Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 25.01.2006

LSG Berlin und Brandenburg: erwerbsfähigkeit, erlass, leistungsanspruch, behörde, vertretung, beteiligter, gerichtsakte, hauptsache, zivilprozessordnung, leistungsbezug

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 25.01.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 38 SO 5008/05 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 23 B 1090/05 SO PKH
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 9. November 2005 aufgehoben.
Der Klägerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt A S,
P. , B beigeordnet.
Gründe:
Die Beschwerdeführerin begehrt noch für das inzwischen erledigte Hauptsacheverfahren die Gewährung von
Prozesskostenhilfe.
Sie bezog bis 30. September 2005 Leistungen des Antragsgegners im Hauptsacheverfahren nach dem
Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – SGB XII –. Mit Bescheid vom 31. August verfügte der Antragsgegner die
Einstellung der Leistungen ab 1. Oktober 2005 und verwies die Antragstellerin auf beim zuständigen JobCenter zu
beantragende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – SGB II –. Es sei grundsätzlich von einer
Erwerbsfähigkeit auszugehen. Mit Schreiben vom 31. August 2005 lud das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf von Berlin,
Vertrauensärztlicher Dienst, die Antragstellerin zur vertrauensärztlichen Untersuchung zum 19. September 2005 ein,
um die Erwerbsfähigkeit zu prüfen.
Die Antragstellerin erhob gegen die Einstellung der Leistungen Widerspruch und begehrte weiter Leistungen nach dem
SGB XII.
Am 27. September 2005 beantragte sie beim Sozialgericht Berlin, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen
Anordnung zu verpflichten, ihr weiter laufende Leistungen nach dem SGB XII zu zahlen. Sie beantragte am 28.
September 2005, ihr für das einstweilige Rechtsschutzverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und ihr ihren
Prozessbevollmächtigten beizuordnen.
Sie reichte u. a. einen Aktenvermerk des JobCenters Tempelhof-Schöneberg vom 22. September 2005 zur
Gerichtsakte, worin davon ausgegangen wurde, dass die Antragstellerin nicht erwerbsfähig sei; dies habe eine
vertrauensärztliche Untersuchung vom 19. September 2005 ergeben.
Mit Bescheid vom 13. Oktober 2005 hob der Antragsgegner den Bescheid vom 31. August 2005 auf und führte weiter
aus, damit sei dem Widerspruch in vollem Umfange abgeholfen worden. Auf Grund des Gutachtens des
amtsärztlichen Dienstes bestehe keine Arbeitsfähigkeit. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes sei nicht notwendig
gewesen, weil die Antragstellerin das Widerspruchsverfahren hätte allein führen können.
Mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2005 hat die Antragstellerin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt
und beantragt, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für notwendig zu erklären und dem Antragsgegner die
notwendigen Auslagen der Antragstellerin aufzuerlegen.
Dem ist der Antragsgegner entgegengetreten.
Mit Beschluss vom 9. November 2005 hat das Sozialgericht den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und
Beiordnung des Prozessbevollmächtigten mit der Begründung abgelehnt, eine Beiordnung eines Rechtsanwaltes sei
nach § 121 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO – nicht erforderlich gewesen. Es habe sich im vorliegenden Verfahren
um einen rechtlich und tatsächlich überschaubaren Sachverhalt gehandelt. Die Beteiligten hätten um die Gewährung
laufender Leistungen nach dem SGB XII gestritten, wobei im Wesentlichen die Frage der Erwerbsfähigkeit der
Antragstellerin zwischen den Beteiligten streitig gewesen sei. Der nötige Vortrag sei auf Tatsachen gestützt worden,
die in das Wissen der Antragstellerin gestellt gewesen seien, und sei deshalb von der Antragstellerin durchaus allein
zu leisten gewesen und habe keiner anwaltlichen Anleitung bedurft. Eine anwaltliche Vertretung erscheine angesichts
des einfach gelagerten Sachverhalts und des ohnehin bestehenden Amtsermittlungsgrundsatzes nicht erforderlich.
Mit ihrer Beschwerde macht die Antragstellerin geltend, der Rechtsstreit sei um eine existenzsichernde Leistung
geführt worden. Jeder verständige und rechtsunkundige Bürger hätte anwaltlichen Beistand in Anspruch genommen.
Daneben habe sich der Antragsgegner auch nicht sofort auf den Widerspruch zu den aufgeworfenen Problemen
geäußert, nicht zu der Vorschrift des § 43 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – SGB I – Stellung genommen. Erst
nachdem sie einen Rechtsanwalt eingeschaltet und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt habe, habe
der Antragsgegner reagiert und den geltend gemachten Anspruch anerkannt.
Die Klägerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 9. November 2005 aufzuheben und ihr für das sozialgerichtliche
Verfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren und Rechtsanwalt A S beizuordnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte verwiesen, die Gegenstand
der Beratung gewesen ist.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des
Prozessbevollmächtigten für das sozialgerichtliche Verfahren abgelehnt.
Nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG – i. V. m. § 114 Zivilprozessordnung – ZPO – erhält ein
Beteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die
Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann und wenn die beabsichtigte
Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Die Klägerin verfügt nicht über ein einzusetzendes Einkommen. Vermögen ist ebenfalls nicht vorhanden; sie bezieht
laufende Hilfe zum Lebensunterhalt vom Antragsgegner. Der Rechtsstreit hat auch hinreichende Aussicht auf Erfolg
geboten und erschien nicht mutwillig.
An die Prüfung der Erfolgsaussichten dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden
(Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 30. Oktober 1991, Az.: 1 BvR 1386/91, NJW 1992, 889). Eine
Rechtsverfolgung ist dann hinreichend Erfolg versprechend, wenn das Gericht nach vorläufiger summarischer Prüfung
den Rechtsstandpunkt des Antragstellers unter Berücksichtigung des Vortrages des anderen Beteiligten zumindest für
vertretbar und den Prozesserfolg für wahrscheinlich hält. Eine Vorwegnahme der Entscheidung der Hauptsache (hier
eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren) erfolgt im Rahmen der Prüfung der
Erfolgswahrscheinlichkeit im Prozesskostenhilfeverfahren nicht (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 13. März
1990, Az.: 2 BvR 94/88, NJW 1991, 413). Bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht des Rechtsmittels der
Antragstellung ist auf den Zeitpunkt abzustellen.
Die Antragstellerin hat vor dem Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86 b Abs. 2 SGG
beantragt. Danach sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die
Notwendigkeit in der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch)
sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
Die Antragstellerin hatte glaubhaft gemacht, dass ihr ab 1. Oktober 2005 keine finanziellen Leistungen mehr zur
Verfügung stehen würden, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Antragsgegner hatte die Gewährung von
Leistungen durch den "Einstellungsbescheid" abgelehnt; der Leistungsträger für das Arbeitslosengeld II hatte darauf
hingewiesen, dass er nicht von einer Erwerbsfähigkeit (Voraussetzung für einen Leistungsanspruch nach dem SGB II)
ausgehe. Damit drohte Mittellosigkeit einzutreten.
Zumindest nach dem im Prozesskostenhilfeverfahren anzulegenden Maßstab im Rahmen einer summarischen
Prüfung hatte die Antragstellerin auch das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht. Zwar konnte ein
Anspruch gegen den Antragsgegner auf Weitergewährung von Leistungen nach dem SGB XII deshalb
ausgeschlossen sein, weil möglicherweise ein Anspruch nach dem SGB II bestand, § 5 Abs. 2 SGB II, § 21 SGB XII.
Bei ungeklärter Erwerbsfähigkeit hat nach § 44 a Abs. 2 SGB II der Leistungsträger nach dem SGB II Leistungen zu
erbringen hat, bis das Feststellungsverfahren nach §§ 44a Satz 2, 45 SGB II zur Erwerbsfähigkeit abgeschlossen ist.
Im vorliegenden Fall hatte aber der Antragsgegner selbst eine Prüfung der Erwerbsfähigkeit veranlasst und der
Leistungsträger nach dem SGB II bereits unter Verweis auf ein amtsärztliches Gutachten eine Leistungsverpflichtung
in Frage gestellt, so dass es möglich erschien, dass es für die Frage einer vorläufigen Zuständigkeit nicht auf den
Abschluss des in § 45 SGB II geregelten Feststellungsverfahrens ankam und die Zuständigkeit des Antragsgegners
nicht ausgeschlossen erschien.
Auch war die Hinzuziehung des Prozessbevollmächtigten nach § 121 Abs. 2 ZPO erforderlich. Danach erfolgt die
Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint. Ob
eine solche Erforderlichkeit vorliegt, ist im Einzelfall nach der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage und nach den
persönlichen Verhältnissen des Beteiligten zu beurteilen. Hieran sind keine überspannten Anforderungen zu stellen.
Objektive Merkmale sind die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Sache, deren Umfang und die
wirtschaftliche und persönliche Bedeutung der Angelegenheit für den Beteiligten. Maßstab ist auch, ob ein Beteiligter,
der nicht auf Prozesskostenhilfe angewiesen ist, einen Rechtsanwalt hinzuziehen würde. Auch unter Berücksichtigung
des Amtsermittlungsgrundsatzes darf das Recht der Beteiligten auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht
verletzt werden.
Die Erforderlichkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im sozialgerichtlichen Verfahren kann nicht mit dem
Hinweis auf den Amtsermittlungsgrundsatz nach § 103 SGG verneint werden, weil die Aufklärungs- und
Beratungspflicht des Anwalts über die Reichweite der Amts-ermittlungspflicht des Richters hinausgeht (BVerfG,
Beschluss vom 18. Dezember 2001, Az.: 1 BvR 391/01, Breith. 2002, 486 – 488).
