Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 02.02.2006

LSG Berlin und Brandenburg: wohnung, aufenthalt, obhut, heizung, zivilprozessordnung, freiheit, entlassung, haft, leistungsausschluss, begriff

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 02.02.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 94 AS 9350/05 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 14 B 1307/05 AS ER
Die Beschwerde der Antragsgegnerin wird als unzulässig verworfen, soweit sie Zeiträume vor Erlass dieser
Entscheidung betrifft. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin
die ihr entstandenen Kosten des Verfahrens zu erstatten. Der Antrag der Antragstellerin, ihr Prozesskostenhilfe zu
bewilligen und die Rechtsanwältin D B beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe:
Die Beschwerde ist als unzulässig zu verwerfen, soweit sie zurückliegende Zeiträume betrifft (§ 572 Abs. 2 der
Zivilprozessordnung [ZPO] i.V.m. § 202 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]); insoweit fehlt das erforderliche
Rechtsschutzinteresse der Antragsgegnerin.
Diese ist – wenn auch nur unvollkommen, denn sie hat entgegen der Anordnung des Sozialgerichts, der
Antragstellerin monatlich vorläufig 340 EUR zu zahlen, nur 324,30 EUR monatlich erbracht – der Anordnung des
Sozialgerichts nachgekommen. Damit hat sich diese (einstweilige) Anordnung insoweit erledigt. Die Antragsgegnerin
hat kein schützenswertes Interesse an ihrer Aufhebung. Ihr geht es lediglich darum, den ausgezahlten Betrag
zurückzuerhalten und festgestellt zu wissen, dass sie – endgültig – nicht zur Gewährung dieser – teilweise ohnehin
nur als Darlehen gewährten – Leistung verpflichtet ist. Dafür steht das gerichtliche Eilverfahren nicht zur Verfügung.
Eine einstweilige Anordnung ist stets nur ein Rechtsgrund für das vorläufige Behaltendürfen einer daraufhin erbrachten
Leistung. Ob dem von der einstweiligen Anordnung Begünstigten diese Leistung endgültig zusteht, ist gegebenenfalls
im Hauptsacheverfahren zu klären (so bereits Beschluss des Senats vom 4. November 2005 – L 14 B 1147/05 AS ER
– im Anschluss an den Beschluss des Thüringischen OVG vom 17. Juli 1997 – 2 ZEO 356/97 –, FEVS 48 [1998],
129 [130]; ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6. Dezember 2005 – L 10 B 1144/05 AS ER –; vgl. auch
OVG Berlin, Beschluss vom 15. September 1997 – 2 SN 11/97 –, NVwZ 1998, 85).
Im Übrigen – soweit in der Zukunft liegende Zeiträume betroffen sind – ist die Beschwerde unbegründet. Der
Antragstellerin sind jedenfalls vorläufig weiterhin Leistungen in der vom Sozialgericht angeordneten Höhe zu erbringen.
Die Antragstellerin hat das 15., jedoch noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet, ist erwerbsfähig und hat ihren
gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs
[SGB II]). Sie ist auch hilfebedürftig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II), da sie ihren Lebensunterhalt und ihre
Eingliederung in Arbeit nicht ausreichend mit eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht aus dem zu
berücksichtigenden Arbeitseinkommen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere nicht
von Angehörigen oder Trägern anderer Sozialleistungen erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II).
Nach den im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren vorgelegten Lohnabrechnungen für die Monate Juli bis November
2005 hat sie in diesen fünf Monaten insgesamt ein Einkommen aus abhängiger Beschäftigung (nach Abzug der
Beitragsanteile zur Sozialversicherung; Steuern wurden nicht entrichtet) in Höhe von insgesamt 2.491,73 EUR (netto)
erzielt. Es ist danach zu erwarten, dass sie auch in den nächsten Monaten ein durchschnittliches Einkommen von
ungefähr 500 EUR (netto) monatlich erzielen wird. Davon sind die Ausgaben für eine Monatskarte in Höhe von 67 EUR
monatlich (§ 11 Abs. 2 Nr. 5 SGB II) sowie ein Freibetrag nach § 30 SGB II (§ 11 Abs. 2 Nr. 6 SGB II) in Höhe von 90
EUR abzusetzen. Danach verbleibt ein zu berücksichtigendes Einkommen in Höhe von ungefähr 343 EUR monatlich.
Mit diesen, die Regelleistung nach § 20 Abs. 2 SGB II unterschreitenden Mitteln kann die Antragstellerin ihren
Lebensunterhalt nicht sichern, insbesondere davon nicht neben dem Haftkostenbeitrag (§ 50 des
Strafvollzugsgesetzes [StVollzG]) und den Aufwendungen für Ernährung, Körperpflege und die übrigen in § 20 Abs. 1
Satz 1 SGB II genannten Bedarfe die Kosten für Unterkunft und Heizung tragen.
