Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 31.07.2007

LSG Berlin-Brandenburg: diabetes mellitus, recht auf arbeit, recht auf bildung, behinderung, adipositas, konvention, pause, krankenkasse, fremder, verordnung

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
13. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 13 SB 235/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 69 SGB 9, § 6 Abs 1 Nr t StVG,
§ 3 Abs 1 Nr 1 SchwbAwV, Art 20
UNBehRÜbk
Merkzeichen aG auch bei Mitverursachung der
außergewöhnlichen Gehbehinderung durch erhebliches
Übergewicht
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Juli 2007
geändert. Der Bescheid des Beklagten vom 1. Dezember 2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 23. März 2004 in der Fassung des Bescheides vom 1.
März 2007 wird geändert. Der Beklagte wird verpflichtet, für die Klägerin die
gesundheitlichen Merkmale der außergewöhnlichen Geh-behinderung (Merkzeichen aG)
und für das Merkzeichen T mit Wirkung vom 3. Dezember 2009 festzustellen.
Der Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu drei
Fünfteln zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale der
außergewöhnlichen Gehbehinderung (aG) und für das Merkzeichen T bei schwerer
Hüftgelenksarthrose, weiteren psychischen, orthopädischen und internistischen Leiden
und einer Adipositas permagna.
Der 1942 geborenen Klägerin wurde 1997 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf
Dauer zuerkannt. Mit Bescheid des Beklagten vom 5. März 1998 wurden der Grad der
Behinderung der Klägerin mit einem Betrag von 70 und das Vorliegen der
gesundheitlichen Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung (Merkzeichen G)
festgestellt. Die Klägerin benutzt etwa seit Mitte 2000 einen Rollator. Sie beantragte im
August 2003 die Neufeststellung wegen Verschlimmerung bestehender Behinderungen
und Hinzutretens neuer Behinderungen. Der Beklagte holte den Befundbericht der
behandelnden Orthopäden, der behandelnden Nervenärztin und des behandelnden
Internisten sowie eine gutachterliche Stellungnahme des praktischen Arztes B ein. Er
lehnte mit Bescheid vom 1. Dezember 2003 eine Neufeststellung ab. Die
gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen RF, aG und T seien nicht erfüllt.
Ihren Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass sich ihr Gesundheitszustand seit
März 1998 wesentlich verschlimmert habe und, weil sie nicht mehr Treppen steigen
könne, in eine andere Wohnung umgezogen sei. Sie habe große Probleme, einen
Parkplatz in der Nähe zum Hauseingang zu finden und warte teilweise stundenlang, bis
ein Parkplatz frei werde. Nach Verlassen des Autos auf dem Weg zum Hauseingang
müsse sie sich auf den vor dem Haus stehenden Betonklötzen zum Ausruhen setzen.
Die Möglichkeit, den Telebus zu nutzen, habe sie als große Erleichterung empfunden.
Ärzte, die nur über Treppen zu erreichen gewesen seien, habe sie wechseln müssen. Zur
Begründung ihres Widerspruchs reichte die Klägerin das Attest ihrer behandelnden
Orthopäden (Dr. T und Dr. Dr. Z) vom 14. Dezember 2003 ein. Diese unterstützten den
Widerspruch der Patienten bezüglich der Merkzeichen aG und T.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. März 2004
zurück; aus Gründen der Vollständigkeit und Klarheit wurden die
Funktionsbeeinträchtigungen neu bezeichnet. Die Voraussetzungen, unter denen die
begehrten Merkzeichen aG und T festgestellt werden könnten, lägen bei der Klägerin
nicht vor. Während des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Berlin reichte die Klägerin
verschiedene Atteste ihrer behandelnden Ärzte, den Bescheid ihrer Krankenkasse vom
23. Juni 2004 über die Kostenübernahme für die Fahrtkosten zur ambulanten
Behandlung und die Kostenübernahme für einen Rollator vom 14. Januar 2005 ein. Das
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Behandlung und die Kostenübernahme für einen Rollator vom 14. Januar 2005 ein. Das
Sozialgericht holte Befundberichte bei der behandelnden Nervenärztin Dr. P vom 1. März
2006, bei den behandelnden Orthopäden vom 24. Februar 2006, bei der behandelnden
Urologin W vom 23. Februar 2006 und vom Hausarzt der Klägerin, dem Facharzt für
Allgemeinmedizin S, vom 3. Mai 2006 ein. Mit Bescheid der zuständigen Pflegekasse
vom 21. Februar 2006 aufgrund der Begutachtung vom 14. Februar 2006 wurde der
Klägerin Pflegegeld für die Pflegestufe I ab 1. Dezember 2005 bewilligt. Der Beklagte
veranlasste die sozialmedizinische Begutachtung durch Dr. W vom 30. Januar 2007.
