Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 23.01.2001

LSG Berlin-Brandenburg: ablauf der frist, unfallversicherung, juristische person, erwerbsfähigkeit, anerkennung, auflage, läsion, sicherheit, wahrscheinlichkeit, lähmung

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
27. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 27 U 9/01
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 581 Abs 1 S 1 RVO, § 581 Abs
2 RVO, Anl 1 Nr 2106 BKVO
gesetzliche Unfallversicherung - MdE-Bewertung -
Höherbewertung - unbillige Härte - Facialislähmung -
Berufsmusiker - Trompeter
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 23.
Januar 2001 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit ist die Beurteilung einer Erkrankung des Klägers als Berufskrankheit (BK) und
die Entschädigung der Folgen mit einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Der geborene Kläger ist als Berufsmusiker beim P P seit 1973 beschäftigt. Auf eine im
Jahr 1994 bei dem Gemeindeunfallversicherungsverband Brandenburg,
Landesausführungsbehörde für Unfallversicherung, eingegangene Unfallanzeige, mit der
eine Facialisschwäche im Bereich der Lippen angezeigt worden war, ermittelte zunächst
der Gemeindeunfallversicherungsverband Brandenburg.
Nach Ermittlungen des seinerzeitigen Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) des
Gemeindeunfallversicherungsverbandes spielte der Kläger vom 01. Mai 1973 bis Ende
1974 im P P die dritte Trompete und ab 1975 die erste Trompetenstimme im P. Seit
1998 wird er in diesem Orchester als Schlagzeuger eingesetzt.
Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Arbeitsmedizin Dr. Z erstattete am 12. Juni
1996 gegenüber dem Landesinstitut für Arbeitsschutz ein Gutachten nach ambulanter
Untersuchung des Klägers vom 12. Juni 1996. Nach seiner Beurteilung lag eine
Druckneuropathie von Lippenästen des N. facialis beidseits durch Mundstückdruck beim
Trompeteblasen beim Kläger vor. Er meinte, bereits unter physiologischen Bedingungen
sei der Druck des Mundstücks auf die Lippen bei Trompetern sehr hoch, so dass die
haftungsbegründende Kausalität für eine Lippendruckschädigung eigentlich bei jedem
exponiert tätigen Trompeter gegeben sei.
Durch Bescheid vom 22. April 1998 lehnte die Unfallkasse Brandenburg als
Rechtsnachfolgerin des Gemeindeunfallverbandes die Anerkennung einer BK und einen
Anspruch auf Gewährung von Entschädigungsleistungen aus Anlass der
streitgegenständlichen Erkrankung ab, weil die Voraussetzungen für die Anerkennung
einer BK nach Nr. 2106 der Anlage 1 zur BKV nicht erfüllt seien. Die beim Kläger
bestehende Erkrankung (Drucklähmung des N. facialis beidseits) sei nicht in der Anlage
aufgenommen. Auch die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO seien nicht gegeben.
Die haftungsbegründende Kausalität sei nicht gegeben, da ein Zusammenhang
zwischen der Erkrankung und der beruflichen Tätigkeit als Blasmusiker nicht
wahrscheinlich gemacht werden könne. Derzeit sei im Sachverständigenbeirat beim
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung eine Erweiterung der bisherigen Nr.
2106 der Anlage 1 zur BKV im Hinblick auf Einbeziehung der Entstehung des N. facialis
bei Blasmusikern anhängig. Sofern nach Abschluss der Beratungen eine Anerkennung
von Schädigungen des N. facialis bei Blasmusikern im Rahmen der Nr. 2106 möglich sei,
werde das Feststellungsverfahren neu aufgenommen und die Anerkennung der
Erkrankung geprüft.
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Den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte durch Bescheid
vom 04. November 1998 zurück.
Mit der am 07. Dezember 1998 beim Sozialgericht (SG) Potsdam eingegangenen Klage
hat der Kläger weiter geltend gemacht, dass seine Gesundheitsstörungen Folge einer BK
seien. Insbesondere wurde zur Begründung auf das Gutachten von Dr. Z Bezug
genommen.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat erstinstanzlich beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. April 1998 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 04. November 1998 zu verurteilen, die „Druckschädigung
des Nervus facialis beidseits“ des Klägers als Berufskrankheit nach Nr. 2106 der Anlage
zur BKV anzuerkennen und ab Januar 1996 Rente aus der gesetzlichen
Unfallversicherung nach einer MdE von 30 v. H. zu gewähren,
hilfsweise,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. April 1998 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 04. November 1998 zu verurteilen, die „Druckschädigung
des Nervus facialis beidseits“ des Klägers wie eine Berufskrankheit i. S. von § 551 Abs. 2
RVO anzuerkennen und ab Januar 1996 Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung
nach einer MdE 30 v.H. zu gewähren.
Der Bevollmächtigte der Beklagten hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte verteidigte ihre Entscheidungen.
Das SG hat mit dem am 23. Januar 2001 verkündeten Urteil die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 22. April 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 04. November 1998 verurteilt, die Druckschädigung des N. facialis beidseits des
Klägers als BK nach Nr. 2106 der Anlage 1 zur BKV anzuerkennen und ab 01. Januar
1996 Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach einer MdE um 30 v.H. zu
gewähren. Zur Begründung hat sich das SG darauf bezogen, die vorliegende
Gesundheitsstörung des Klägers, nämlich die Druckschädigung des N. facialis sei eine
Drucklähmung der Nerven im Sinne der Nr. 2106 der Anlage 1 zur BKV. Das Gericht
folgte dem Gutachten von Dr. Z vom 12. Juni 1996.
