Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 28.09.2006

LSG Berlin und Brandenburg: wohnung, heizung, zusicherung, umzug, unterkunftskosten, angemessenheit, obliegenheit, behörde, haushalt, vermieter

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 28.09.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 92 AS 3724/06 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 14 B 733/06 AS ER
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 18. Juli 2006 aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig bis zum
Eintritt der Bestandskraft des Bescheids vom 14. März 2006 in der Fassung des Bescheids vom 3. Mai 2005 und in
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. September 2006 bzw. bis zum Abschluss eines sich anschließenden
Rechtsstreits Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 268 Euro monatlich ab Mai 2006 zu erbringen. Die
Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die ihm entstandenen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe:
Der Antragsteller begehrt im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die Übernahme der Kosten der von ihm bewohnten
Unterkunft und Heizung in voller Höhe.
Der 1984 geborene Antragsteller lebte bis Ende 2005 mit seiner Mutter (die ebenfalls Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitsuchende bezieht) in einer 55 qm großen 2-Raum-Wohnung. Zum 1. Januar 2006 mietete er eine 35 qm
große 1-Raum-Wohnung zu einem monatlichen Mietzins von 199 Euro zzgl. Vorauszahlungen für "kalte
Betriebskosten" sowie Heizung und Warmwasserversorgung in Höhe von jeweils 39 Euro ("Brutto-Warmmiete"
insgesamt 277 Euro). Die Wohnung wurde dem Antragsteller bereits im Dezember 2005 übergeben.
Auf seinen am 6. Februar 2006 gestellten Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bewilligte die
Antragsgegnerin dem Antragsteller Leistungen für die Zeit vom 1. März bis 31. August 2006 in Höhe von monatlich
345 Euro. Seine Mietkosten könnten nicht als Bedarf anerkannt werden, weil der Umzug nicht erforderlich und somit
nicht genehmigt gewesen sei.
Gegen diese Entscheidung legte der Antragsteller am 29. oder 30. März 2006 Widerspruch ein; außerdem hat er am
26. April 2006 beim Sozialgericht Berlin beantragt, die Antragsgegnerin durch eine einstweilige Anordnung zu
verpflichten, Mietkosten in voller Höhe zu gewähren. Es sei ihm nicht zuzumuten, weiter mit seiner Mutter und deren
Lebensgefährten ("die mal wieder nachts um 2 Uhr betrunken aus der Kneipe (kämen) und noch ein bisschen Musik
im Wohnzimmer hören (wollten)" in einer Wohnung mit nur zwei Zimmern und 30 qm Wohnfläche zu leben. Er habe
deshalb fünf Monate bei seiner Freundin oder bei Geschwistern übernachtet und allenfalls zweimal im Monat bei
seiner Mutter auf der Luftmatratze. Als er es nicht mehr ausgehalten habe, habe er sich eine kleine, günstige
Wohnung gesucht.
Die Antragsgegnerin hat mit Bescheid vom 3. Mai 2006 ihren Bescheid vom 14. März 2006 geändert und dem
Antragsteller Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 128,91 Euro monatlich (in Höhe der ihm – vermutlich
anteilig – gewährten Leistungen für die frühere Unterkunft und Heizung) bewilligt. Im übrigen könnten
Unterkunftskosten nicht anerkannt werden, da der Antragsteller ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners
umgezogen sei.
Das Sozialgericht hat den Antrag durch Beschluss vom 18. Juli 2006 abgelehnt. Dem Antragsteller, der eigenmächtig
ohne Zustimmung der Antragsgegnerin eine eigene Wohnung gemietet habe, sei es zuzumuten, diese Wohnung
wieder aufzugeben und in die seiner Mutter zurückzukehren.
Mit seiner am 23. August 2006 eingelegten Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, verfolgt der
Antragsteller sein Begehren weiter. Er führt unter Hinweis auf eine Anmeldebestätigung vom 15. Juli 2005 aus, dass
der Lebensgefährte seiner Mutter in deren Wohnung gezogen sei. Mit seiner Mutter gebe bzw. habe es nur Streitereien
gegeben; sie sei nicht gewillt, ihn wieder aufzunehmen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11. September 2006 hat die Antragsgegnerin den Widerspruch des Antragstellers
zurückgewiesen, soweit sie ihm nicht durch den Änderungsbescheid vom 3. Mai 2005 abgeholfen hatte. Die
Angemessenheit der Unterkunftskosten richte sich nach den Gegebenheiten des Einzelfalls. Grundsätzlich müsse der
Hilfebedürftige eine Erhöhung seiner Unterkunftskosten vermeiden. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass nach
§ 22 Abs. 2 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) der erwerbsfähige Hilfebedürftige vor Abschluss
eines Vertrages über eine neue Unterkunft die Zusicherung des Leistungsträgers zu den Aufwendungen für die neue
Wohnung einholen solle, wobei der Leistungsträger nur zur Erteilung der Zusicherung verpflichtet sei, wenn der Umzug
erforderlich sei und die Aufwendungen für die neue Unterkunft angemessen seien. Diese Vorschrift bliebe wirkungslos,
wenn es der Hilfebedürftige in der Hand hätte, die Allgemeinheit ohne Zustimmung der Behörde durch Anmietung einer
teureren neuen Wohnung zu höheren Leistungen zu verpflichten. Deshalb könne ein dadurch entstehender höherer
Bedarf für Unterkunft und Heizung nur unter den Voraussetzungen des § 22 Abs. 2 SGB II als angemessen
angesehen werden. Dies habe insbesondere zur Folge, dass die Behörde grundsätzlich keine höheren Kosten tragen
müsse, wenn der Hilfebedürftige vor Abschluss des neuen Mietvertrages keine Zusicherung einhole oder die
Zusicherung vorher rechtskräftig abgelehnt worden sei.