Daraufhin erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 1. März 2007 einen GdB von 90 ab
August 2003 an und stellte die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen B
und G fest. Es wurden folgende Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt (dabei folgte
der Beklagte der sozialmedizinischen Gutachterin; die Beträge in den Klammern geben
die jeweiligen Einzel-GdB nach dem Gutachten an):
Mit Urteil vom 31. Juli 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Von den
unstreitig bei der Klägerin anerkannten Behinderungen würden sich auf die Gehfähigkeit
letztlich nur die Behinderungen zu b) und c) auswirken. Nach den Ausführungen der
Gutachterin sei es der Klägerin möglich, mit Hilfsmitteln durchaus noch mehr Schritte zu
laufen und auch Treppenstufen zu steigen als das dem für die Berechtigung ausdrücklich
genannten Personenkreis, welchem die Klägerin gleichgestellt werden wolle, in der Regel
objektiv und zumutbar möglich sei. Die von der Klägerin empfundenen großen
Schmerzen und Beschwerden bei der Fortbewegung seien in ganz erheblichem Umfang
nicht behinderungsbedingt, sondern auf das starke Übergewicht der Klägerin
zurückzuführen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG seien deshalb nicht
erfüllt. Weil der Klägerin das Merkzeichen aG nicht zustehe und ein mobilitätsbedingter
Grad der Behinderung von mindestens 80 nach den vorliegenden medizinischen
Unterlagen nicht erkennbar sei, seien auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen T
nicht erfüllt. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF erfülle die Klägerin nur
insoweit, als ihr ein GdB von mindestens 80 zustehe. Die Klägerin sei jedoch objektiv
nicht ständig von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen behinderungsbedingt
ausgeschlossen. Die Kammer folge insoweit der engen Auslegung des BSG.
Die Klägerin verfolgt ihr Begehren mit ihrer Berufung weiter. Sie hat verschiedene
Atteste ihrer behandelnden Ärzte vorgelegt. Ihr wurde durch ihre Krankenkasse am 12.
Oktober 2007 ein Faltrollstuhl bewilligt. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung
vorgetragen, sie könne inzwischen nur noch etwa drei bis fünf Meter gehen und brauche
dann eine Pause wegen der Anstrengung und der Schmerzen. Auch Stehen sei ihr nur
noch für max. 2,5 bis 3 Minuten möglich. In ihrer Wohnung stehe deshalb im Flur ein
Drehsessel, auf dem sie sich ausruhe, wenn sie sich in der Wohnung bewege. Wenn sie
stürze, könne sie sich nicht mehr allein aufrichten.
Die Beteiligten haben in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend den Rechtsstreit
für die Zeiträume vor dem 3. Dezember 2009 sowie hinsichtlich des Merkzeichens RF für
erledigt erklärt.
Die Klägerin beantragt nunmehr,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Juli 2007 und den Bescheid des
Beklagten vom 1. Dezember 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.
März 2004 in der Fassung des Bescheides vom 1. März 2007 zu ändern,
den Beklagte zu verpflichten, für die Klägerin die gesundheitlichen Merkmale der
außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen aG) und für das Merkzeichen T mit
Wirkung vom 3. Dezember 2009 festzustellen.
Der Beklagte hält das Urteil für zutreffend und beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat den Befundbericht der behandelnden Orthopäden vom 19. August 2007
eingeholt.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren
Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach-
und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die
Verwaltungsakten des Beklagten.
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Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin für das nunmehr noch anhängige Klagebegehren hat Erfolg.
Die Klägerin ist außergewöhnlich gehbehindert und erfüllt die Voraussetzungen für die
Inanspruchnahme des Fahrdienstes nach der Telebus-Verordnung.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung der Voraussetzungen für das
Merkzeichen aG ist § 69 Abs 4 SGB IX. Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben
einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die
Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu
diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung iS des § 6 Abs. 1 Nr.
14 StVG oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den
Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1
Schwerbehindertenausweisverordnung). Ausgangspunkt für die Feststellung der
außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs 1 Nr. 11 VwV-StVO
(neu bekannt gemacht am 26.01.2001, BAnz 2001, Nr. 21, S 1419, zuletzt geändert am
2009-07-17, BAnz Nr. 110, S 2598) und D 3b Anlage zur Versorgungsmedizinverordnung
(VersMedV). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert iS des § 6 Abs 1 Nr. 14 StVG,
wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit
großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen
Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte,
Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig
Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder
nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder
armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher
Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis
gleichzustellen sind (D 3b Anl-VersMedV).
Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem
Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen körperlichen
Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch
mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 1/06 R, RdNr
17 f m w N). Schwierigkeiten bereitet hierbei der Vergleichsmaßstab, weil die
verschiedenen, im 1. Halbsatz aufgezählten Gruppen in ihrer Wegefähigkeit nicht
homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppen - bei gutem gesundheitlichem
Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer
Versorgung - ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten
erreichen können (BSG ebd m w N). Auf die individuelle prothetische Versorgung der
aufgeführten Behindertengruppen kann es aber grundsätzlich nicht ankommen. Denn es
liegt auf der Hand, dass solche Besonderheiten angesichts des mit der Zuerkennung
von aG bezweckten Nachteilsausgleiches nicht als Maßstab für die Bestimmung der
Gleichstellung herangezogen werden können. Vielmehr muss sich dieser strikt an dem
der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz orientieren; dies ist § 6 Abs 1 Nr.
14 StVG (BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 1/06 R, RdNr 17 m w N). Dabei ist zu
berücksichtigen, dass Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden
sollte, denen es unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen (vgl BT-Drucks
8/3150, S 9 f in der Begründung zu § 6 StVG). Wegen der begrenzten städtebaulichen
Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu
stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSG aaO RdNr 17 m w N). Nach
D 3c Anl-VersMedV erfolgt eine Gleichstellung insbesondere dann, wenn ein Rollstuhl
nicht nur verordnet wurde, sondern der Betroffen auch ständig auf ihn angewiesen ist,
weil er sich sonst nur mit fremder Hilfe oder unter großer Anstrengung fortbewegen
kann.
Für die Gleichstellung ist bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Wie
der 9. BSG-Senat bereits in seinem Urteil vom 10. Dezember 2002 (B 9 SB 7/01 R)
ausgeführt hat, lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder
quantifizieren noch qualifizieren. Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in
Metern ausgedrückte Wegstrecke taugen grundsätzlich dazu. Denn die maßgeblichen
straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke
ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch
bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich
ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung (BSG, Urteil vom
29.03.2007, B 9a SB 1/06 R, RdNr 18). Wer diese Voraussetzung praktisch von den
ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an erfüllt, qualifiziert sich für den
entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese
Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Auch soweit die o g großen körperlichen
Anstrengungen festzustellen sind, kann nicht allein auf eine gegriffene Größe wie die
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Anstrengungen festzustellen sind, kann nicht allein auf eine gegriffene Größe wie die
schmerzfrei zurückgelegte Wegstrecke abgestellt werden (BSG ebd RdNr 19).
Unabhängig von der Schwierigkeit, eine solche Wegstrecke objektiv, fehlerfrei und
verwertbar festzustellen, ist die Tatsache, dass ein Betroffener nach einer bestimmten
Strecke eine Pause machen muss, lediglich Indiz für eine Erschöpfung. Für die
Zuerkennung des Merkzeichens aG reichen jedoch nicht irgendwelche
Erschöpfungszustände aus. Sie müssen in ihrer Intensität vielmehr gleichwertig mit den
Erschöpfungszuständen sein, die Schwerbehinderte der in D 3b Anl-VersMedV einzeln
aufgeführten Gruppen erleiden. Gradmesser hierfür kann die Intensität des Schmerzes
bzw der Luftnot nach dem Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke sein (BSG ebd
RdNr 19). Ein solches Erschöpfungsbild lässt sich u a aus der Dauer der erforderlichen
Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der Schwerbehinderte nach der
Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren - auch auf Großparkplätzen - mit
anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf
den von den Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar (BSG ebd).
Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch
nicht wegen der Methode nahe, mit der die medizinischen Voraussetzungen des
Merkzeichens G festgestellt werden. Denn für das Merkzeichen aG gelten gegenüber G
nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG aaO RdNr. 21). Ebenso wenig
lässt sich ein allein maßgebliches Wegstrecken-Zeit-Kriterium aus dem
straßenverkehrsrechtlichen Zweck des Merkzeichens aG herleiten (BSG ebd RdNr 22).
