Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 09.03.2011

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Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 09.03.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Cottbus S 10 KR 17/06
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 9 KR 152/08
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 26. Februar 2008 sowie der Bescheid
der Beklagten vom 28. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Februar 2006 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für eine Versorgung des Klägers mit einer Oberschenkelprothese
einschließlich C-Leg-Versorgungspaket zu übernehmen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers
für das ge-samte Verfahren zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Versorgung mit einer Oberschenkelprothese einschließlich mikroprozessorgesteuertem
Kniegelenk ("C-Leg").
Der im Jahre 1940 geborene Kläger ist seit Juli 2003 linksseitig oberschenkelampu-tiert. Er ist seitdem und bis heute
versorgt mit einer konventionellen Prothese (me-dipro®OP4; Einachskniegelenk mit hydraulischer
Schwungphasensteuerung; Neu-preis: 5.616,28 Euro). Am 29. September 2005 verordnete ihm der Facharzt für All-
gemeinmedizin H eine neu anzufertigende Oberschenkelprothese. Er reichte die Ver-ordnung sowie einen
Kostenvoranschlag des Sanitätshauses D vom 29. September 2005 bei der Beklagten ein. Letzterer bezog sich auf
die Herstellung einer Oberschen-kelprothese mit C-Leg-Versorgungspaket. Die alte Prothese sei verschlissen. Das C-
Leg mit elek¬tronisch gesteuertem Kniegelenk weise deutliche Gebrauchsvorteile ge-genüber der bisherigen,
mechanisch gesteuerten Prothese auf. Die Gesamtkosten für das C-Leg wurden auf 23.109,71 Euro beziffert.
Mit Bescheid vom 28. Oktober 2005 lehnte die Beklagte eine Versorgung des Klägers mit dem C-Leg ab. Die
bisherige Versorgung sei ausreichend. Soweit die bisherige Prothese nicht mehr passgerecht sei, könne sie
gegebenenfalls vom Leistungserbrin-ger neu angepasst werden. Die mit dem C-Leg begehrte Zweit- bzw.
Wechselversor-gung überschreite das Maß des Notwendigen.
Mit seinem hiergegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, die bisheri-ge Prothese sei verschlissen und
stelle seine Mobilität nicht mehr sicher. Er sei ein aktiver Mensch mit großem Garten und könne daher die
Gebrauchsvorteile des C-Leg auch nutzen. Diese bestünden in einer dauerhaften Standphasensicherung, der Be-
gehbarkeit schiefer Ebenen und unebenen Geländes, der Möglichkeit alternierenden Treppensteigens und
unterschiedlicher Gehgeschwindigkeiten sowie einer Schonung der Kräfte insgesamt durch höheren Tragekomfort. Auf
eine Instandsetzung der vor-handenen Prothese dürfe er nicht verwiesen werden.
Mit Bescheid vom 7. Februar 2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Mit seiner bisherigen Prothese sei der
Kläger ausreichend und zweckmäßig versorgt. Ge-gebenenfalls sei eine Änderung auf neue Körpermaße oder eine
Instandsetzung vor-zunehmen. Zudem sei auch ein C-Leg nicht ausdrücklich ärztlich verordnet, sondern nur eine
"Oberschenkelprothese" allgemein.
Mit der Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Seine Testversuche mit einem C-Leg hätten die erheblichen
Gebrauchsvorteile belegt. Schon jetzt entwickele sich mit der alten Prothese ein Trendelenburg-Hinken, das zu einer
vorzeitigen Coxarthro-se führen könne. Vor Ablehnung der Kostenübernahme hätte die Beklagte zumindest eine
medizinische Begutachtung vornehmen lassen müssen.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht des behandelnden Arztes H eingeholt so-wie den Chirurgen und
Sozialmediziner Dr. B mit der Erstellung eines Sachverständi-gengutachtens beauftragt, das dieser am 29. September
2006, ergänzt durch eine Stellungnahme vom 18. Mai 2007, erstattet hat. Der Sachverständige hat festgestellt, dass
die konventionelle Oberschenkelprothese in ihrer Funktion nicht beeinträchtigt und nicht verschlissen sei.