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Die statthafte (§ 172 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) und auch im übrigen zulässige (§ 173 SGG) Beschwerde
erweist sich als begründet.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller Leistungen für Unterkunft und Heizung in der sich aus der Beschlussformel
ergebenden Höhe zu erbringen. Diese Verpflichtung ergibt sich aus § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II, wonach Leistungen für
Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht werden, soweit diese angemessen sind.
Dem Antragsteller entstehen für die von ihm genutzte Wohnung Aufwendungen in Höhe von 277 Euro ("brutto warm").
Diese sind auch angemessen.
Mangels einer näheren Regelung durch eine Rechtsverordnung (vgl. § 27 Nr. 1 SGB II) greift der Senat zur näheren
Bestimmung dessen, was als "angemessene Aufwendungen" i.S.d. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anzusehen sind,
zunächst auf die vom hier zuständigen kommunalen Träger erlassenen Ausführungsvorschriften zur Ermittlung
angemessener Kosten der Wohnung gem. § 22 SGB II der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und
Verbraucherschutz vom 7. Juni 2005 (AV Wohnen) zurück, die zwar das Gericht in keiner Weise binden, aber
erkennen lassen, was der kommunale Träger für "angemessen" hält, und dafür auch dem Gericht als Hinweis dienen
können. Diese Ausführungsvorschriften sehen in Nr. 4 Abs. 2 als Richtwert (nicht etwa "Höchstwert", wie die
Antragsgegnerin zu meinen scheint) für angemessene Brutto-Warmmieten für einen 1-Personen-Haushalt 360 Euro
vor. Diesen Wert unterschreiten die vom Antragsteller zu leistenden Aufwendungen deutlich.
Diese Aufwendungen sind auch nicht etwa deshalb unangemessen, weil der Antragsteller vorher mit seiner Mutter in
einer Wohnung lebte und dafür nur geringere Aufwendungen hatte. Aus dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs
ergibt sich keine allgemeine Verpflichtung oder auch nur Obliegenheit eines volljährigen bzw. – ab 1. April 2006 – über
25 Jahre alten Hilfebedürftigen, in einer Haushalts- oder Wohngemeinschaft mit anderen Menschen wohnen zu
bleiben. "(Die Übernahme der Unterkunftskosten (dient) der Befriedigung eines menschlichen Grundbedürfnisses, des
Wohnens. Sie bildet einen Eckpfeiler für die Erreichung des übergeordneten Hilfeziels, der Loslösung aus dem
Leistungsbezug. Dieses menschliche Grundbedürfnis ist nicht auf die schlichte Beseitigung der Obdachlosigkeit als
solche beschränkt, sondern beinhaltet grundsätzlich auch die Möglichkeit, sich in einem abgeschlossenen, von
Einflüssen Dritter freien Bereich aufzuhalten." (LSG Hamburg, Beschluss vom 25.August 2005 – L 5 B 201/05 ER AS
– unter Hinweis auf die Hamburger "Fachlichen Vorgaben zu § 22 II – Leistungen für Unterkunft und Heizung" vom 15.
Oktober 2004). Hier kommen die vom Antragsteller geschilderten und von der Antragsgegnerin nicht bezweifelten
Verhältnisse in der Wohnung der Mutter hinzu, insbesondere der Umstand, dass dort außer der Mutter auch deren
Lebensgefährte wohnt und dem Antragsteller kein eigenes Zimmer zur Verfügung steht. Diese Gegebenheiten dürften
eine Überwindung der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers zumindest nachhaltig erschwert haben.
Dies scheint die Antragsgegnerin offensichtlich nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen, die offenbar meint,
aufgrund der Regelung in § 22 Abs. 2 SGB II, wonach der erwerbsfähige Hilfebedürftige vor Abschluss eines
Vertrages über eine neue Unterkunft die Zusicherung des kommunalen Trägers zu den Aufwendungen für die neue
Unterkunft einholen soll, "Vormund" des Hilfebedürftigen zu sein. Sie verkennt, dass die den Hilfebedürftigen treffende
Obliegenheit (lediglich) dazu dient, ihm vor dem Umzug "Klarheit über die Angemessenheit der Aufwendungen für die
neue Unterkunft zu verschaffen und so Streitigkeiten über die Angemessenheit vorzubeugen. Nach erfolgtem Umzug
wirkt ein Verstoß gegen die Obliegenheit nicht auf die Übernahme der angemessenen Kosten" (Berlit, in: Münder
[Hrsg.], Sozialgesetzbuch II [2005], § 22 Rdnr. 53); es ist deshalb letztlich auch ohne Belang, dass der kommunale
Träger (durch das JobCenter Neukölln) die vom Antragsteller zuvor beantragte Zusicherung durch Bescheid vom 21.