Gegen das der Beklagten am 22. Februar 2001 zugestellte Urteil richtet sich die am 02.
März 2001 beim Landessozialgericht (LSG) für das Land Brandenburg eingegangene
Berufung der Beklagten. Zur Begründung wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass
für die Beklagte nicht sicher sei, dass im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch
das von Dr. Z im Befundbericht vom 25. März 1998 beschriebene Krankheitsbild mit
Ausfällen bestanden habe. Das Gericht hätte nicht ohne erneute medizinische
Begutachtung entscheiden dürfen. Zudem sei es nicht gerechtfertigt, das Krankheitsbild
unter den Verordnungstext (Drucklähmungen der Nerven) zu fassen. Die Verurteilung
zur Rentenzahlung nach einer MdE um 30 v. H. sei nicht nachvollziehbar.
Der Bevollmächtigte der Beklagten beantragt,
das Urteil des SG Potsdam vom 23. Januar 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Insbesondere wurde vorgetragen, es bestehe ein ausgebreitetes druckneuropathisches
Bild, das gegenüber den Vorableitungen deutlich verschlechtert sei.
Im Berufungsverfahren wurden Krankenunterlagen beigezogen, so von dem Facharzt für
Allgemeinmedizin, Dr. G, Unterlagen des Kammervirtuosen F und vom Arzt für
Allgemeinmedizin Dr. B.
Aufgrund der Beweisanordnung vom 02. Mai 2002 erstattete der Arzt für Neurologie und
Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin der Hochschule für Musik
und Theater H Prof. Dr. Aam 18. Februar 2003 ein schriftliches Gutachten nach
ambulanter Untersuchung des Klägers am 26. August 2002, das er mit Stellungnahme
vom 21. Juli 2003 ergänzte. Der von ihm erhobene Befund bei der Untersuchung beim
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vom 21. Juli 2003 ergänzte. Der von ihm erhobene Befund bei der Untersuchung beim
Spiel des Klägers an der Trompete ergab eine Störung der feinmotorischen Koordination
mit Verlust der professionellen Blasfähigkeit. Der Gutachter diagnostizierte eine fokale
Dystonie der Ansatzmuskulatur (Ansatzdystonie). Er führte zunächst aus, dass es sich
bei der tätigkeitsspezifischen fokalen Dystonie nicht um eine Erkrankung von
Nervenbahnen oder Muskelgewebe handele, sondern um eine Störung zentralnervöser
Steuerprogramme im Bereich des Gehirns. Die Ursache sei beruflich bedingt, sie
manifestiere sich bei Berufsmusikern jeweils nur in einem lang geübten,
aufgabenspezifischen Zusammenhang. Die Erkrankung sei nahezu ausschließlich bei
Berufsbläsern nachweisbar, die einen hohen beruflichen Einsatz gezeigt hätten. Die
heutige Vorstellung über die Entstehung einer tätigkeitsspezifischen Dystonie gehe von
der Annahme aus, dass eine minimale, oft klinisch nicht objektivierbare
Druckschädigung der feinen sensiblen Nerven in der Lippenschleimhaut stattfinde.
Komme es zu einer Störung der Nervenleitung neuronaler Informationsweiterleitung von
der Lippe zum Zentralnervensystem, folge zwangsläufig auch eine Störung der
feinmotorischen Ansteuerung der Lippenmuskulatur mit Verlust der professionellen
Spielfähigkeit. Bis heute gäbe es kein objektives neurophysiologisches Kriterium, um
beim Menschen eine Störung der sensiblen Nervenäste des N. trigeminus festzustellen.
Lediglich die klinische Testung der Feinwahrnehmung der Lippenschleimhaut könne
Anhaltspunkte für eine stattgehabte Schädigung liefern. Eine eingetretene Erkrankung
sei in der Regel nicht mehr heilbar. Die Erkrankung sei als BK nach Ziffer 2106
„Druckschädigung der Nerven“ im Sinne der Revision der wissenschaftlichen
Begründung für die BKen vom September 2001 anzuerkennen. Hier werde unter der
Rubrik 1.3.2.3. „sonstige Nervenschäden“ die Druckneuropathie des N. facialis und N.
trigeminus aufgeführt. Dabei würden auch die Druckbelastung im Bereich des Nerven z.
B. beim Gebrauch von Blasinstrumenten und die Ansatzstörung sowie die fokale
Dystonie ausdrücklich aufgeführt. Die MdE sei ab dem 01. Januar 1996 bis zur Aufgabe
der Trompetertätigkeit im Dezember 1997 mit unter 10 v. H. anzunehmen. Ab der
Aufgabe der beruflichen Tätigkeit im Januar 1998 sei unter Annahme einer besonderen
beruflichen Betroffenheit eine MdE um 10 v. H. anzunehmen, da der Kläger die
erworbene Spezialqualifikation bei der Ausbildung zum Trompeter nicht mehr nutzen
könne und jetzt eine weniger differenzierte Tätigkeit ausübe, die ihn deutlich weniger
befriedige. Mit Dr. Z stimme er insoweit überein, dass der Kläger an den Folgen einer
berufsbedingten Druckschädigung von Nerven im Bereich der Lippen leide. Allerdings sei
nicht davon auszugehen, dass eine Schädigung der Lippenäste des N. facialis vorliege.
Eher werde davon ausgegangen, dass eine Störung der Feinwahrnehmung vorliege, die
letztendlich mittelbar zu einer Veränderung zentralnervöser Steuerprogramme führe.
