Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 03.12.2009

LSG Berlin und Brandenburg: multiple sklerose, psychische störung, psychische krankheit, klinik, diagnose, arbeitsunfähigkeit, depression, psychiatrie, neurologie, diplom

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 03.12.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 25 U 682/04
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 31 U 407/08
Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. Juni 2007 wird aufgehoben. Die Beklagte wird unter Abänderung des
Bescheides vom 12. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2004 verurteilt, eine
rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige bis schwere Episode als weitere Arbeitsunfallfolge
anzuerkennen und dem Kläger aufgrund des Arbeitsunfalls vom 25. August 2002 ab 23. Februar 2004 eine
Verletztenrente nach einer MdE von 40 v.H. zu gewähren und wegen der anerkannten psychiatrischen Störung
Heilbehandlung zu leisten. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund eines Arbeitsunfalls vom 25.
August 2002.
Der 1950 geborene Kläger war seit Dezember 1993 bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) als Zugfahrer
beschäftigt. Am 25. August 2002 wechselte er in dem Tunnel nach dem Endbahnhof "Alt-Tegel" den Führerstand, um
die Fahrt anschließend in entgegengesetzter Richtung wieder fortzusetzen. Als er dabei am Zug vorbeiging, bemerkte
er, dass drei Fahrgäste versäumt hatten, am Endbahnhof "Alt-Tegel" auszusteigen. Nachdem er seine Fahrt wieder
aufgenommen hatte und erneut im Bahnhof "Alt-Tegel" hielt, kam der weibliche Fahrgast zu ihm an das Führerhaus
und zog ihn an der Dienstkrawatte. Er wehrte diesen Angriff ab. Daraufhin kamen die beiden männlichen Begleiter der
Frau ebenfalls zu ihm und nahmen ihm gegenüber eine drohende Haltung ein, die sie unter anderem mit der Aussage:
"mach die Tür auf, sonst bringe ich dich um" untermauerten. Zudem traten und sprangen sie gegen die Fahrertür. Der
Kläger schaffte es, diese etwa 20 Minuten lang bis zum Eintreffen der Polizei geschlossen zu halten. Die drei
Fahrgäste blieben die ganze Zeit vor seinem Fahrerhaus.
Am 26. August 2002 begab sich der Kläger zum Chirurgen und Durchgangsarzt Dr. H, der ein ängstliches,
angespanntes Auftreten sowie eine spürbare Enttäuschung über das späte Eintreffen der Hilfe und die Erkenntnis, auf
sich selbst gestellt zu sein, feststellte und die Diagnose einer akuten Belastungsreaktion stellte. Er überwies den
Kläger an einen Psychologen beziehungsweise Psychotherapeuten. Die Beklagte zog Behandlungsunterlagen der den
Kläger behandelnden Dipl.-Psychologin K und des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. T bei und veranlasste
eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme in der Klinik für psychosomatische Medizin Sch vom 8.
Oktober 2002 bis zum 10. Dezember 2002.
Die Klinik Sch teilte mit Bericht vom 27. November 2002 unter anderem mit, für eine Wiederherstellung der
Arbeitsfähigkeit sei weiterhin eine Konfrontation in vivo mit der angstauslösenden beruflichen Situation notwendig.
Diese Konfrontationsbehandlung werde im ambulanten Bereich durch die behandelnde Psychotherapeutin
durchgeführt. Aus der stationären Rehabilitationsmaßnahme wurde der Kläger am 10. Dezember 2002 weiterhin
arbeitsunfähig entlassen. Es wurden Leerfahrten mit Fahrlehrer für eine Woche empfohlen. Bei Bedarf solle eine
vierwöchige Belastungserprobung anschließend stattfinden. Weiter wurde mitgeteilt, am Ende des
Therapieaufenthaltes sei die posttraumatische Symptomatik weitestgehend reduziert gewesen. Geblieben sei eine
leichte Angstsymptomatik bezüglich seiner Arbeitsplatzsituation. Der Kläger habe befürchtet, erneut in eine ähnliche
Situation am Arbeitsplatz geraten zu können. Die depressive Symptomatik sei abgeklungen. Er sei
medikamentenabstinent gewesen.