November 2005 bestandskräftig abgelehnt hat. Demgegenüber ist für Wohnungsbeschaffungskosten sowie
Mietkautionen und Umzugskosten die vorherige Zusicherung des kommunalen Trägers (echte)
Leistungsvoraussetzung (§ 22 Abs. 2 SGB II); solche Aufwendungen sind hier allerdings nicht im Streit.
Die mit Wirkung ab 1. April 2006 durch das Gesetz zur Änderung des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch und anderer
Gesetze vom 24. März 2006 (BGBl. I S. 558) eingefügte Regelung, wonach Personen, die bei einem Umzug das 25.
Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Leistungen für die Zeit danach nur erbracht werden, wenn der kommunale
Träger dies vor Abschluss des Vertrags über die neue Unterkunft zugesichert hat (§ 22 Abs. 2a Satz 1 SGB II), gilt
für den Antragsteller, der am 17. Februar 2006 nicht mehr zum Haushalt der Mutter gehörte, nicht (§ 68 Abs. 2 SGB
II); darauf stützt sich die Antragsgegnerin auch nicht (mehr).
Inwieweit bei der näheren Bestimmung des Begriffes der Angemessenheit auch in der Person des Hilfebedürftigen
liegende Gründe – wie etwa das Alter und der Familienstand – zu berücksichtigen sind, bedarf hier keiner
abschließenden Entscheidung. Die vom Antragsteller gemietete Wohnung hat jedenfalls eine angemessene Größe (1
Zimmer, 35 qm) und liegt – nach dem Berliner Mietspiegel – in einer "mittleren" Wohnlage; die vereinbarte Miete
("Nettokaltmiete") dürfte zwar geringfügig über dem im Berliner Mietspiegel ausgewiesenen Mittelwert liegen, jedoch
hat dieser Wert unmittelbar nur Bedeutung für Mieterhöhungsverlangen nach § 558 des Bürgerlichen Gesetzbuchs
(BGB), nicht aber beim Abschluss eines neuen Mietvertrags. Im übrigen sind auch dem Vorbringen der
Antragsgegnerin keine Hinweise zu entnehmen, dass und aus welchen Gründen sonst die Aufwendungen für
Unterkunft und Heizung unangemessen sein sollten; der Senat sieht deshalb keine Veranlassung, dem im
vorliegenden Verfahren weiter nachzugehen.
Im Hinblick darauf, dass der Antragsteller Vorauszahlungen für Warmwasser zu leisten hat und die Aufwendungen für
die Warmwasserzubereitung schon durch die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 20 SGB II
gedeckt sind, sind die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung entsprechend um eine "Warmwasserpauschale" in
Höhe von 9 Euro zu vermindern, so dass die Antragsgegnerin dem Antragsteller 268 Euro monatlich für die Zeit nach
der Stellung des Antrags beim Sozialgericht am 26. April 2006, d.h. ab Mai 2006 zu erbringen hat.
Der Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass die Vermieter das Mietverhältnis bereits gekündigt haben und dem
Antragsteller danach der Verlust seiner Wohnung droht. Im übrigen hat jeder erwerbsfähige Hilfebedürftige Anspruch
darauf, dass ihm die ihm von Gesetzes wegen zustehenden Leistungen so rechtzeitig erbracht werden, dass er in der
Lage ist, seine vertraglichen Verpflichtungen, insbesondere gegenüber dem Vermieter von Wohnraum, rechtzeitig zu
erfüllen. Das Risiko einer Kündigung von Wohnraum oder eines Prozesses wegen verspäteter Zahlung des Mietzinses
(mit der damit verbundenen Kostenfolge) ist ihm in aller Regel nicht zuzumuten.
Der Senat weist beide Beteiligte ausdrücklich darauf hin, dass diese einstweilige Anordnung nur eine vorläufige
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile trifft (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Eine endgültige Entscheidung ist
im Hauptsacheverfahren zu treffen, sofern der Antragsteller nach Zurückweisung seines Widerspruchs durch den
Widerspruchsbescheid vom 11. September 2006 rechtzeitig innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des
Widerspruchsbescheids Klage erheben sollte. Sollte der Antragsteller hingegen keine Klage erheben, würde die
Entscheidung in dem Bescheid vom 14. März 2006 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 3. Mai 2006
bestandskräftig und endgültig; aufgrund dieser einstweiligen Anordnung erbrachte Leistungen hätte der Antragsteller
dann zu erstatten.
Die Entscheidung über die Kostenerstattung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).