Abgesehen davon, dass es keine empirischen Untersuchungen zur durchschnittlichen
Entfernung zwischen gesondert ausgewiesenen Behindertenparkplätzen und den
Eingängen zu Einrichtungen des sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens
gibt, greift die alleinige Ausrichtung auf Behindertenparkplätze (Zusatzzeichen 1020-11,
1044-10, 1044-11 StVO) zu kurz. Denn daneben werden nach Abschnitt I Nr. 1 zu § 46
Abs 1 Nr. 11 VwV-StVO weitere umfangreiche Parkerleichterungen, wie z.B. die
Ausnahme vom eingeschränkten Halteverbot, gewährt (BSG aaO RdNr. 22). Das BSG
hat allerdings geklärt, dass in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß
eingeschränkte schwerbehinderte Menschen sich beim Gehen regelmäßig körperlich
besonders anstrengen müssen und dass die für aG geforderte große körperliche
Anstrengung dann gegeben sein dürfte, wenn die festgestellte Wegstreckenlimitierung
auf 30 m darauf beruht, dass der Betroffene bereits nach dieser kurzen Wegstrecke
erschöpft ist und er neue Kräfte sammeln muss, bevor er weitergehen kann (BSG, Urteil
vom 29.03.2007, B 9a SB 1/06 R, RdNr 24 m w N). Das BSG geht für den Fall, dass der
Betroffene sich nur langsam und selbst mit Hilfe des Rollators nur über maximal 30 m
am Stück fortbewegen kann und danach eine Pause einlegen muss, wobei er sich auf
den Rollator setzt, und wenn darüber hinaus beim Gehen Schmerzen und
Unsicherheiten auftreten, davon aus, dass der Betroffene in seiner Gehfähigkeit in
ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist (BSG, Urteil vom 29.03.2007, B 9a SB 1/06
R, RdNr 24). Dass die Einschätzung der Gehfähigkeit überwiegend auf den subjektiven
Angaben des Betroffenen beruht, braucht keinen Verfahrensfehler darzustellen.
Allerdings ist sodann weiter zu klären, ob der Betroffene sich nur unter ebenso großen
körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann wie die in D 3b Anl-VersMedV genannten
Personen.
Das BSG hat überdies inzwischen geklärt, dass ein erhebliches Übergewicht nicht zu den
Faktoren gehört, die keinen Bezug zu einer Behinderung haben und daher bei der
Beurteilung des Gehvermögens unberücksichtigt bleiben (BSG, Urteil vom 24.04.2008, B
9/9a SB 7/06 R, RdNr 14) Die funktionellen Auswirkungen einer Adipositas permagna sind
nicht nur bei Einschätzung eines aus anderen Gesundheitsstörungen folgenden GdB
(erhöhend) zu berücksichtigen, sondern auch insoweit, als sie zu einer Einbuße der
Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen (BSG ebd m w N). Dieser zum
Merkzeichen G ergangenen Rechtsprechung ist auch für das besondere gesundheitliche
Merkmal der außergewöhnlichen Gehbehinderung zu folgen. Dies folgt aus dem
funktionenorientierten Charakter der Anerkennung der Behinderungen und der
Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche, d h die Feststellungen haben sich nicht an
den Ursachen sondern an den Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft zu orientieren (vgl zum GdB: BSG, Urteil vom 30. September 2009, B 9 SB
4/08 R RdNr 30, sog „finale“ Betrachtung).
Insofern ist durch das Inkrafttreten des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom
13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Konvention-
RMBeh – BGBl II 2008 Nr. 35, S 1419 ff) am 26. März 2009 (BGBl II vom 23.07.2009, Nr.
25, S 812) keine Änderung eingetreten. Danach zählen zu den Menschen mit
Behinderungen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder
Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen
Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft
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Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft
hindern können (Art 1 Satz 2 UN-Konvention-RMBeh). Auch danach kommt es auf die
Ursachen der Beeinträchtigungen nicht an. Vielmehr ist die Behinderung von der
ausdrücklichen Zielstellung der Konvention her zu bestimmen, der vollen, wirksamen
und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft aller Menschen unter
Gewährleistung eines würdevollen Lebens, ohne dass hierbei eine langfristige
gesundheitliche Beeinträchtigung einen Unterschied machen darf. Welche Bereiche als
besonders teilhaberelevant anzusehen sind, gibt die UN-Konvention-RMBeh selbst vor.