Der Kläger überreichte daraufhin ein weiteres Gutachten, das Dr. Z am 15. Juni 2003
nach Aktenlage erstellt hatte. Dieser verwies insbesondere darauf, dass mindestens im
Januar 1998 noch eindeutig eine paralytische Druckschädigung im N. facialis - das heiße
eine Drucklähmung alter Bezeichnungsweise - vorgelegen habe. Prof. Dr. A vermute in
seinem Gutachten, dass die Gesichtsnervenschädigung jetzt nicht mehr bestehe.
Aufgrund der Beschwerdeentwicklung beim Kläger und dem Verlauf der
neuromyografischen Befunde halte er an seiner Diagnose der primären
Druckneuropathie des N. facialis fest. Auch wenn das Störungsbild jetzt durch eine fokale
Dystonie beherrscht würde, so wäre dies als eine Folge einer Druckschädigung nach BK
2106 zu behandeln. In jedem Fall liege eine BK vor, wie auch immer die aktuellen
Wichtungen zwischen Druckschädigung und fokaler Dystonie in ihrer gegenseitigen
Bedingtheit seien, wenn die ausgeübte Tätigkeit die Ursache sei. Der Versicherungsfall
des Klägers sei 1994 eingetreten. In einem solchen Fall sei die BK-Anerkennung nur
möglich, wenn sie schon in der alten Fassung möglich gewesen wäre, und dies sei
vorliegend der Fall, da eine Drucklähmung vorgelegen habe. Da der Kläger als Solo-
Trompeter eine im Berufsleben herausgehobene Stellung eingenommen habe, sei die
Erhöhung der MdE, die er nicht unter 10 v.H. bewerte, um 20 v. H. zu erhöhen.
Prof. Dr. A wies in seiner Stellungnahme vom 21. Juli 2003 erneut darauf hin, dass die
Elektroneurografie des N. facialis mit Sicherheit für den Nachweis einer
Druckschädigung, die durch den Mundstückandruck des Trompetenmundstücks an der
Lippe erfolgt sei, nicht geeignet sei und erläuterte dies im Einzelnen unter Hinweis auf
die anatomische Struktur. Die von Dr. Z veröffentlichten Messergebnisse in einer
Publikation besagten nicht, dass die Messmethode von den Fachgesellschaften
anerkannt sei. Hingegen sprächen Angaben des Klägers zum Verlauf des Verlustes der
feinmotorischen Kontrolle als diagnostisches Kriterium für eine fokale Dystonie. Die in
seinem Gutachten (von Prof. A) angebotene Hilfskonstruktion, angebotene Möglichkeit,
dass eine Druckschädigung sensibler Nervenäste vorgelegen haben könnte, sei in der
Tat spekulativ, da zu keinem Zeitpunkt eindeutige klinische Symptome, geschweige
denn elektroneurografische Befunde hierfür vorgelegen hätten. Daher wolle er sich von
der von ihm angenommenen hypothetischen Druckschädigung des sensiblen
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der von ihm angenommenen hypothetischen Druckschädigung des sensiblen
Gesichtsnervs N. trigeminus distanzieren. Fakt sei, dass die feinmotorische Kontrolle der
Lippenmuskulatur nach einer Pause beim Trompetenspielen nicht mehr gegeben
gewesen sei und dass die neurografischen Methoden von Dr. Z in der Fachwelt nicht als
überprüfte Methoden anerkannt seien.
Die in seinem Gutachten entstandenen Unklarheiten rührten auch daher, dass in der
wissenschaftlichen Begründung für die BK „Druckschädigung der Nerven“ unter
„sonstige Nervenschäden“ auch der N. facialis und der N. trigeminus aufgeführt sei.
Unter der Rubrik „arbeitsbedingte Belastung“ würden Druckbelastungen im
Versorgungsbereich der Nerven beispielsweise beim Gebrauch von Blasinstrumenten,
Ansatzstörungen (fokale Dystonie) aufgeführt. Leider sei jedoch die fokale Dystonie
nicht, wie hier suggeriert werde, automatisch eine Belastung aufgrund einer
Nervendruckläsion, sondern habe andere Ursachen. Nach seiner Auffassung handele es
sich dennoch um eine BK, für die jedoch noch keine BK-Ziffer vorgesehen sei und nach
Öffnungsklausel „wie eine BK“ anzusehen sei. Eine MdE über 10 von 100 halte er
weiterhin - auch unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit -
nicht für begründet, insbesondere habe eine Störung der Feinkoordination der Lippe, die
ausschließlich beim Trompetenspiel entstehe, keinen Einfluss auf das übrige
Erwerbsleben.
