Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 11.04.2000

LSG Berlin und Brandenburg: prozesspartei, vertretung, beweiswürdigung, rente, meinung, dauerleistung, wissenschaft, anhörung, beweisergebnis, vorschlag

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 11.04.2000 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 69 U 212/96
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 3 U 59/99
Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren vor dem Landessozialgericht Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des
Rechtsanwaltes M-D zu gewähren, wird zurückgewiesen.
Gründe:
Der Antrag war zurückzuweisen, denn dem Kläger steht kein Anspruch auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter
Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten zu. Gemäß § 73 a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) finden die
Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) über die Prozesskostenhilfe entsprechende Anwendung. Nach § 114 ZPO
ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht,
nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte
Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Wegen der im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich bestehenden Gerichtskostenfreiheit (§ 183 SGG) kommt die
Gewährung von Prozesskostenhilfe regelmäßig nur dann in Betracht, wenn zugleich ein Prozessbevollmächtigter
beizuordnen ist. Gemäß § 121 Abs. 2 Satz 1 ZPO wird der Partei auf ihren Antrag ein zur Vertretung bereiter
Rechtsanwalt ihrer Wahl beigeordnet, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint oder der
Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist.
Die vorgenannten Voraussetzungen sind im vorliegenden Falle nicht erfüllt. Hierbei lässt der Senat ausdrücklich offen,
ob der Rechtsstreit im Berufungsverfahren hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Nach Aktenlage könnte vieles
dafür sprechen, dass es bereits an einer solchen hinreichenden Erfolgsaussicht fehlt. Gegenstand des Rechtsstreites
sind im Kern die Fragen, ob die vom Kläger geschilderten Schlafstörungen, Antriebsschwäche, Tagesmüdigkeit und
weitere Beeinträchtigungen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet Folgen eines Arbeitsunfalls sind. Dies ist nach
den vorliegenden ärztlichen Meinungsäußerungen zu verneinen. Sowohl das medizinische Sachverständigengutachten
des Prof. Dr. Sch vom 20. November 1998 als auch das vom Kläger selbst zu den Gerichtsakten gereichte Gutachten
des Chefarztes Priv. Doz. Dr. M von der Hephata-Klinik vom 16. April 1999 haben einen Zusammenhang zwischen
dem Unfallereignis und den bei dem Kläger festzustellenden Beschwerden nicht bestätigen können. Das Attest des
Praktischen Arztes M vom 18. Januar 2000, ebenfalls vom Kläger zu den Akten gereicht, spricht zwar von einer stark
belastenden Symptomatik, die Folgeerscheinung des Verkehrsunfalls vom Oktober 1993 sei. Es beschreibt jedoch
weder die belastende Symptomatik im Einzelnen, noch erläutert es, aus welchen Gründen der behandelnde Arzt
entgegen den Äußerungen der Sachverständigen zu einer Annahme der Kausalität gelangt ist. Vor dem Hintergrund
dieser ärztlichen Meinungsäußerungen könnte vieles dafür sprechen, den Sachverhalt bereits jetzt als geklärt zu
betrachten. Dies würde zugleich den Rückschluss zulassen, dass eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht besteht.
Selbst wenn aber der Senat sich noch veranlasst sehen sollte, von Amts wegen weitere Ermittlungen in medizinischer
Hinsicht anzustellen, würde dies nicht zwangsläufig eine hinreichende Erfolgsaussicht begründen können, denn es
würde sich dabei allenfalls um eine entfernte und nicht um eine hinreichende Erfolgsaussicht handeln.
In jedem Falle aber fehlt es an den weiteren Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Denn die
Beiordnung eines Rechtsanwaltes erscheint als nicht erforderlich im Sinne des § 121 Abs. 2 Satz 1 ZPO. Die Frage
der Erforderlichkeit haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit unter Berücksichtigung aller Umstände des
Einzelfalles zu prüfen (Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin - VerfGH -, Beschluss vom 20. August 1997, -
VerfGH 9/97). Den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gleichheit und Effektivität des Rechtsschutzes,
bezogen auf finanziell bemittelte und nichtbemittelte Kläger, ist dadurch Rechnung zu tragen, dass sich das Gericht
bei der Auslegung an der Frage orientiert, ob sich im konkreten Fall eine bemittelte Prozesspartei vernünftigerweise
anwaltlicher Hilfe bedienen würde. Artikel 15 Abs. 1 der Verfassung von Berlin (VvB) gebietet die Prüfung, ob sich der
Betroffene in der aktuellen Prozesssituation auch ohne anwaltliche Unterstützung Gehör verschaffen kann (VerfGH a.
a. O.).