Ausarbeitung, Sitz und Funktion seien regelgerecht. In sei-nen Grundbedürfnissen sei der Kläger damit nicht
eingeschränkt. Er könne vollständig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Mit dem C-Leg könnten
Grundbedürfnisse nicht etwa besser befriedigt werden, selbst wenn das Laufen damit flüssiger sei und auch das
Radfahren möglich wäre.
Der Kläger ist dem entgegengetreten und hat auf die erheblichen Gebrauchsvorteile hingewiesen, die sich aus der
Nutzung einer mikroprozessorgesteuerten Prothese ergäben.
Das Sozialgericht Cottbus hat die Klage mit Urteil vom 26. Februar 2008 abgewiesen und zur Begründung im
Wesentlichen ausgeführt: Ein Anspruch auf Versorgung mit einem C-Leg bestehe nicht. Relevante Gebrauchsvorteile
bringe eine solche Versor-gung dem Kläger nicht. Die bisherige Versorgung mit einer konventionellen Prothese sei, in
Würdigung des von Dr. B erstellten Gutachtens, ausreichend; der Kläger sei in seinen Grundbedürfnissen und in
seiner Mobilität nicht wesentlich eingeschränkt.
Gegen das ihm am 25. März 2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 2. April 2008 Berufung eingelegt. Er vertieft
sein Vorbringen dahin gehend, dass ein C-Leg objektiv deutliche Gebrauchsvorteile mit sich bringe. Davon gehe auch
das Bundessozialge-richt in verschiedenen Urteilen aus (Hinweis u.a. auf das Urteil vom 10. März 2010, B 3 KR 1/09
R). Tatsächlich schränke ihn die gegenwärtige Versorgung in seiner Mo-bilität ein. Er fühle sich unsicher und hinke
beim Gehen. Bei der Gartenarbeit sei er bereits mehrfach weggeknickt und hingefallen. Bei der 14tägigen
Probeversorgung mit einem C-Leg sei dies anders gewesen. Das bessere Gleichgewicht entlaste seinen Rücken;
Treppen könne er leichter gehen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 26. Februar 2008 sowie den Be-scheid der Beklagten vom 28. Oktober
2005 in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 7. Februar 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
die Kosten für eine Versorgung mit einer Oberschenkelprothese einschließlich C-Leg-Versorgungspaket zu
übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Der Kläger unterliege – un-streitig – dem Mobilitätsgrad 2,
sei also "eingeschränkter Außenbereichsgeher". Hier sei eine C-Leg-Verordnung nur dann indiziert, wenn der
Amputierte auch in der Lage sei, die besonderen Möglichkeiten des Kniegelenks zu nutzen. Es stehe aber fest, dass
die derzeitige Versorgung weder zu einem Verlust an Mobilität noch zu vermin-derter Sicherheit führe. Man sei bereit,
dem Kläger eine neue, dem Stand der Technik entsprechende Prothese mit einem konventionellen Kniegelenk zu
bewilligen. Der Berichterstatter hat den Rechtsstreit mit den Beteiligten am 13. Mai 2009 erörtert und in diesem
Rahmen insbesondere darauf hingewiesen, dass bislang keine ver-tragsärztliche Verordnung für eine
Oberschenkelprothese mit C-Leg-Versorgungs¬paket vorliege.
Hierauf hat der Kläger eine vertragsärztliche Verordnung vom 25. Mai 2009 über eine C-Leg-Oberschenkelprothese zu
den Akten gereicht. Außerdem hat er ein Schreiben des Orthopädietechnikermeisters S (Sanitätshaus D) vom 29. Mai
2009 eingereicht, in dem konkrete Gebrauchsvorteile eines C-Leg für den Kläger beschrieben werden.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des
Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genom-men, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der
mündlichen Verhand-lung und der Entscheidungsfindung war.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger hat
gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Versorgung mit einer Oberschenkelprothese unter Einbeziehung des C-
Leg-Kniegelenksystems.