Aufgrund der Beweisanordnung vom 03. Februar 2004 erstattete der Facharzt für
Neurologie Dr. M am 22. Juni 2004 ein Gutachten nach ambulanter Untersuchung des
Klägers am 10. Mai 2004. Der Gutachter gelangt zu der Beurteilung, beim Kläger liege
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Druckschädigung einzelner Axone
peripherer motorischer Äste des N. facialis vor. Eine Störung im Sinne einer Dystonie sei
im vorliegenden Fall nicht anzunehmen. Bei der klinisch-neurologischen Untersuchung
durch ihn sei die Funktion des N. facialis unauffällig gewesen. Bei einem Vorspiel des
Klägers auf der Trompete sei deutlich geworden, dass nach wie vor eine feinmotorische
Störung in der zum Blasen eingesetzten Mundmuskulatur bestehe. Diese feinmotorische
Störung sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch Fehleinsprossung
nach der Druckschädigung des N. facialis entstanden und insofern Folge der Läsion der
peripheren motorischen Äste dieses Nervens. Die ersten klinischen Erscheinungen
dieser feinmotorischen Störungen seien nach seiner Auffassung im Frühjahr 1994
eingetreten. Am 09. Juni 1994 sei der erste Untersuchungsbefund dokumentiert, der auf
der Grundlage eines Elektromyogramms und einer Neurografie die Druckschädigung des
N. facialis zweifelsfrei nachweise. Infolge der Druckschädigung sei es zu einer Lähmung
in den motorischen Einheiten beschädigter Myofibrillen gekommen. Der chronische
Druck auf die Endäste des N. facialis sei ursächlich für die Läsion des Nervens. Die
Voraussetzungen der BK 2106 der Anlage zur BKV seien erfüllt. Andere Erkrankungen
außerhalb der beruflichen Expositionen kämen nicht als Ursache in Betracht. Es sei
davon auszugehen, dass nur ein Endast des N. facialis lädiert sei und somit nicht eine
vollständige einseitige Facialisparese vorliege. Die MdE beurteile er mit 5 v. H. unter
Berücksichtigung der von ihm genannten Begutachtungsliteratur. Ergänzend nahm er
Stellung am 19. Januar 2005.
In der öffentlichen Sitzung des 27. Senats des Landessozialgerichts für das Land
Brandenburg vom 31.Januar 2005 wurde die Sach- und Rechtslage erörtert.
Insbesondere wurde den Beteiligten Einsicht gegeben in Aufsätze von O. Blome „Die
erste Verordnung zur Änderung der Berufskrankheitenverordnung 2002“, in Die BG
2003, 22 ff., Rolf Magun „Drucklähmungen der Nerven“ im Handbuch der gesamten
Arbeitsmedizin, herausgegeben von E. Bader.
Der Rechtsstreit wurde vertagt. Der Kläger nahm schriftsätzlich Stellung zu den
Erörterungen in der mündlichen Verhandlung und übersandte eine Stellungnahme von
Dr. Z vom 14. März 2005. Insbesondere vertrat er die Auffassung, dass die
Drucklähmung im Sinne der BK 2106 nicht nur als vollständige Lähmung zu verstehen
sei und in der Praxis auch nicht so interpretiert worden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der vorliegenden Gerichts- und
Verwaltungsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die zulässige und im Übrigen statthafte Berufung der Beklagten ist begründet.
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig. Der Kläger hat keinen
Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung für die geltend
gemachte BK. Die Klage war daher abzuweisen und das angefochtene Urteil
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gemachte BK. Die Klage war daher abzuweisen und das angefochtene Urteil
entsprechend aufzuheben.
Die geltend gemachte Gesundheitsstörung ist nicht als BK und auch nicht als Folge einer
BK zu beurteilen und rechtfertigt schon aus diesem Grunde keinen Rentenanspruch.
Der Anspruch des Klägers richtet sich noch nach den bis zum 31. Dezember 1996
geltenden Vorschriften der RVO und der BKV, da die von ihm als BK geltend gemachte
Gesundheitsstörung vor dem In-Kraft-Treten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch, SGB
VII, am 01. Januar 1997 - nämlich im Jahr 1994 - eingetreten ist (Art. 36 des
Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 214 SGB VII).
Damit scheidet eine Beurteilung der Erkrankung nach dem im Beitrittsgebiet geltenden
Recht aus. Denn für die nach dem 31. Dezember 1991 eingetretenen Arbeitsunfälle und
Berufskrankheiten gelten die Vorschriften des Beitrittsgebiets nicht, § 1150 RVO.
Der Anspruch auf Gewährung einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung setzt -
wie im vorliegenden Fall des Fehlens eines Stützrententatbestandes - voraus, dass
infolge eines Versicherungsfalls die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten um wenigstens
20 v. H. gemindert ist, § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch, SGB VII, § 581
Abs. 1 Nr. 2 Reichsversicherungsordnung, RVO, wobei als Versicherungsfall Arbeitsunfälle
und Berufskrankheiten gelten, § 7 Abs. 1 SGB VII, 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO, § 551 Abs. 1
Satz 1 RVO.
BKen sind nach § 551 Abs. 1 Satz 2 RVO die Krankheiten, welche die Bundesregierung
durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein
Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten
erleidet. Nach der Nr. 2106 der Anlage zur BKV in der Fassung der Verordnung zur
Änderung der BKV (BKV-ÄndV) vom 05. September 2002 gehört zu den BKen auch die
„Druckschädigung der Nerven“. Die bis dahin geltende Nr. 2106 der Anlage zur BKV
erfasste „Drucklähmungen der Nerven“.
In der aktuellen Fassung findet die Nr. 2106 für den Kläger keine Anwendung, da die
streitgegenständliche Krankheit bereits im Jahr 1994 eingetreten ist. Die aktuelle
Fassung findet erst Anwendung auf Versicherungsfälle, die nach dem 30.November 1997
eingetreten sind, Art. 1 Nr. 2 BKV -ÄndV.
Die beim Kläger vorliegende Gesundheitsstörung lässt sich schon deshalb nicht als BK
beurteilen, weil weder eine Drucklähmung noch eine Druckschädigung der Nerven als
Ausgangserkrankung im Jahr 1994 und damit die Grundlage der heutigen Störung der
Mundmuskulatur nicht zweifelsfrei feststeht.
Daher wäre selbst dann die Klage nicht begründet, wenn der Senat entsprechend dem
Sprachgebrauch von Dr. M die Begriffe der Druckschädigung und der Drucklähmung
synonym gebrauchte.