Hiernach kommt vorliegend die Beiordnung eines Rechtsanwaltes nicht in Betracht, denn eine vernünftig denkende,
mit hinreichenden eigenen Geldmitteln ausgestattete Prozesspartei würde sich im vorliegenden Fall anwaltlicher Hilfe
nicht bedienen. Der vorliegende Fall weist weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten auf, die
es als erforderlich erscheinen ließen, die Unterstützung eines Rechtsanwaltes zu suchen. Dies gilt auch vor dem
Hintergrund, dass der Kläger als türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit die deutsche Sprache
nicht als Muttersprache beherrscht. Denn allein die Behauptung, er verfüge nicht über eine ausreichende Gewandtheit
in Wort und Schrift, reicht nicht aus, um die Zuordnung und die Beiordnung eines Rechtsanwaltes als notwendig
erscheinen zu lassen. Primär ist es nicht Aufgabe eines Anwaltes, derartige mögliche Verständigungsschwierigkeiten
zu überbrücken. Gegebenenfalls ist hier vielmehr zur mündlichen Verhandlung oder auch bei der Untersuchung durch
einen Sachverständigen ein Dolmetscher einzuschalten. Darüber hinaus genügt der bloße Hinweis auf eine
ausländische Staatsangehörigkeit nicht, um den Schluss auf die Erforderlichkeit einer anwaltlichen Vertretung
zuzulassen (VerfGH, Beschluss vom 20. August 1997, AZ: 9/97). Es kann vielmehr verlangt werden, dass der die
Prozesskostenhilfe begehrende Antragsteller nähere Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen wie etwa der
Aufenthaltsdauer macht (VerfGH a. a. O.). Derartige Angaben hat der Kläger jedoch auch im Berufungsverfahren nicht
gemacht, obwohl ihm durch Verfügung des Berichterstatters vom 26. Oktober 1999 nochmals ausdrücklich
Gelegenheit eingeräumt worden war.
Auch in der Sache selbst weist der Fall keine besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Problemstellungen auf, die
die Beiordnung eines Rechtsanwaltes als geboten erscheinen lassen könnten. Nach der gesetzgeberischen
Entscheidung ist die Beiordnung eines Anwaltes auch im sozialgerichtlichen Berufungsverfahren nicht
vorgeschrieben. Erforderlich ist sie nur dann, wenn die Sach- oder Rechtslage im Einzelfall schwierig oder schwer zu
überschauen ist. Diese gesetzgeberische Entscheidung begegnet keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen
Bedenken (VerfGH, Beschluss vom 20. August 1997, Az: 9/97). Besondere rechtliche Problemstellungen weist der
vorliegende Fall schon deswegen nicht auf, weil - wie bereits ausgeführt - vorliegend Fragen der medizinischen
Kausalitätsbeurteilung im Vordergrund stehen, die rechtlich geklärt sind und einer Würdigung in tatsächlicher Hinsicht
im Einzelfall bedürfen. Dass hierbei besondere Umstände zu berücksichtigen sind, ist nicht erkennbar. Dies gilt auch
dann, wenn die Meinung des Sondervotums der Verfassungsrichter Dr. Storost, Arendt-Rojahn und Dr. Möcke zum
Beschluss des VerfGH vom 20. August 1997, AZ: 9/97, zu Grunde gelegt wird. Nach diesem Sondervotum wird
regelmäßig auch dann, wenn ausschließlich oder schwerpunktmäßig tatsächliche Fragen im Streit sind, die
möglicherweise durch eine Beweisaufnahme geklärt werden müssen, ein bemittelter Rechtsschutzsuchender
vernünftigerweise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragen, wenn im Kenntnisstand
und in den Fähigkeiten der Prozesspartei ein deutliches Ungleichgewicht besteht. Dies gelte um so mehr, wenn der
Rechtsstreit für die künftige soziale Stellung des Klägers, z. B. wegen des Begehrens erheblicher laufender
Leistungen, von besonderer Bedeutung sei. Gerade in Rechtsstreitigkeiten mit medizinischen Problemen könne es in
vielen Fällen erforderlich sein, einen Rechtsanwalt beizuordnen, weil das Erfassen der medizinischen