Dazu gehören u.a. die Zugänglichkeit (Art 9), das Recht auf körperliche und seelische
Unversehrtheit (Art 17) und auf Gesundheit (Art 25), Recht auf Bildung (Art 24),
Freizügigkeit (Art 18), die unabhängige Lebensführung (Art 19), die persönliche Mobilität
(Art 20), die Meinungsäußerung und der Zugang zu Informationen (Art 21) und das
Recht auf Arbeit und Beschäftigung (Art 27). Als jüngeres unmittelbar geltendes
Bundesrecht zwingt die UN-Konvention-RMBeh mit ihrem Normprogramm ihre Maßstäbe
der Auslegung von §§ 2 und 69 SGB IX auf. Weil nicht vom gesundheitlichen Defizit
sondern von der Teilhabeförderung her zu denken ist, können die Folgen einer Adipositas
für die Teilhabe nicht dazu führen, dass ein behinderungsrechtlicher Status versagt
bleibt. Gerade bei erheblichen Mobilitätseinbußen (Art. 20 UN-Konvention-RMBeh) infolge
einer Adipositas permagna können sowohl der Behindertenstatus wie auch
behinderungsrechtlich vorgesehene Nachteilsausgleiche nicht damit abgelehnt werden,
die Teilhabebeeinträchtigung resultiere aus einer Fettleibigkeit. Eine unterschiedliche
Behandlung allein nach der Ursache einer Teilhabebeeinträchtigung wird durch die
Konvention ausgeschlossen (Diskriminierungsverbot Art 5 Abs 1, 2). Damit wird indes
der bisherige Ansatz der Rechtsprechung und des Verordnungsgebers rechtlich
untermauert, dass die Folgen einer Adipositas permagna behinderungsrechtlich von
Bedeutung sind (vgl. auch B 15.3 Anl-VersMedV). Auch die UN-Konvention-RMBeh
erwartet das Leistungen zur gesundheitlichen Förderung (Art 25) und Rehabilitation (Art
26) frühest möglich einsetzen. Dies soll allerdings vorhandene Nachteilsausgleiche bei
bestehenden Behinderungen nicht ausschließen.
Die Klägerin ist aufgrund der Schwere ihrer Leiden in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich
hohem Maß eingeschränkt. Bei ihr bestehen eine schwere beidseitige
Hüftgelenksarthrose (links stärker) bei beginnendem Kniegelenksverschleiß bds und
Fußfehlform, Fehlform der Wirbelsäule mit degenerativen Veränderungen und
Reizerscheinungen und Osteoporose, eine Funktionsbehinderung der Schultergelenke
(links mehr als rechts) und eine Adipositas permagna. Die psychische Behinderung der
Klägerin ist wesentlich für die Fettleibigkeit. Daneben bestehen Polyarthrosen der
Fingergelenke, Heberden-Bouchard-Arthrose, chronische Gastritis und Nierensteine,
Blasenschwäche und ein Diabetes melittus. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten
von Dr. W vom 30. Januar 2007. Die sozialmedizinische Gutachterin der Beklagten hält
die Beschwerden der Klägerin für nachvollziehbar. Die von ihr festgestellten
Bewegungseinschränkungen der Hüftgelenke entsprächen den von den behandelnden
Orthopäden vermerkten und zeigten eine gegenüber der Vorbegutachtung von 1998
deutlich stärkere Einschränkung. Dies gelte ebenso für die Kniegelenke. Die
Beschwerden lägen vorrangig in den haltenden Bänder-Muskeln, die fettdurchsetzt
seien. Die Kraft der Muskeln reiche daher nicht, die Körperlast – insbesondere beim
Treppensteigen – anzuheben, zumal die arthrotisch veränderten Gelenke schmerzen
würden. Diese Schwäche gelte auch für die Haltemuskulatur der Wirbelsäule. Diese
Feststellungen der Gutachterin sind unstreitig. Die Gutachterin bestätigt in der Sache
sowohl die ärztliche Bewertung durch die behandelnden Orthopäden, wie auch die
Angaben der Klägerin selbst.