Nach § 33 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen,
Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmit-teln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der
Krankenbehandlung zu si-chern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszuglei-chen.
Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die
Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen
nicht über-schreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versi-cherte nicht
beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB
V).
Da mit der Oberschenkelprothese der Ausgleich der Behinderung erfolgen soll, indem die nicht vorhandenen
Gliedmaßen künstlich ersetzt werden, hat die Prüfung des An-spruchs anhand des § 33 Abs. 1 S. 1, dritte Alternative
SGB V zu erfolgen. Im Vorder-grund steht daher der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunk-
tion selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs
des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksich-tigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen
Fortschritts. Die ge-sonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt,
weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis
bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstel-lung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die
Versor-gung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt
werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausrei-chend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht
vollständig im Sinne des Gleich-ziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. Die Wirtschaftlichkeit ei-
nes dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätz-lich zu unterstellen und erst zu
prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber un-terschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen (vgl.
Bundesso¬zial¬gericht, Urteil vom 25. Juni 2009, B 3 KR 2/08 R. zitiert nach juris, dort Rdnr. 18 [Badeprothese];
Urteil vom 16. September 2004, B 3 KR 20/04 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 12 ff. [C-Leg]).
Diesen Maßstäben werden die Entscheidung der Beklagten und das erstinstanzliche Urteil nicht gerecht.
Der Senat ist der Überzeugung, dass ein weitestgehender Behinderungsausgleich im Sinne der Möglichkeit, mit einem
nicht behinderten Menschen gleichzuziehen, für den Kläger nur über die Versorgung mit einem C-Leg erreicht werden
kann. So hat auch das Bundessozialgericht mehrfach und ausdrücklich entschieden, dass beinamputier-te
Versicherte grundsätzlich einen Anspruch auf Ausstattung mit einem C-Leg haben (vgl. Urteil vom 10. März 2010, B 3
KR 1/09 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 24 m.w.N.). Es unterliegt keinem Zweifel und wird auch von der Beklagten
nicht bestritten, dass das C-Leg gegenüber konventionellen Prothesen, die nicht mikroprozessorgesteuert sind,
messbare Gebrauchsvorteile mit sich bringt, so etwa geringere Sturzgefahr, ein harmonischeres Gangbild und eine
Verringerung von Fehlbelastungen anderer Ge-lenke und Muskeln.
Der Senat ist nach dem Inhalt der Akten auch davon überzeugt, dass der Kläger mit dieser Art von künstlichem
Kniegelenk im Alltag sicher umgehen und die sich erge-benden Gebrauchsvorteile ausschöpfen kann, das Hilfsmittel
also auch in seinem Ein-zelfall geeignet und erforderlich ist, um die Behinderung weitestgehend auszuglei-chen. Das
zeigen schon die positiven Erfahrungen, die er bei der Erprobung im Jahre 2005 gemacht hat und die er so beschreibt,
dass er sich mit dem C-Leg sicherer und weniger schnell ermüdet fühle, sich insbesondere im ausgiebig genutzten
großen Gar-ten seines Hauses besser bewegen könne, dass er weniger hinke, sein Laufbild sich verbessert habe, er
das Gleichgewicht besser halten und wieder auch alternierend Treppen steigen könne. Diese Schilderungen des
Klägers hat der Leistungserbringer in einem Schreiben vom 29. Mai 2009 bestätigt. Der Senat sieht keinen Anlass,
diese Darlegungen als unwahr oder vorgeschoben zu erachten und ist deshalb davon über-zeugt, dass die konkreten
Gebrauchsvorteile des C-Leg-Kniegelenks dem Kläger mit seinem konkreten Grad an Mobilität auch zugute kommen
und nicht nur Randbereiche seines gesellschaftlichen Lebens erfassten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Ver-fahrens in der Sache selbst.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.