Nachdem der Kläger am 3. Januar 2003 eine Probefahrt absolviert hatte wurde in der Folgezeit ab 15. Januar 2003
eine Belastungserprobung zunächst für zwei Wochen durchgeführt, die mehrmals verlängert wurde, letztlich aber nicht
zur Wiedereingliederung des Klägers in das Berufsleben geführt hat. Die den Kläger behandelnde Diplom-Psychologin
K teilte unter anderem in Folgeberichten vom 4. März 2003, 14. April 2003 und 12. Juni 2003 mit, es sei bei dem
Kläger ab Mitte Januar 2003 zu einer starken depressiven Nachschwankung, einem normalen Symptom bei der
Traumaverarbeitung, gekommen. Sie empfehle eine erneute stationäre Rehabilitationsmaßnahme. Dieser
Einschätzung schloss sich auch der Neurologe und Psychiater Dr. H in seinem Gutachten vom 23. Juni 2003 an. Die
Beklagte veranlasste eine solche in der Hklinik. Dort wurde der Kläger am 8. Juli 2003 aufgenommen und am 16. Juli
2003 wegen des Gefühls der Überforderung auf eigenen Wunsch entlassen.
Die Beklagte veranlasste die Begutachtung des Klägers durch den Chefarzt der neurologischen Abteilung der Klinik R,
B, Dr. Dr. W, der in seinem Gutachten vom 29. März 2004 unter anderem ausführte, bei dem Kläger habe eine in der
Zwischenzeit weitgehend abgeklungene Anpassungsstörung nach Überfallereignis vom 25. August 2002 bestanden.
Jetzt bestehe eine in Chronifizierung übergegangene länger andauernde Depression mit den Leitsymptomen der
Herabstimmung, Antriebshemmung und Zwanghaftigkeit. Die Anpassungsstörung sei zweifelsohne rechtlich auf den
Überfall zurückzuführen, habe sich jedoch bis zum Jahresende 2002 im Zuge der stationären Behandlung in der Klinik
Sch deutlich zurückgebildet. Zum Entlassungszeitpunkt dort habe auch keine depressive Symptomatik mehr
vorgelegen. Die sich mit sekundärem zeitlichen Versatz auf diesen stationären Aufenthalt entwickelnde länger
andauernde depressive Reaktion stehe in keinem Ursachenzusammenhang zu dem Unfallgeschehen mehr, sondern
sei begründet durch die Persönlichkeitsstruktur des Versicherten mit ausgeprägter Leistungsorientierung und
narzisstischer Kränkbarkeit. Der Kläger sei im letzten Quartal 2001 wegen des Verdachts auf Multiple Sklerose
arbeitsunfähig gewesen. Substantielle ärztliche Berichte hierzu lägen nicht vor. Schon allein die Länge der
bescheinigten Arbeitsunfähigkeit beziehungsweise der Umstand, dass diese Arbeitsunfähigkeit wenige Monate vor
dem Überfallgeschehen bescheinigt worden sei, lasse "den Umstand eines Vorschadens mit der Gültigkeit des
Vollbeweises herausstellen". Bei objektiver Abwägung habe es sich bei dem Ereignis vom 25. August 2002
zweifelsohne nicht um ein solches gehandelt, welches die diagnostischen Grundvoraussetzungen einer
posttraumatischen Belastungsstörung erfüllen würde. Es habe hier bei objektiver Sichtweise weder eine Lebens- noch
Existenzbedrohung vorgelegen. Allerdings lasse sich nachvollziehen, dass der Kläger durch den auf ihn verübten
Angriff, insbesondere während der Zeit, da er allein im Führerstand seiner U-Bahn gestanden habe und die Tür gegen
den Zugriff der Täter von innen festgehalten habe, einer erheblichen seelischen Belastung ausgesetzt gewesen sei,
so dass sich die hiernach entwickelten seelischen Belastungssymptome im Sinne einer Anpassungsstörung bewerten
ließen. Ab Beginn des Jahres 2003 sei es tatsächlich zu einer Verschiebung der Wesensgrundlage gekommen, da die
weitere Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit durch die Manifestation einer längeren depressiven
Entwicklung bedingt worden sei. Festzuhalten sei, dass der Kläger nach dem Entlassungsbericht aus der Klinik Sch
ausdrücklich deutlich gebessert und ohne depressive Symptome entlassen worden sei. Festzuhalten sei des
Weiteren, dass zum Jahresbeginn 2003 eine erste Probefahrt nach Meinung der begleitenden Diplom-Psychologin K
erfolgreich verlaufen sei. Der Kläger selbst habe dies allerdings nicht realisieren können, sondern im Rahmen seiner
leistungsorientierten und narzisstischen Persönlichkeit den weiteren Verlauf anders gewertet und sei gegenüber
seinen Arbeitskollegen in Rechtfertigungsdruck geraten, woraufhin er dann zunehmend depressiv dekompensiert sei.