Allerdings hat die Gutachterin die Bedeutung der Adipositas permagna für die
Behinderung und den daraufhin vorzunehmenden Nachteilsausgleichen verkannt. Das
Zusammenwirken der sonstigen orthopädischen Behinderungen und der schweren
Adipositas, welche wesentlich durch die psychische Erkrankung der Klägerin bedingt ist,
müssen bei der Feststellung der Behinderung und dem dadurch veranlassten
Nachteilsausgleich berücksichtigt werden. Auch die Gutachterin des Beklagten hält die
von der Klägerin geschilderten Beschwerden für nachvollziehbar. Sie stellt im Übrigen
auch die über die bloße Gewichtsbelastung der Adipositas permagna bei der
Fortbewegung hinausgehenden Auswirkungen auch auf das Gewebe des Halte- und
Muskelapparates dar. Der Senat geht deshalb mit den behandelnden und von der
Gutachterin letztlich bestätigten behandelnden Orthopäden davon aus, dass die Klägerin
nur unter Zuhilfenahme von Hilfsmitteln lediglich sehr kurze Strecken kleinschrittig
zurücklegen kann (max. 20 m - Attest vom 17.05.2005 und Befundbericht vom
24.02.2006). Die Hausärztin bestätigt mit ihrem Attest vom 19. November 2007 den
Befund und verweist auch im Hinblick auf die diabetische Polyneuropathie und massive
Lymphödeme auf den unsicheren und schleppenden Gang sowie auf die Sturzgefahr. Die
Schwere des Leidens der Klägerin ist angesichts dieser weitgehend übereinstimmenden
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Schwere des Leidens der Klägerin ist angesichts dieser weitgehend übereinstimmenden
Befunde belegt. Auch die aktuellen Angaben der Klägerin erscheinen vor dem
Hintergrund ihrer früheren, gutachterlich und ärztlich bestätigten Angaben glaubhaft.
Weitere Ermittlungen waren nicht veranlasst.
Die Klägerin muss sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen, weil ihr
das Gehen selbst sehr schwer fällt und sie bereits nach einer sehr kurzen Wegstrecke
von wenigen (jedenfalls max. 20 m) erschöpft ist und neue Kräfte sammeln muss, bevor
sie weitergehen kann. Die beim Gehen schon nach wenigen Schritten eintretende
Erschöpfung ist gleichwertig mit den Erschöpfungszuständen, die Schwerbehinderte der
in D 3b Anl-VersMedV einzeln aufgeführten Gruppen erleiden. Dies folgt aus der
besonderen physischen Belastung ebenso wie aus den besonderen, arthrotisch
bedingten Schmerzen der für das Gehen wesentlichen Hüft- und Kniegelenke. Wegen der
Schulterbeschwerden kann die Klägerin dies nicht hinreichend durch die Verwendung von
Unterarmstützen kompensieren, schon das Stehen fällt ihr schwer. Dieser Zustand
besteht bei der Klägerin schon seit längerem (vgl Bewilligung der Fahrkosten zur
ambulanten Behandlung durch die Krankenkasse).
Bei der Klägerin sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens T
erfüllt. Voraussetzung für das Merkzeichen T ist nach § 1 Abs 1 Satz 2 der Verordnung
über die Vorhaltung eines besonderen Fahrdienstes (BerlFahrdienstVO), dass das
Merkzeichen aG, ein mobilitätsbedingter Grad der Behinderung von mindestens 80 und
Fähigkeitsstörungen beim Treppensteigen gegenüber dem Versorgungsamt
nachgewiesen werden. Berechtigt nach Maßgabe des § 3 (befristete Berechtigung bis
zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens) sind außerdem Personen, die erstmalig
beim Versorgungsamt das Merkzeichen T beantragen und dem Antrag eine
Bescheinigung beifügen, aus der hervorgeht, dass eine Krankenkasse oder ein anderer
Leistungsträger aufgrund einer ärztlichen Verordnung die Kosten für einen Rollstuhl oder
für einen Rollator übernommen hat (§ 1 Abs. 2 BerlFahrdienstVO). Aus dem Vorliegen
der Voraussetzungen der außergewöhnlichen Gehbehinderung folgt auch das Vorliegen
der ersten der drei Voraussetzungen des Merkzeichens „T“. Unter Berücksichtigung der
schweren beidseitigen Hüftgelenksarthrose bei beginnendem Kniegelenksverschleiß bds
und Fußfehlform (Einzel-GdB 60), Fehlform der Wirbelsäule mit degenerativen
Veränderungen und Reizerscheinungen und Osteoporose (Einzel-GdB 30), der
Funktionsbehinderung der Schultergelenke (links mehr als rechts), des Diabetes mellitus
mit Sensibilitätsstörungen in den unteren Extremitäten und der Adipositas permagna
ergibt sich ein mobilitätsbedingter GdB von 80. Es besteht auch eine Fähigkeitsstörung
beim Treppensteigen, wie die Gutachterin der Beklagten gezeigt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den anteiligen Erfolg
der Rechtsverfolgung. Der Senat hat für die erledigten Streitgegenstände die
ursprünglichen Erfolgsaussichten berücksichtigt.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs 2 SGG).
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