Der Antragstellerin entstehen auch Kosten für Unterkunft und Heizung. Sie hat eine Wohnung, die sie – ungeachtet
dessen, dass sie noch eine Freiheitsstrafe verbüßt – auch tatsächlich täglich und insbesondere an den Wochenenden
nutzt. Denn sie darf außerhalb der Justizvollzugsanstalt regelmäßig einer Beschäftigung ohne Aufsicht eines
Vollzugsbediensteten nachgehen (Freigang; § 11 Abs. 1 Nr. 1 2. Alternative StVollzG); darüber hinaus wird ihr zur
Vorbereitung der Entlassung Sonderurlaub gewährt (§ 15 Abs. 4 StVollzG).
Es ist auch nicht unangemessen oder sonst zu beanstanden, dass sie ihre Wohnung beibehält und die
Vollzugsanstalt nur aufsucht, soweit dies aufgrund des Strafvollzuges vorgeschrieben ist. Soweit sie nicht zum
Aufenthalt in der Vollzugsanstalt verpflichtet ist, hat auch die Antragstellerin das (Grund-)Recht, ihr Leben in Freiheit
zu verbringen und muss sich nicht darauf verweisen lassen, sich "freiwillig" in Haft zu begeben. Dies schließt das
Recht ein, eine Wohnung zu besitzen, um sich dort aufzuhalten.
Die Aufwendungen für die Unterkunft übersteigen auch nicht den im Land Berlin allgemein anerkannten
angemessenen Umfang (was zwischen den Beteiligten auch zu Recht nicht streitig ist).
Die Antragstellerin erhält diese Leistungen auch nicht von anderen, insbesondere nicht vom Träger der
Vollzugsanstalt; das Strafvollzugsgesetz sieht solche Leistungen nicht vor.
Die Erbringung dieser Leistungen ist schließlich nicht aufgrund des § 7 Abs. 4 SGB II ausgeschlossen, wonach
Leistungen nicht erhält, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Der Begriff
der "stationären Einrichtung" ist im SGB II nicht bestimmt. Ob danach auf die Begriffsbestimmung in § 13 Abs. 1
Satz 2 des Zwölften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XII – "Stationäre Einrichtungen sind Einrichtungen, in denen
Leistungsberechtigte leben und die erforderlichen Hilfen erhalten.") zurückzugreifen ist (so Schleswig-Holsteinisches
LSG, Beschluss vom 14. November 2005 – L 9 B 260/05 SO ER – ), erscheint wegen der unterschiedlichen
Regelungsziele und Kreise der Leistungsempfänger zweifelhaft; im Übrigen ist diese Begriffsbestimmung nicht
unbedingt hilfreich. Immerhin erhellt aus § 13 Abs. 1 SGB XII, dass "stationäre" Einrichtungen von "teilstationären" zu
unterscheiden sind. Dies spricht dafür, als "stationäre" Einrichtungen nur solche anzusehen, in denen sich Personen
mehr oder weniger "rund um die Uhr" in Obhut befinden. Es ist danach durchaus daran zu denken, dass auch
Strafvollzugsanstalten als stationäre Einrichtungen im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II zu betrachten sind (so Spellbrink,
in: Eicher/Spellbrink, SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende – [2005], § 7 Rdnr. 34). Dies kann freilich dann
nicht gelten, wenn dem Gefangenen Vollzugslockerungen in Gestalt des Freigangs gewährt werden und er sich
dementsprechend nicht umfassend in der Obhut der Einrichtung befindet, die unter diesen Umständen nicht als
"stationäre", sondern lediglich als "teilstationäre Einrichtung" anzusehen ist.
Letztlich beruht der für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebrachte Personen durch § 7
Abs. 4 SGB II angeordnete Leistungsausschluss auf der Fiktion, dass diese Personen nicht erwerbsfähig sind. Diese
Fiktion kann aber – wie gerade der vorliegenden Fall anschaulich zeigt – für Freigänger keine Geltung beanspruchen.
Denn die Antragstellerin ist nicht nur erwerbsfähig, sondern auch tatsächlich erwerbstätig.
Die vom Sozialgericht erlassene Anordnung erscheint auch zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig (§ 86 b Abs.
2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG] – Anordnungsgrund), da der Antragstellerin andernfalls der Verlust ihrer
Wohnung drohen würde; wegen Mietrückstandes wurde das Mietverhältnis bereits ein Mal fristlos gekündigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Der Antrag der Antragstellerin, ihr Prozesskostenhilfe zu bewilligen und ihr ihre Prozessbevollmächtigte beizuordnen,
ist abzulehnen, da die Antragstellerin aufgrund der Entscheidung über die Kostenerstattung im vorliegenden
(unanfechtbaren) Beschluss einen Kostenerstattungsanspruch gegen die Antragsgegnerin hat und aufgrund dessen in
der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aufzubringen (§ 114 der Zivilprozessordnung [ZPO] i. V. m. § 73 a Abs. 1
Satz 1 SGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).