Die für die Anerkennung einer BK nach Nr. 2106 erforderliche Druckschädigung ist nach
dem Gesamtergebnis des Verfahrens, § 128 Sozialgerichtsgesetz, SGG, bereits nicht
zweifelsfrei zur Überzeugung des Senats nachgewiesen worden.
Nach dem Ergebnis der letzten gutachterlichen Untersuchung des Klägers durch Dr. M
liegt lediglich eine feinmotorische Störung in der zum Blasen eingesetzten
Mundmuskulatur vor. Soweit Dr. M meint, dies sei eine Folge einer Druckschädigung der
Gesichtsnerven nach einer Läsion , ist bereits die (Druck)-Schädigung eines Nerven nicht
zweifelsfrei festgestellt worden.
Den Beurteilungen von Dr. M und Dr. Z, dass eine Druckschädigung der peripheren Äste
des N. facialis mit der daraus sich ergebenden feinmotorischen Störung vorgelegen
habe, steht entgegen die Auffassung von Prof. Dr. A, der in seiner Stellungnahme vom
21. Juli 2000 darauf verweist, dass eine Druckschädigung sensibler Nervenäste allenfalls
eine Möglichkeit sei, die zu keinem Zeitpunkt eindeutige klinische Symptome
geschweige denn objektive elektroneurografische Befunde ergeben habe. Auch aus dem
Gutachten von Dr. M(Stellungnahme vom 21. Januar 2005) folgt, dass ein zweifelsfreier
Nachweis einer Druckschädigung nicht erbracht ist. Dr. M hat seinerseits die Beurteilung
abgegeben, dass ein beweisender pathologischer Befund nicht zu erheben sei. Im
Einzelnen hat er ausgeführt, dass die im Gutachten beschriebenen
neurophysiologischen Befunde, die auf Fremduntersuchungen basierten, nur
Hinweischarakter hätten. Pathognomonische Befunde für eine Drucklähmung eines
Nervens gebe es nicht. Die Diagnose einer Drucklähmung/Druckschädigung (Dr. M
verwendet diese Begriffe synonym) ergebe sich grundsätzlich aus der Synopse der
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verwendet diese Begriffe synonym) ergebe sich grundsätzlich aus der Synopse der
Vorgeschichte und des klinischen Befundes. Wenn in der Vorgeschichte ein permanenter
Druck auf einen peripheren Nerven nachweisbar sei, sich damit auch ein eindeutiger
Lokalisationsbezug zwischen dem Druck als schädigende Noxe und dem betreffenden
Nerv ergebe, und andere Nerven nicht betroffen seien, so resultiere daraus die
Berechtigung, diese Schädigung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf
den ausgeübten Druck zu beziehen. Aus rein wissenschaftlicher Betrachtungsweise
blieben natürlich Zweifel, weil ein beweisender pathognomonischer Befund nicht zu
erheben sei.
Damit werden die im Gutachten von Prof. Dr. A begründeten Zweifel am Nachweis einer
Druckschädigung auch von Dr. M gestützt.
Der Senat erachtet im Rahmen der individuellen Beurteilung des Einzelfalls
objektivierbare und reproduzierbare neurologische und neurophysiologische Parameter
für unerlässlich (vgl. auch BR Drucksache 382/02).
Die Erkrankung des Klägers ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Fassung der Nr.
2106 „Drucklähmung der Nerven“ zu beurteilen.
Dies folgt bereits aus den vorangegangenen Ausführungen zum Nachweis der im Jahr
1994 eingetretenen Erkrankung.
Daher kann der Senat dahingestellt sein lassen, ob die als BK bezeichnete
Drucklähmung der Nerven nur vollständige Lähmungen erfasste. Schon die Subsumtion
der Erkrankung des Klägers unter die Bezeichnung der Druckschädigung ist nicht
zweifelsfrei möglich. Noch weniger lässt sich eine Drucklähmung zweifelsfrei feststellen.
Aus keinem der vorliegenden Gutachten ergibt sich der zweifelsfreie Nachweis einer
Drucklähmung der Nerven des Klägers. Dr. M beschreibt eine Läsion der Nervenäste,
dass es nur zu einer Lähmung - vorübergehend - in den motorischen Einheiten
beschädigter Myofibrillen gekommen sei. Dr. A bejaht eine Lähmung ebenfalls nicht.
Unerheblich ist die Auffassung von Dr. Z, aus keinem Gutachten oder Stellungnahmen
von Dr. A ergebe sich zwingend, dass beim Kläger keine Drucklähmung vorgelegen
habe. Denn der Kläger hat den zweifelsfreien Nachweis einer Drucklähmung zu
erbringen.
Nach allem wäre auch die Beurteilung der Erkrankung unter dem Gesichtspunkt einer
fokalen Dystonie - die ebenso wenig zweifelsfrei nachgewiesen ist und von der Prof. Dr. A
ausgeht - nicht geeignet, die Erkrankung als BK zu bewerten. Diese ist nach der
wissenschaftlichen Begründung des ärztlichen Sachverständigenbeirats erfasst von der
BK 2106 „Druckschädigung der Nerven“ und unterliegt damit der Rückwirkungsklausel.