Diese neue Entwicklung lasse sich nicht mehr dem eigentlichen Überfallgeschehen und seinen Folgen anlasten,
sondern sei persönlichkeitsimmanenten Verarbeitungsmechanismen des Klägers zuzurechnen. Hierzu habe auch
seine Ehefrau überzeugend geschildert, dass sich die Persönlichkeitsstruktur des Klägers allmählich und schleichend
verändert habe. Aus dem primärpersönlich fröhlichen und geselligen sowie arbeitsfreudigen Mann sei nunmehr ein
introvertierter, zwanghafter und gehemmt depressiver Mensch geworden, welcher vor allem die Eigeninitiative verloren
habe. Insofern sei die unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit auf das Jahresende 2002
festzulegen. Die weitere Entwicklung danach mit sekundärer Verschlechterung sei als Ausdruck einer nicht
unfallabhängigen, überwiegend persönlichkeitsbedingten Fehlentwicklung zu bewerten. Schließlich müsse nochmals
und ganz entschieden auf den Umstand hingewiesen werden, dass ein in seinem Ausmaß noch gar nicht recht
greifbarer Vorschaden aus dem Jahre 2001 hier maßgeblich mitgewirkt haben könne.
Mit Bescheid vom 12. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. November 2004 lehnte die
Beklagte wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 25. August 2002 die Gewährung einer Rente ab. Des Weiteren
führte sie aus, unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit würden bis zum 31. Dezember 2002
anerkannt. Zur Begründung stützte sie sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr. Dr. W.
Der im anschließenden Klageverfahren durch das Sozialgericht Berlin als Sachverständiger bestellte Facharzt für
Neurologie und Psychiatrie Dr. A hat in seinem Gutachten vom 18. August 2005 unter anderem ausgeführt, der Kläger
habe unter einer abgeklungenen posttraumatischen Belastungsstörung gelitten und leide nunmehr unter einem
neurasthenischen Syndrom. Vor dem Hintergrund einer relevanten anankastischen
(zwanghaften/ordnungsgebundenen) Persönlichkeitsstruktur, die sich bis in das frühe Erwachsenenalter
zurückverfolgen lasse, sei es mit dem Überfallereignis im August 2002 zu einer den Kläger tief verstörenden und
erschütternden Situation gekommen. Nicht nur die dadurch entstandene Schreckreaktion mit Furcht vor Verletzung,
sondern auch die Störung des persönlichkeitsimmanenten Ordnungsgefüges habe eine tiefe Verunsicherung einerseits
und in den Wochen darauf zu Wiedererinnerungen, vegetativer Angstsymptomatik sowie signifikanter Verstärkung
bereits zuvor vorhandener Schlafstörungen geführt. Selbst wenn man das Ereignis nicht als außergewöhnliche
Bedrohung katastrophenartigen Ausmaßes, "die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde", werten
möge, so sei aufgrund der geschilderten typischen Symptomatik und der bereits prämorbiden Labilisierung durch eine
ängstlich anankastische Struktur an einer posttraumatischen Belastungsstörung kein Zweifel. Vor diesem
Persönlichkeitshintergrund komme dem Überfall die Qualität eines Traumas zu. Durch rasch begonnene
therapeutische Interventionen ambulanter und stationärer Art habe diese Symptomatik weitgehend beherrscht und
zum Abklingen gebracht werden können. Der Abschlussbericht der Rehabilitationsklinik Sch schildere dieses
Behandlungsergebnis in nachvollziehbarer und konsistenter Weise aufgrund des Beobachtungsverlaufs und
psychopathologischen Befundes bei Entlassung. Dennoch seien die daraufhin und begründeter Weise in Angriff
genommenen Maßnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung gescheitert. Bei einer ersten Zugfahrt seien wiederum
Beschwerden aufgetreten. Der Kläger sei in innere Unruhe, Aufregung, Stress geraten, habe sein Scheitern befürchtet
und in zunehmender Weise eine depressive Symptomatik mit Insuffizienzgefühlen, eine ängstliche Aufgeregtheit und
regressive Phänomene mit Rückzugstendenz entwickelt. Nunmehr stehe die Symptomatik der posttraumatischen
