Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 26.08.2009

LSG Berlin und Brandenburg: freizügigkeit der arbeitnehmer, zustellung, arbeitsmarkt, eugh, erlass, zugang, obsiegen, existenzminimum, unterkunftskosten, rechtsschutz

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 26.08.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 156 AS 23242/09 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 18 AS 1394/09 B ER
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 31. Juli 2009 geändert. Der
Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit ab Zustellung
dieses Beschlusses bis zum 30. November 2009 monatliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe
von 184,- EUR für die Antragstellerin zu 1. und in Höhe von 159,- EUR für den Antragsteller zu 2. zu gewähren. Die
weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt ein Drittel der außergerichtlichen Kosten
der Antragsteller im gesamten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragsteller, mit der sie bei verständiger Würdigung ihres Begehrens (vgl. § 123
Sozialgerichtsgesetz - SGG -) nach Maßgabe ihres in der Antragsschrift vom 21. Juli 2009 formulierten Antrags den
Erlass einer gerichtlichen Regelungsanordnung i.S.v. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG erstreben, ist zulässig und in dem aus
dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist die Beschwerde nicht begründet und war zurückzuweisen.
Das Begehren der Antragsteller ist zutreffend auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichtet. Für die
Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Widersprüche gegen die "Aufhebungsbescheide" des Antragsgegners
vom 16. Juli 2009, mit denen dieser die - gemäß § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung (SGB
III) i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1a Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) nur vorläufige -
Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Bescheide vom 27. Mai 2009 und 7. Juni 2009)
für die Zeit ab 1. August 2009 zukunftsgerichtet "aufgehoben" hat, besteht demgegenüber kein Raum. Denn diese
"Aufhebungsbescheide" sind in der Sache endgültige Ablehnungsentscheidungen, so dass die darin verlautbarten
Aufhebungsentscheidungen ausschließlich klarstellende Bedeutung dahingehend haben konnten, dass die
einstweiligen Bewilligungsentscheidungen als unwirksam anzusehen sind und sich erledigt haben (vgl. hierzu BSG,
Urteil vom 16. November 1995 - 4 RLw 4/94 = SozR 3-1300 § 31 Nr. 10).
Soweit die Antragsteller Leistungen für Unterkunft und Heizung geltend machen, fehlt es bereits an einem
Anordnungsgrund für die begehrte gerichtliche Anordnung i.S. eines unaufschiebbar eiligen Regelungsbedürfnisses.
Eine derzeit drohende Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit der bereits seit März 2006 in Deutschland lebenden
Antragsteller ist weder vorgetragen worden noch im Übrigen ersichtlich. Den Antragstellern ist daher ein Abwarten auf
die Entscheidung im Hauptsacheverfahren zumutbar, zumal § 22 Abs. 5 Satz 1 und 2 und Abs. 6 SGB II Regelungen
zur Sicherung der Unterkunft selbst für den Fall einer - hier nicht in Rede stehenden - Räumungsklage enthalten (vgl.
BVerfG, Beschluss vom 30. März 2007 - 1 BvR 535/07 - nicht veröffentlicht). Ebenso kommt eine Gewährung von
Leistungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für Zeiträume vor der Zustellung der Senatsentscheidung nicht in
Betracht.
Für die Zeit ab Zustellung des vorliegenden Beschlusses bis 30. November 2009 war der Antragsgegner jedoch im
tenorierten Umfang zu verpflichten, und zwar unter Berücksichtigung einer verfassungsrechtlich gebotenen
Folgenabwägung und im Hinblick auf die bislang in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht abschließend
geklärte Tragweite des gesetzlichen Leistungsausschlusses bei nichtdeutschen Staatsangehörigen von
Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), deren Aufenthaltsrecht sich - wie hier - allein aus dem Zweck der
Arbeitsuche ergibt (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II). Unter Berücksichtigung der durch Art. 39 Vertrag zur
Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verbürgten Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU begegnet es
nämlich erheblichen rechtlichen Bedenken, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II insoweit mit Gemeinschaftsrecht in
Einklang steht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – EuGH - (vgl. Urteil vom 4. Juni 2009 - C-
22/08 - juris) kann ein Arbeitsuchender, der tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates
hergestellt hat, sich auf Art. 39 Abs. 2 EGV berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den
Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Das Bestehen einer solchen tatsächlichen Verbindung kann sich bereits
daraus ergeben, dass der Betreffende während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem
Mitgliedstaat gesucht hat, wie dies die Antragsteller auch vorliegend behaupten. Die Ausnahmevorschrift in Art. 24
Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 betrifft demgegenüber nur einen "Anspruch auf Sozialhilfe". Der EuGH (vgl. a.a.O.) weist
insoweit aber ausdrücklich darauf hin, dass eine Voraussetzung, wie sie in Deutschland für die Grundsicherung für
Arbeitsuchende vorgesehen sei, wonach der Betreffende erwerbsfähig sein müsse, ein Hinweis darauf sein könne,
dass diese Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern solle. Im letztgenannten Fall greift Art. 24 Abs. 2 der
Richtlinie 2004/38 aber von vornherein nicht.
Da insbesondere die - den innerstaatlichen Gerichten obliegende (vgl. EuGH a.a.O.) - Prüfung, ob die Antragsteller
eine tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt hergestellt haben, weiterer Sachermittlungen bedarf, war
im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Folgenabwägung vorzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - juris). Angesichts des existenzsichernden Charakters der begehrten Leistungen
wiegen die den Antragstellern drohenden Nachteile bei einer (vollen) Ablehnung des Antrags und einem späteren
Obsiegen im Hauptsacheverfahren ungleich schwerer als der Nachteil einer Überzahlung für den Antragsgegner. Aus
diesem Grund war der Antragsgegner einstweilen zu verpflichten, das absolute Existenzminimum der Antragsteller zu
sichern. Das Gericht hat sich insoweit an den Werten für den notwendigen Bedarf ohne Unterkunftskosten orientiert,
die sich aus § 3 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 und 3 Asylbewerberleistungsgesetz ergeben. Die einstweilige Anordnung ergeht
für die Zeit bis 30. November 2009. Es bleibt den Antragstellern unbenommen, nach Ablauf dieses Zeitraums bei dem
SG erneut um einstweiligen Rechtsschutz nachzusuchen, sofern bis dahin das Hauptsacheverfahren nicht
abgeschlossen sein sollte.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).