerin wird durch eine Brille korrigiert. Beide
Gesundheitsstörungen bedingen keinen Einzel-GdB und wirken sich nicht auf das
Gehvermögen der Klägerin aus.
Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so sind zwar Einzel-GdB anzugeben;
bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen
jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden, auch andere Rechenmethoden sind für
die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der
einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer
wechselseitigen Beziehungen zueinander (AHP Nr. 19 Abs. 1, S. 24). Dabei ist in der
Regel ausgehend von der schwerwiegendsten Gesundheitsstörung zu prüfen, ob und
inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Funktionsbeeinträchtigungen
vergrößert wird (AHP Nr. 19 Abs. 3, S. 25), wobei zu berücksichtigen ist, dass leichte
Gesundheitsstörungen, die einen GdB von 10 bedingen, in der Regel nicht zu einer
wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesundheitsbeeinträchtigungen führen, und
dass es vielfach auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 nicht
gerechtfertigt ist, eine Erhöhung vorzunehmen (AHP Nr. 19 Abs. 4, S. 26). Unter
Zugrundelegung dieser Grundsätze beträgt der GdB der sich auf die Gehfähigkeit
auswirkenden Gesundheitsstörungen nicht mehr als 30. Ausgehend von der
schwerwiegendsten Gesundheitsstörung, das heißt von den Lendenwirbelsäulenschäden,
die mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet worden ist, ist es angemessen diesen Einzel-
GdB von 20 leicht, nämlich um einen GdB von 10 wegen der Polyneuropathie, die
ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet worden ist, zu erhöhen. Es besteht
nämlich einerseits eine wechselseitige Beziehung zwischen den
Wirbelsäulenbeschwerden mit Dauerschmerzen und der Polyneuropathie, andererseits
können sich jedoch die Einzel-GdB der verschiedenen Behinderungen nicht insgesamt
erhöhend auswirken, da auch eine Überschneidung dieser Behinderungen vorliegt. Auch
eine weitere Erhöhung wegen der mit Einzel-GdB von lediglich jeweils 10 bewerteten
Behinderungen ist nicht gerechtfertigt.
Das Vorliegen eines in Abs. 4 oder 5 geregelten Sachverhalts kann ausgeschlossen
werden, denn die Klägerin leidet weder unter hirnorganischen Anfällen noch unter einer
Störung der Orientierungsfähigkeit.
Die Nichterfüllung eines in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 AHP bestimmten Regelfalles schließt die
Feststellung des Merkzeichens „G“ jedoch nicht aus. Die Voraussetzungen für die
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Feststellung des Merkzeichens „G“ jedoch nicht aus. Die Voraussetzungen für die
Zuerkennung dieses Nachteilsausgleichs können nämlich auch bei schwerbehinderten
Menschen erfüllt sein, bei denen andere als die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 AHP aufgeführten
Behinderungen vorliegen. Nach dem Wortlaut des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist es
erforderlich, gleichzeitig aber auch ausreichend, dass der schwerbehinderte Mensch
„infolge einer Einschränkung des Gehvermögens“ in der Bewegungsfähigkeit im
Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Die Bewegungsbeeinträchtigung im Sinne
dieser Definitionsnorm muss tatsächlich auf eine sich auf das Gehvermögen
auswirkende Behinderung im Sinne des Gesetzes ursächlich zurückzuführen sein (so
zuletzt BSG, Urteil vom 24. April 2008, B 9/9a SB 7/06 R, zitiert nach juris). In dem
genannten Urteil hat das BSG die Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-
Bandenburg (Urteil vom 08. Juni 2006, Az. L 11 SB 1021/05, zitiert nach juris) bestätigt,
das Adipositas als gesundheitliche Grundlage einer rechtserheblichen Funktionseinbuße
im Sinne von Behinderungen und diese als Ursachen einer Bewegungsbeeinträchtigung
angesehen hat.
Dazu hat das BSG weiter ausgeführt, die AHP beschrieben in Nr. 30 Abs. 3 bis 5
Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen
Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „G“ als erfüllt anzusehen
seien, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen
könnten. Das Merkzeichen „G“ sei daher auch demjenigen zuzuerkennen, der zwar nicht
die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 AHP aufgezeigten Behinderungen bzw. Behinderungsgrade
aufweise, bei dem aber körperliche Regelwidrigkeiten mit den von ihnen ausgehenden
Funktionsbeeinträchtigungen vorlägen, die seine Bewegungsfähigkeit, insbesondere sein
Gehvermögen, ebenso herabsetzten wie in den in den AHP beispielhaft genannten
Fällen. Die AHP geben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen
müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer
Einschränkung des Gehvermögens „in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr
erheblich beeinträchtigt ist“. Damit tragen die AHP dem Umstand Rechnung, dass das
menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen
Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen
Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der
Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische
Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie
Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren
filtern die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben,
weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr
nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens,
sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen.
Auch diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Denn die Sachverständige
Dr. F konnte eine erhebliche Gehbehinderung der Klägerin nicht feststellen, vielmehr hat
sie ausgeführt, dass die Klägerin in der Lage ist, Wege, die üblicherweise im Ortsverkehr
zurückgelegt werden, nämlich Wege von 2000 m, zurückzulegen. Die Klägerin erfüllt
damit die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ nicht.
Soweit die Klägerin geltend macht, es sei bisher überhaupt nicht beachtet worden, dass
sich auch ihr Tinnitus und ihr Sehvermögen auf ihre Fortbewegungsfähigkeit auswirken
würden, verkennt sie die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“. Für die Gewährung
des Merkzeichens „G“ kommt es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
gerade nur auf eine behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens an, nicht
aber auf die Frage, ob die Bewegungsfähigkeit aus anderen Gründen z. B. wegen einer
Minderung des Sehvermögens, eingeschränkt ist.
Nach alledem ist die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung findet ihre Grundlage in § 193 des Sozialgerichtsgesetzes
(SGG) und trägt dem Ausgang des Rechtsstreits Rechnung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 160 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGG
genannten Gründe vorliegt.
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