Belastungsstörung nicht mehr im Vordergrund und spiele sowohl in qualitativer wie auch in quantitativer Hinsicht keine
prägende Rolle mehr. Vielmehr habe sich im Laufe der Jahre eine regressive Tendenz verstärkt, die im Ergebnis zu
einer gewissen Schonhaltung des Klägers dahingehend geführt habe, dass er nunmehr sein häusliches Leben seinem
Ordnungsbedürfnis entsprechend führe und dabei eine gewisse Einengung des sozialen Aktionsradiuses eingetreten
sei. Diese psychopathologischen Phänomene seien jedoch nicht Ausdruck einer traumabedingten Vermeidenshaltung,
sondern vielmehr Ausdruck einer anankastisch bedingten Reduktion an Freiheitsgraden und Bescheidung auf eigene
Gepflogenheiten und Tagesrhythmen. Intrusive Wiedererinnerungen der Traumasituation als besonders
charakteristisches Symptom fänden sich nicht mehr. Lediglich bei aktivem Wiedererinnern im Rahmen von
Gesprächen über die damalige Situation beziehungsweise das damalige Ereignis träten Unbehaglichkeit und
Ängstlichkeit auf, weswegen der Kläger sich richtigerweise mit diesem Thema nicht mehr befasse, sondern sich
anderen Aufgaben zugewandt habe. Auf diese Weise werde akute Angst vermieden. Eine schwere depressive
Symptomatik sei ebenfalls nicht festzustellen; insofern sei die Diagnose einer "schweren depressiven Störung", wie
vom behandelnden Nervenarzt und der Psychotherapeutin gestellt, nicht nachvollziehbar. Sie werde vom
behandelnden Nervenarzt auch nicht durch einen validierenden psychopathologischen Befund gestützt. Derzeit liege
vielmehr ein ängstlich-neurasthenisches Syndrom vor, dass im Sinne einer Verschiebung der Wesensgrundlage zu
bewerten und unfallunabhängig sei. Die Störung sei von leichter bis mäßiger Ausprägung. Für diese Beurteilung sei es
keineswegs erforderlich, dass die geschilderte anankastische Struktur bereits vor dem Unfallereignis in manifester,
klinischer Form hätte vorliegen müssen, vielmehr seien nach Abklingen der typischen Symptomatik der
posttraumatischen Belastungsstörung, an der wenig Zweifel herrsche, ein Symptomwandel eingetreten, der auf diese
Persönlichkeitsanlage in wesentlicher Weise zurückzuführen sei. Die prämorbide Persönlichkeitsanlage habe also die
heute bestehende Symptomatik qualitativ ausgeprägt, während die Symptomatik der Reaktion auf das Trauma mit
dem Ende der therapeutischen Maßnahmen nicht mehr von Relevanz sei. Im Rahmen einer Verschiebung der
Wesensgrundlage seien unfallunabhängige, auf die beschriebene prämorbide Persönlichkeitsstruktur
(Schadensanlage) zu beziehende Gesundheitsstörungen hinzugetreten, nämlich das neurasthenische Syndrom. Die
unfallbedingte Gesundheitsstörung, die posttraumatische Belastungsstörung, sei abgeklungen. Sie habe nicht zu
Behandlungsbedürftigkeit über den 31. Dezember 2002 hinaus geführt. Eine unfallbedingte MdE bestehe nicht. Die
derzeitige Symptomatik (anankastisch-neurasthenische Symptomatik) sei nicht auf das Unfallereignis
zurückzuführen. Auch in einer ergänzenden Stellungnahme vom 14. November 2005 ist der Sachverständige im
Wesentlichen bei seiner Einschätzung verblieben.
Der gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ebenfalls als Sachverständiger bestellte Professor Dr. Studt hat in
seinem Gutachten vom 27. Juli 2006 unter anderem ausgeführt, bei dem Kläger liege eine abklingende
posttraumatische Belastungsstörung und eine zunehmende andauernde Persönlichkeitsänderung nach extremer
Belastung vor. Diese Gesundheitsstörungen seien wahrscheinlich auf das Ereignis vom 25. August 2002
zurückzuführen. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 24. August 2006 hat er ausgeführt, er schätze die MdE für
die Zeit vom 29. Januar 2003 bis zum 14. März 2003 auf 30 v.H., vom 15. März 2003 bis 31. Dezember 2004 auf 50
v.H. und für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis zum Tag der Begutachtung auf 70 v.H. ein.