Gesamtproblematik, insbesondere im Zusammenhang mit Kausalitätsfragen, möglicherweise erheblicher
Anstrengungen bedürfe. Derartige Umstände des Einzelfalles sind aber vorliegend gerade nicht vorgetragen worden
und auch nicht von Amts wegen ersichtlich. Allein die Tatsache, dass der Kläger eine regelmäßig wiederkehrende
Dauerleistung in Gestalt einer Rente begehrt, kann den Fall nicht auf die Ebene einer besonderen Schwierigkeit in
tatsächlicher Hinsicht heben. Sonstige Aspekte der Beweiswürdigung oder der Durchführung der Beweisaufnahme, die
die Beiordnung eines Rechtsanwaltes als notwendig oder zumindest als sinnvoll erscheinen ließen, sind ebenfalls
nicht erkennbar. Derartige Umstände könnten gegeben sein, wenn mehrere, einander in der Sache widerstreitende
ärztliche Meinungsäußerungen vorlägen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führten und einer präzisen Würdigung
bedürften. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn Fragen zu klären wären, die in der medizinischen
Praxis oder Wissenschaft nicht hinreichend geklärt oder Gegenstand von Auseinandersetzungen, insbesondere im
Sinne medizinischer Richtungsstreitigkeiten, sein könnten. Wie bereits ausgeführt, gelangen die ärztlichen
Meinungsäußerungen im vorliegenden Fall nahezu einhellig zu identischen Schlüssen. Einer komplizierten
Beweiswürdigung oder der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen medizinischen Richtungen oder Grundansichten
bedarf es nach gegenwärtigem Aktenstand, der für die Prognose allein ausschlaggebend ist, nicht.
Hieran ändert sich auch nichts durch das Vorbringen des Klägers, er bedürfe der anwaltlichen Hilfe für die Auswahl
und den Vorschlag eines Sachverständigen gemäß § 109 SGG. Denn dies verkennt die Bedeutung, die diese
Vorschrift für das sozialgerichtliche Verfahren besitzt. Das sozialgerichtliche Verfahren ist vorrangig durch eine
weitreichende Ausgestaltung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§§ 103, 106 SGG) gekennzeichnet. Das Gericht hat
von Amts wegen den Sachverhalt umfassend zu erforschen und aufzuklären. Hierzu gehört gegebenenfalls auch die
Einholung medizinischer Sachverständigengutachten, wenn dies als geboten erscheint. Eines Beweisantrages oder
einer Beweisanregung bedürfte es hierzu nicht. Die Funktion eines Beweisantrages gemäß § 109 SGG besteht allein
darin, dass ein Rechtsschutzsuchender die Möglichkeit eingeräumt erhält, einen Arzt, dem er besonders vertraut oder
dem er besondere Sachkunde beimisst, durch das Gericht hören zu lassen. Dies ist typischerweise dann der Fall,
wenn ein Rechtsschutzsuchender - nach durchgeführter Beweisaufnahme von Amts wegen - dem durch das Gericht
gewonnen Beweisergebnis nicht oder nicht hinreichend vertraut und er deshalb die Anhörung eines Arztes verlangt,
der das besondere Vertrauen des Rechtsschutzsuchenden besitzt. Diese gesetzgeberische Ausgestaltung der
Funktion des § 109 SGG macht zugleich deutlich, dass für eine anwaltliche Tätigkeit in diesem Zusammenhang in
aller Regel kein Raum ist. Der Anwalt kann weder das besondere Vertrauen, das der Rechtsschutzsuchende zu einem
Arzt seiner Wahl hat, begründen, noch kann er es durch Auswahl eines solchen Arztes überhaupt erst schaffen.
Darüber hinaus würde die Auswahl eines Arztes nach § 109 SGG allein durch einen Anwalt ohne maßgebliche
Einbeziehung des Rechtsschutzsuchenden selbst dem Zweck des § 109 SGG in aller Regel zuwiderlaufen und ihn
nicht fördern. Vor diesem Hintergrund würde kein vernünftig denkender, aus eigenen finanziellen Mitteln handelnder
Rechtsschutzsuchender einen Rechtsanwalt einschalten, um einen Arzt nach § 109 SGG auszusuchen oder
vorzuschlagen.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.