Die Beurteilung der BK unter dem Gesichtspunkt einer „Quasi-BK“ nach § 551 II RVO
kommt infolge der Rückwirkungsklausel ebenfalls nicht in Betracht. Danach sollen die
Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der BKV
bezeichnet ist, oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK
entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551
I RVO erfüllt sind.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG schließt die Rückwirkungsvorschrift der BKV-
ÄndV auch aus, für alte Versicherungsfälle außerhalb des vorgeschriebenen
Rückwirkungszeitraums noch eine Entschädigung nach § 551 II RVO zuzusprechen (BSGE
75, 51 ff. BSGE 72, 303). Das Bundesverfassungsgericht bestätigte eine Entscheidung
des BSG vom 19. Januar 1995 - 2 RU 14/94, die die Stichtagsregelung in Art. 2 II der 2.
VO zur Änderung der BKV vom 18. Dezember 1992 betraf, die die Rückwirkung der
Neuaufnahme von Wirbelsäulenerkrankungen auf Versicherungsfälle beschränkt, die
nach dem 31. März 1988 eingetreten sind. Das BSG führte hier die o. g. Entscheidungen
fort (vgl. BVerfG - 1 BvR 791/95 in SozR 3-2200 § 551 RVO).
Selbst wenn die Erkrankung des Klägers als BK beurteilt und selbst wenn davon
ausgegangen würde, dass die feinmotorische Störung in der zum Blasen eingesetzten
Mundmuskulatur mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wesentlich ursächlich
zurückzuführen wäre auf eine BK, folgte hieraus keine MdE in rentenberechtigendem
Grade ab Januar 1996 und begründete keinen Rentenanspruch des Klägers.
Dr. M hat dargelegt, dass ausschließlich eine feinmotorische Störung in der zum Blasen
eingesetzten Mundmuskulatur besteht ohne jegliche Störungen sonstiger Art,
insbesondere ohne Auswirkungen auf das Sprachverhalten. Auch bei der spontanen
Sprache zeigten sich im fokalen Bereich keine Auffälligkeiten. Diese Umstände
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Sprache zeigten sich im fokalen Bereich keine Auffälligkeiten. Diese Umstände
berücksichtigend lässt sich die MdE nicht mit 20 v.H. beurteilen.
Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des
körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten
Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens. Dabei ist die vor dem
Versicherungsfall bestehende individuelle Erwerbsfähigkeit mit 100 v. H. einzusetzen und
die Einbuße an der individuellen Erwerbsfähigkeit durch den Versicherungsfall in einem
bestimmten Prozentsatz davon auszudrücken (ständige Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts, BSGE 43, 208 f.). Maßgebend ist diejenige Erwerbsfähigkeit, die
dem Verletzten nach den konkreten Umständen des Einzelfalls und unter
Berücksichtigung eines Vorschadens verblieben ist (BSG a.a.O.). Die individuellen
Funktionseinbußen bei dem jeweiligen Versicherten sind maßgebend (BSG SozR 2200 §
581 Nr. 22). Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen
Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in ärztlicher
Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Bei der Bewertung der MdE sind auch die
von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen und
versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen
Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend sind, aber Grundlage
für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen
Praxis bilden und einem ständigen Wandel unterliegen (BSG SozR 2200 § 581 Nrn. 23,
27). Die herausgearbeiteten „Erfahrungssätze“ drücken den Umstand der verlorenen
Erwerbsfähigkeit auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens aus. Allerdings lässt sich die
MdE in aller Regel nicht mathematisch-exakt festlegen, sondern sie lässt sich nur
annähernd bestimmen. Der Bewertung der MdE ist eine gewisse Schwankungsbreite
eigentümlich.
Die im versicherungsmedizinischen Schrifttum ausgearbeiteten allgemeinen
Erfahrungssätze für die MdE sehen selbst für eine Facialisparese bei einseitig und
kosmetisch wenig störender Restparese eine MdE um 10 v. H. vor( Rauschelbach, Das
neurologische Gutachten, 2 Auflage, S. 46, und Schönberger-Mehrtens-Valentin, 6.
Auflage S. 285). Weitere Orientierungswerte sind gegeben für die
Gesichtsnervenlähmung einseitig, kosmetisch wenig störend, 10 v.H., für einen
Lippendefekt mit Speichelfluss 10 v.H. (Schönberger-Mehrtens-Valentin, Arbeitsunfall
und BK, 7. Auflage, S. 342, ebenso Mehrhoff und Muhr, Unfallbegutachtung, 10. Auflage,
S. 130).
Nach allem ist angemessen die Beurteilung von Prof. Dr. Altenmüller, der ab 01. Januar
1996 die MdE mit unter 10 v. H. beurteilt .
Selbst eine Erhöhung der MdE unter dem Gesichtspunkt des § 581 Abs. 2 RVO bzw. § 56
Abs. 2 Satz 2 SGB VII führte nicht zur MdE um 20 v. H.
Bei der Bemessung der MdE sind Nachteile zu berücksichtigen, die der Verletzte
dadurch erleidet, dass er bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche
Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in
vermindertem Umfang nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren
Nutzung ihm zugemutet werden kann, ausgeglichen werden (§ 581 Abs. 2 RVO, § 56
Abs. 2 Satz 2 SGB VII). Diese unfallversicherungsrechtliche Regelung, bei der regelmäßig
Erhöhungen von 10 bis 20 v. H. in Betracht kommen (BSGE 70, 47, 51), lässt keine
allgemeine Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit - etwa
entsprechend den Grundsätzen des § 30 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) - zu.