Nachdem beide Sachverständige in der mündlichen Verhandlung ihre jeweiligen Einschätzungen im Wesentlichen
bestätigt hatten, hat das Sozialgericht Berlin die Klage mit Urteil vom 4. Juni 2007 abgewiesen und zur Begründung
unter anderem ausgeführt, zwar liege ein Arbeitsunfall vor, er habe jedoch keinen Anspruch auf Gewährung einer
Verletztenrente wegen der Unfallfolgen, denn seine Erwerbsfähigkeit sei nicht um mindestens 20 v.H. gemindert. Das
Gericht folge im Wesentlichen dem Gutachten des Sachverständigen Dr. A und halte das Gutachten des
Sachverständigen Professor Dr. St für wenig überzeugend.
Gegen das ihm am 13. Juni 2007 zugestellte Urteil richtet sich die am 11. Juli 2007 eingelegte Berufung des Klägers.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. Juni 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides
vom 12. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2004 zu verurteilen, ihm aufgrund
des Arbeitsunfalls vom 25. August 2002 ab 23. Februar 2004 (Ende der Verletztengeldzahlung) eine Verletztenrente
nach einer MdE von 40 v. H. und über den 31. Dezember 2002 hinaus Leistungen zur Heilbehandlung für die auf den
Unfall zurückzuführende psychische Störung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen erstinstanzlichen Urteils und das Gutachten des
Sachverständigen Dr. A. Das im erstinstanzlichen Verfahren eingeholte Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. St
hält sie ebenso wenig für überzeugend wie das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten des Sachverständigen
Dr. M.
Der im Berufungsverfahren als Sachverständiger bestellte Arzt für Neurologie, Psychiatrie, Sozialmedizin,
Psychoanalyse, Psychotherapie, Rehabilitationswesen und psychosomatische Medizin Dr. M hat in seinem
Gutachten vom 14. April 2009 unter anderem ausgeführt, der Kläger habe zunächst unter einer posttraumatischen
Belastungsstörung mit dissoziativen und agoraphoben Symptomen gelitten. Nunmehr leide er unter einer
rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige bis schwere Episode. Beide Störungen seien
überwiegend wahrscheinlich ursächlich auf den Unfall vom 25. August 2002 zurückzuführen. Die MdE schätze er mit
40 v.H. ein.
Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den
Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Az. ) verwiesen, der Gegenstand
der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig und begründet. Er hat wegen der Unfallfolgen
einen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente.
Anspruchsgrundlage für die Gewährung einer Verletztenrente ist § 56 SGB VII. Danach haben Versicherte, deren
Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die sechsundzwanzigste Woche nach dem Versicherungsfall
hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente und Heilbehandlung.
Unstreitig hat der Kläger am 25. August 2002 einen Arbeitsunfall erlitten, den die Beklagte mit dem angefochtenen
Bescheid anerkannt hat. Die Beklagte ist bei ihm auch davon ausgegangen, dass bis Ende 2002 Arbeitsunfallfolgen in
Form einer behandlungs- und therapiebedürftigen posttraumatischen Belastungsstörung vorlagen, die - nach
Auffassung der Beklagten - über diesen Zeitpunkt hinaus jedoch keine MdE in rentenberechtigendem Grade bedingen.
Zur Überzeugung des Senats lag bei dem Kläger zunächst eine posttraumatische Belastungsstörung mit dissoziativen
und agoraphoben Symptomen vor, jetzt leidet der Kläger unter einer rezidivierenden depressiven Störung mit einer
gegenwärtig mittelgradigen bis schweren Episode, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall vom 25.
