Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 07.09.2007

LSG Berlin und Brandenburg: hauptsache, dringlichkeit, rechtsschutz, zustellung, erlass, tante, anfang, vollziehung, wohnung, zivilprozessordnung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 07.09.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 91 AS 13417/07 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 28 B 1498/07 AS ER
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. Juli 2007 wird abgeändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem
Antragsteller vorläufig, ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 31. Oktober 2007, längstens jedoch bis zur
Zustellung der Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom
4. Mai 2007, zu den ihm mit diesem Bescheid gewährten 433,43 EUR weitere Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 200,00 EUR, für September 2007 anteilig für die verbleibenden Tage vom
Zeitpunkt der Zustellung dieses Beschlusses an, zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der
Antragsgegner hat dem Antragsteller die Hälfte der Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu
erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Gründe:
Die gemäß § 172 Abs. 1 und § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den
Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. Juli 2007, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist in dem aus
dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist die Beschwerde unbegründet.
Soweit der Antragsteller, dem der Antragsgegner bis zum 31. Oktober 2007 unter Anrechnung von Einkommen in
Höhe von 200,00 EUR monatlich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von
433,43 EUR monatlich gewährt hat, sinngemäß jedenfalls Leistungen für den Zeitraum ab Antragstellung bis zum
Zeitpunkt der Entscheidung des Senates begehrt, fehlt es an dem nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG notwendigen
Anordnungsgrund. Es besteht insoweit keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung für
die zurückliegenden Zeiträume erforderlich machen würde.
In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes
nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der
Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung
(VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur
Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein
spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann.
Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar
rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die
prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4
Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung
im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare,
anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der
Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR
1586/02 - NJW 2003, S. 1236 und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, S. 803). Dies bedeutet aber
zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines
Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das
Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem
Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.
Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4
GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume
verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht
erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des
Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine Entscheidung im Verfahren der Hauptsache
nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Derartige Umstände hat der Antragsteller indes nicht
vorgetragen. Dies bedeutet, dass effektiver Rechtsschutz auch insoweit im Hauptsacheverfahren erlangt und ihm ein
Zuwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache zugemutet werden kann.
Für die Zeit ab Beschlussfassung des Senats in diesem Beschwerdeverfahren sind die Grundsätze anzuwenden, die
das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zum Zweiten Buch des Sozialgesetzbuch (SGB II) entwickelt
hat (Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005,927 ff.). Die danach zu treffende Entscheidung kann
sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt
werden, wobei Art 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt. Soll die
Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert werden, ist das erkennende Gericht verpflichtet, die
Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, insbesondere dann, wenn das
einstweilige Verfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige
Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende regelmäßig der Fall ist, da der elementare Lebensbedarf für die kaum je
absehbare Dauer des Hauptsacheverfahrens bei ablehnender Entscheidung nicht gedeckt ist. Ist eine vollständige
Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand der Folgenabwägung zu entscheiden,
die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung grundgesetzlicher Gewährleistungen zu verhindern, auch wenn sie nur
möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert. Die Sicherung des Existenzminimums (verwirklicht durch Leistungen
der Grundsicherung für Arbeitsuchende) ist eine grundgesetzliche Gewährleistung in diesem Sinne (vgl. auch
Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 12. Dezember 2006 - L 10 B 1052/06 AS ER -).
Im vorliegenden Fall muss sich der Senat nicht auf eine Folgenabwägung beschränken, sondern er kann in der Sache
entscheiden. Danach hat der Antragsteller jedenfalls für die Zeit ab Beschlussfassung des Senates einen Anspruch
auf Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung von Einkommen in Höhe von 200,00 EUR monatlich. Soweit der
Antragsgegner vorträgt, dass der Antragsteller von seiner Tante monatliche Zuwendungen von bis zu 400,00 EUR
erhalte und deshalb die Berücksichtigung von 200,00 EUR monatlich als Einkommen gerechtfertigt sei, trifft dies
jedenfalls für den vorgenannten Zeitraum nicht zu. Denn ausweislich der von seiner Tante in diesem einstweiligen
Rechtsschutzverfahren abgegeben "Eidesstattlichen Versicherung" kann eine weitere Unterstützung von (ihrer) Seite
nicht mehr erfolgen, so dass jedenfalls nach derzeitigem Sachstand zukünftig keine Zahlungen an den Antragsteller
zu erwarten sind.
Soweit der Antragsgegner vorträgt, dass der Antragsteller Einkommen aus selbständiger Tätigkeit sowie aus
Vermietung erziele, kann der Senat in diesem einstweiligen Rechtsschutzverfahren unentschieden lassen, ob der
Antragsteller, der dies bestreitet, tatsächlich selbständig tätig ist und ob er ein Zimmer seiner Wohnung
untervermietet. Denn ob und in welcher Höhe der Antragsteller hieraus überhaupt Einkommen erzielt hat, ist nach
Aktenlage weder im Ansatz ersichtlich noch hat der Antragsgegner entsprechende Feststellungen getroffen.
Jedenfalls können entsprechende Mutmaßungen nicht Grundlage einer die Gewährung von Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts ablehnenden Entscheidung sein.
Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes kann schließlich insoweit keinen Erfolg haben, als der
Antragsteller höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sinngemäß auch über den 31. Oktober 2007
hinaus begehrt. Mit dem genannten Bescheid vom 4. Mai 2007 hat der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen
für einen Bewilligungszeitraum gewährt, der am 31. Oktober 2007 endet. Nach Aktenlage ist noch kein Bescheid über
die Leistungsansprüche des Antragstellers für die Zeit vom 1. November 2007 an ergangen. Ein solcher Bescheid
würde aber auch nicht in entsprechender Anwendung des § 86 SGG oder des § 96 SGG Gegenstand eines laufenden
Widerspruchsverfahrens oder eines anhängigen Hauptsacheverfahrens werden. Denn im Rahmen des SGB II ist eine
analoge Anwendung des § 96 SGG auf Bewilligungsbescheide für Folgezeiträume wegen der Besonderheiten dieses
Rechtsgebietes nicht gerechtfertigt (Urteil des Bundessozialgerichts vom 7. November 2006 - B 7 b AS 14/06 R -,
zitiert nach Juris). Bei vernünftiger und sachdienlicher Auslegung des angefochtenen Beschlusses hat das
Sozialgericht auch nicht über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes für diesen Folgezeitraum entschieden. Die
Antragsteller müssen insoweit gesondert um einstweiligen Rechtsschutz nachsuchen.
Der Senat weist darauf hin, dass der Antragsteller verpflichtet ist, sofern sich erweisen sollte, dass diese Anordnung
von Anfang an ganz oder teilweise ungerechtfertigt war, dem Antragsgegner den Schaden zu ersetzten, der ihm aus
der Vollziehung dieser Anordnung entsteht (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 945 Zivilprozessordnung).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).