Im Sozialhilferecht erscheint es angesichts der Bedeutung der Angelegenheiten für die Betroffenen bedenklich, die
Erforderlichkeit einer Beiordnung und damit auch einer Beratung durch einen Rechtskundigen zu verneinen. Bei der
"Entziehung" einer zuvor gewährten Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII durch die Behörde, kann eine
Erforderlichkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im nachfolgenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht
verneint werden. Bei einem solchen Sachverhalt kann nicht von einer einfach überschaubaren Sach- und Rechtslage
ausgegangen werden. Dies folgt allein schon daraus, dass die Beantragung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86b
SGG auch von der rechtlichen Beurteilung abhängig ist, ob die Behörde in einen Leistungsbezug aufgrund eines
Dauerverwaltungsaktes durch Aufhebungsbescheid eingegriffen (§ 86b Abs. 1 SGG) oder die (erneute) Gewährung
von Leistungen abgelehnt hat (§ 86b Abs. 2 SGG).
Welche rechtlichen Schwierigkeiten sich bei dieser Prüfung auftun können, verdeutlich der vorliegende Fall geradezu,
was die Annahme eines "einfach gelagerten Sachverhalts" durch das Sozialgericht in dem angefochtenen Bescheid
fernliegend erscheinen lässt.
Die Leistungen nach dem SGB XII sind in der Regel keine rentengleichen Dauerleistungen (vergl. zu den Leistungen
nach dem Bundessozialhilfegesetz: BVerwG, Urteil v. 26.09.1991, Az.: 5 C 14/87, BVerwGE 89, 81-87), so dass mit
der Ablehnung einer Weitergewährung auch nicht in einen bereits zuerkannten Leistungsanspruch eingegriffen wird,
kein "Entziehungsbescheid" zu ergehen hat, sondern ein Ablehnungsbescheid. Der einstweilige Rechtsschutz richtet
sich dann, wovon der Prozessbevollmächtigte trotz der Bezeichnung des Bescheides als "Entziehungsbescheid"
auch ausgegangen ist, nach § 86b Abs. 2 SGG. Auch die Reaktion auf den Bescheid des Antragsgegners vom 13.
Oktober 2005 machte eine rechtliche Beurteilung erforderlich, die nicht von einem Rechtsunkundigen erwartet werden
kann. Mit diesem Bescheid hat der Antragsgegner den "Entziehungsbescheid" aufgehoben und ausgeführt, dem
Widerspruch der Antragstellerin sei in vollem Umfang abgeholfen worden. Da mit dem Bescheid vom 13. Oktober
2006 der Antragstellerin keine Leistung, wie von ihr mit dem Widerspruch begehrt, gewährt worden ist, lag auch keine
Abhilfeentscheidung vor, es sei denn, der Antragsgegner geht – rechtlich zweifelhaft – von einer Aufhebung eines
dauerhaft zuerkannten Anspruchs durch den Bescheid vom 31. August 2005 aus. Die Bewertung, dass der
Antragsgegner auf der Grundlage des Bescheides vom 13. Oktober 2005 auch laufend Leistungen nach dem SGB XII
erbringen will, ist von einem Laien nicht zu erwarten.
Weiter kann vor dem Hintergrund der Regelungen zur Abgrenzung der Leistungsansprüche nach dem SGB II und dem
SGB XII (§§ 5, 44 a SGB II und §§ 2, 21 SGB XII) bei ungeklärter Erwerbsfähigkeit nicht von einer einfachen Sach-
und Rechtslage ausgegangen werden. Dabei hat das Sozialgericht verkannt, dass zwischen den Beteiligten nicht in
erster Linie die Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin streitig war, sondern welcher Leistungsträger bei ungeklärter
Erwerbsfähigkeit zur Leistung verpflichtet war, also ob der Antragsgegner die Antragstellerin an das JobCenter
verweisen durfte. Auf die - nicht einfache – Beurteilung hat das Sozialgericht bereits in dem Verfahren in einem
Richterbrief an den Antragsgegner vom 29. September 2005 hingewiesen, weshalb die spätere Annahme einer
einfachen Sach- und Rechtslage nicht nachvollziehbar ist.
Nicht zuletzt wäre zu beachten gewesen, dass es im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens auf die
Glaubhaftmachung von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund ankommt und eine Amtsermittlung des Gerichts
im Eilverfahren eingeschränkt sein kann und es damit besonders auf einen umfassenden Vortrag des Beteiligten zu
den anspruchsbegründenden Tatsachen ankommt. Die Erforderlichkeit einer Beiordnung eines
Prozessbevollmächtigten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren in sozialhilferechtlichen Angelegenheiten dürfte
damit nur ausnahmsweise zu verneinen sein.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.