Eine allgemeine Berücksichtigung des „besonderen beruflichen Betroffenseins“ würde in
der gesetzlichen Unfallversicherung regelmäßig zu einer doppelten Berücksichtigung des
Berufs führen (BSGE 70, 47, 48). Selbst wenn der Verletzte seinen erlernten Beruf
infolge des Arbeitsunfalls nicht mehr ausüben könnte, müsste dies nicht zwangsläufig
zur Erhöhung der MdE führen (BSGE 39, 31, 32). Auch dass erst bei einer Erhöhung der
MdE nach § 581 Abs. 2 RVO ein Rentenanspruch begründet werden kann, stellt für sich
noch keine derartige unbillige Härte dar (BSGE SozR 2200 § 581 Nr. 18).
Die eine Höherbewertung der MdE rechtfertigenden Nachteile liegen im Rahmen des §
581 Abs. 2 RVO bzw. § 56 Abs. 2 Satz 2 SGB VII dann vor, wenn unter Wahrung des in
der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Grundsatzes der abstrakten
Schadensberechnung, der durch § 581 Abs. 2 RVO nicht eingeschränkt wird (BSGE 23,
253, 254), die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der
MdE im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde (ständige Rechtsprechung seit
BSGE 23, 253, 255).
Als wesentliche Merkmale für die Beurteilung der Frage, ob eine höhere Bewertung der
MdE zur Vermeidung unbilliger Härten gerechtfertigt ist, hat das BSG vielmehr das
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MdE zur Vermeidung unbilliger Härten gerechtfertigt ist, hat das BSG vielmehr das
besondere Alter des Verletzten (BSGE 4, 294, 299), die Dauer der Ausbildung (BSG SozR
Nr. 10 des § 581 RVO) sowie vor allem die Dauer der Ausübung der speziellen
beruflichen Tätigkeit (BSGE 4, 294, 298) und auch den Umstand bezeichnet, dass die
bisher verrichtete Tätigkeit eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistete (BSG
SozR Nrn. 10 und 12 zu § 581 RVO). Aus diesen Merkmalen und den außerdem zu
beachtenden sonstigen besonderen Umständen des Einzelfalls kann sich eine höhere
Bewertung der MdE nach § 581 Abs. 2 RVO ergeben, wenn der Verletzte die ihm
verbliebenen Kenntnisse und Fähigkeiten nur noch unter Inkaufnahme eines
unzumutbaren sozialen Abstiegs auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens verwerten
kann (BSGE 70, 47, 49). Die einzelnen Umstände des jeweiligen Falls sind dabei nicht
isoliert, sondern in ihrer Gesamtheit zu beurteilen. Eine allgemeine Regel, wie dies jeweils
mit welchem Ergebnis zu geschehen hat, lässt sich hierfür nicht aufstellen. Verfügt der
Verletzte indes über sonstige Fähigkeiten, die geeignet sind, die unfallbedingt nicht mehr
oder nicht mehr in vollem Umfang nutzbaren besonderen beruflichen Kenntnisse und
Erfahrungen auszugleichen, kommt eine Erhöhung der MdE nicht in Betracht, sofern
dem Verletzten die Nutzung dieser Fähigkeiten zugemutet werden kann; dies schließt
die zumutbare Aneignung solcher Fähigkeiten durch eine Umschulung ein (zu allem
BSGE SozR 3-2200 § 581 Nr. 6). Da - wie bereits dargelegt - der Grundsatz der
abstrakten Schadensbemessung durch § 581 Abs. 2 RVO bzw. § 56 Abs. 2 Satz 2 SGB
VII nicht eingeschränkt wird, was schon daran deutlich wird, dass auch hier nur eine
angemessene Erhöhung der MdE, nicht jedoch ein rechnerischer Ausgleich des
tatsächlichen - konkreten - Schadens erfolgen kann, können auch die individuellen
Verhältnisse, die nicht die abstrakte Erwerbsfähigkeit, sondern die konkrete
Einkommenssituation des Verletzten betreffen, nicht zur Erhöhung der MdE im Rahmen
des § 581 Abs. 2 RVO bzw. § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII führen. Dies gilt insbesondere auch
für die Erlangung eines - den durch die Umschulung erworbenen Fähigkeiten
angepassten - Arbeitsplatzes (SozR 3-2200 § 581 Nr. 6, Nr. 7). So verbleibt es auch
unter Anwendung des § 581 Abs. 2 Satz 2 RVO bzw. § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII dabei,
dass die in Form einer Verletztenrente zu gewährende Entschädigung nicht den
tatsächlichen Minderverdienst ausgleichen soll, sondern nach dem Unterschied der auf
dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bestehenden Erwerbsmöglichkeiten des
Verletzten vor und nach dem Arbeitsunfall zu bemessen sind (SozR 3-2200 § 581 RVO
Nr. 6 m.w.N.).
Selbst wenn der Senat unter Zugrundelegung der o. g. Maßstäbe eine unbillige Härte
insoweit annähme, als der Kläger seine besonderen Erfahrungen und Kenntnisse
anlässlich seiner Stellung als erster Trompeter nicht mehr ausüben kann, und selbst
wenn hierdurch ein sozialer Abstieg angenommen würde, ergebe eine Erhöhung der MdE
lediglich eine solche um 20 v.H.
Auch eine höhere Bewertung der MdE im Rahmen des § 581 Abs. 2 RVO setzt nach der
ständigen Rechtsprechung des BSG voraus, dass sich die Verletzung, die sich der
Versicherte durch den Versicherungsfall zuzog, speziell auf die Fähigkeit zum Erwerb auf
dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens auswirkt (BSGE 23, 253, 255, BSGE 39, 31, 33).
Dies ist beim Kläger jedoch nach sämtlichen Gutachten nicht der Fall. Die Auswirkungen
der streitgegenständlichen Gesundheitsstörungen wirken sich auf seine Fähigkeit zum
Erwerb auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens nicht wesentlich aus. Er kann lediglich
keine Blasinstrumente spielen. Die Einschränkung dieser Tätigkeit in Bezug auf seine
Erwerbsfähigkeit auf dem maßgebenden Gesamtgebiet des Erwerbslebens nicht so
erheblich, dass damit eine Bewertung der MdE mit 20 v. H. angemessen wäre. Dies gilt
auch hinsichtlich eines damit verbundenen Minderverdienstes, somit dem Kläger die
Zulagen für die Stimmführerzulage, Solo zu blasen, ebenso verlustig gegangen sind wie
höherer Verdienst. Von daher kann dahinstehen, ob der Kläger über sonstige
Fähigkeiten verfügt, die geeignet sind, die gesundheitsbedingt nicht mehr in vollem
Umfang nutzbaren Fertigkeiten und besonderen beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen
auszugleichen.
Nach allem war die Berufung begründet und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und
entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1
und 2 SGG) nicht vorliegen.
Sonstiger Langtext
Rechtsmittelbelehrung und Erläuterungen zur Prozesskostenhilfe
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I. Rechtsmittelbelehrung
Dieses Urteil kann nur dann mit der Revision angefochten werden, wenn sie nachträglich
vom Bundessozialgericht zugelassen wird. Zu diesem Zweck kann die Nichtzulassung
der Revision durch das Landessozialgericht mit der Beschwerde angefochten werden.
Die Beschwerde ist von einem bei dem Bundessozialgericht zugelassenen
Prozessbevollmächtigten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich
beim Bundessozialgericht, Postfach 41 02 20, 34114 Kassel Graf-Bernadotte-Platz 5,
34119 Kassel, einzulegen. Die Beschwerdeschrift muss bis zum Ablauf der Monatsfrist
bei dem Bundessozialgericht eingegangen sein.
Als Prozessbevollmächtigte sind nur zugelassen
- die Mitglieder und Angestellten von Gewerkschaften, von selbständigen Vereinigungen
von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung, von Vereinigungen
von Arbeitgebern, von berufsständischen Vereinigungen der Landwirtschaft und von
Vereinigungen, deren satzungsgemäße Aufgaben die gemeinschaftliche
Interessenvertretung, die Beratung und Vertretung der Leistungsempfänger nach dem
sozialen Entschädigungsrecht oder der behinderten Menschen wesentlich umfassen und
die unter Berücksichtigung von Art und Umfang ihrer bisherigen Tätigkeit sowie ihres
Mitgliederkreises die Gewähr für eine sachkundige Erfüllung dieser Aufgaben bieten und
die kraft Satzung oder Vollmacht zur Prozessvertretung befugt sind,
- Bevollmächtigte, die als Angestellte juristischer Personen, deren Anteile sämtlich im
wirtschaftlichen Eigentum einer der vorgenannten Organisationen stehen, handeln, wenn
die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung der
Mitglieder der Organisation entsprechend deren Satzung durchführt und wenn die
Vereinigung für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet,
- jeder bei einem deutschen Gericht zugelassene Rechtsanwalt.
Behörden, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts sowie private
Pflegeversicherungsunternehmen brauchen sich nicht durch einen
Prozessbevollmächtigten vertreten zu lassen.
Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils schriftlich zu
begründen.
In der Begründung muss
- die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder
- die Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten
Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts von der das Urteil
abweicht, oder
- ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann,
bezeichnet werden. Als Verfahrensmangel kann eine Verletzung der §§ 109 und 128 I
Satz 1 Sozialgerichtsgesetz nicht und eine Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz
nur gerügt werden, soweit das Landessozialgericht einem Beweisantrag ohne
hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
II. Erläuterungen zur Prozesskostenhilfe
Für die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision kann ein Beteiligter, der nicht
schon durch einen Bevollmächtigten aus dem Kreis der oben genannten Gewerkschaften
oder Vereinigungen vertreten ist, Prozesskostenhilfe zum Zwecke der Beiordnung eines
Rechtsanwalts beantragen.
Der Beteiligte kann die Prozesskostenhilfe selbst beantragen. Der Antrag ist beim
Bundessozialgericht entweder schriftlich einzureichen oder mündlich vor dessen
Geschäftsstelle zu Protokoll zu erklären.
Dem Antrag sind eine Erklärung des Beteiligten über seine persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse (Familienverhältnisse, Beruf, Vermögen, Einkommen und
Lasten) sowie entsprechende Belege beizufügen. Hierzu ist der für die Abgabe der
Erklärung vorgeschriebene Vordruck zu benutzen. Der Vordruck kann von allen
Gerichten oder durch den Schreibwarenhandel bezogen werden.
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Wird Prozesskostenhilfe bereits für die Einlegung der Beschwerde begehrt, so müssen
der Antrag und die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse -
gegebenenfalls nebst entsprechenden Belegen - bis zum Ablauf der Frist für die
Einlegung der Beschwerde (ein Monat nach Zustellung des Urteils) beim
Bundessozialgericht eingegangen sein.
Mit dem Antrag auf Prozesskostenhilfe kann ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt
benannt werden.
Ist dem Beteiligten Prozesskostenhilfe bewilligt worden und macht er von seinem Recht,
einen Anwalt zu wählen, keinen Gebrauch, wird auf seinen Antrag der beizuordnende
Rechtsanwalt vom Bundessozialgericht ausgewählt.
Der Beschwerdeschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die
übrigen
Beteiligten beigefügt werden.
Das Bundessozialgericht bittet darüber hinaus um je zwei weitere Abschriften.
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