August 2002 zurückzuführen ist. Bereits in der Unfallanzeige wird erwähnt, dass der Kläger Angst vor weiteren
Angriffen der Fahrgäste hatte. Auch der zuerst aufgesuchte Chirurg und Durchgangsarzt Dr. H hat in seinem
Durchgangsarztbericht vom 26. August 2002, also bereits einen Tag nach dem Unfall, ein ängstliches, angespanntes
Auftreten des Klägers mit spürbarer Enttäuschung über das späte Eintreffen der Helfer beschrieben und die Diagnose
einer akuten Belastungsreaktion gestellt. Dies ist eine psychiatrische Störung, die in der Regel innerhalb von Stunden
bis wenigen Tagen nach dem Ende des belastenden Ereignisses wieder abklingt. Als Körperschaden sind in dem
Durchgangsarztbericht lediglich kleine punktuelle Schürfungen auf der Streckseite der Unterarme genannt. Eine
deutlich psychische Angstreaktion auf den Unfall ist demnach zeitnah zum Ereignis zweifelsfrei dokumentiert,
wesentliche körperliche Unfallfolgen ließen sich nicht feststellen. Diese hat der Kläger auch nicht geltend gemacht.
Die Schürfungen sind aber ein Hinweis darauf, dass die Täter dem Kläger sehr nahe gekommen sein müssen, so
dass Abwehrbewegungen erfolgt sind, was wiederum ein Hinweis darauf ist, dass ein Gefühl von Bedrohung berechtigt
gewesen sein kann. Aus den Berichten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Tund der Diplom-Psychologin K,
die den Kläger in der Folgezeit behandelt haben, ergibt sich, dass die psychische Symptomatik von vornherein recht
ausgeprägt war. Dr. T hatte am 1. Oktober 2002 ohne eine eigentliche Diagnose zu stellen von Angststörungen,
intrusiven Gedanken, Albträumen sowie Konzentrationsstörungen berichtet und bescheinigte mit einem Attest vom
28. Januar 2005, dass der Kläger zwei Tage nach dem Unfall, also bereits am 27. August 2002, deswegen bei ihm in
Behandlung stand. Als Diagnose werden eine ausgeprägte posttraumatische Belastungsstörung und eine anhaltende,
therapieresistente, schwere depressive Episode genannt. Ein Zusammenhang zu einer Arbeitsunfähigkeit aus dem
Jahre 2001 bestünde nicht. Der Kläger sei bei einem Expositionsversuch im Januar 2003 sofort dekompensiert und
seither arbeitsunfähig. Auch die den Kläger behandelnde Diplom-Psychologin K teilte in einer Bescheinigung vom
Januar 2005 mit, dass der Kläger sich seit September 2002 in ihrer ambulanten therapeutischen Behandlung befand
und seit dem Überfall vom 25. August 2002 an einer starken posttraumatischen Belastungsstörung und einer
schweren depressiven Episode leidet. Auch in ihren Folgebescheinigungen wiederholt und bestätigt sie diese
Darstellung und Einschätzung. Die festgestellte psychische Veränderung des Klägers entwickelte sich entgegen der
ersten Prognose des chirurgischen Durchgangsarztes Dr. H, jedoch im Einklang mit den ersten nervenfachärztlichen
und psychologischen Feststellungen trotz intensiver Behandlung dann so ungünstig, dass sie ab Dezember 2003 -
also immer noch in relativer zeitlicher Nähe zum Unfallereignis - zur Rente wegen Erwerbsunfähigkeit führte. Auch die
im Rentenverfahren tätigen Gutachter haben eine posttraumatische Belastungsstörung und eine schwere depressive
Störung festgestellt, die sie als so gravierend eingeschätzt haben, dass sie mit einer Erwerbstätigkeit nicht mehr
vereinbar waren. Eine ähnliche Diagnose stellt auch der im Verwaltungsverfahren tätige Gutachter Dr. Dr. W, wenn er
bei dem Kläger eine in Chronifizierung übergegangene länger andauernde Depression mit den Leitsymptomen der
Herabstimmung, Antriebshemmung und Zwanghaftigkeit feststellt.
Soweit der Sachverständige Dr. A davon ausgeht, dass bei dem Kläger im Anschluss an die posttraumatische
Belastungsstörung keine depressive Störung vorlag beziehungsweise vorliegt, vermag der Senat dem nicht zu folgen.
Hiergegen spricht, dass sowohl der den Kläger behandelnde Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. T als auch
die Diplom-Psychologin K seit dem Unfall durchgehend erhebliche Ängste und depressive Verstimmungen
beschreiben, die auch der durch die Beklagte beauftragte Gutachter Dr. Dr. W in seinem Gutachten vom 29. März
2004 beschrieben hat. Dementsprechend hat Dr. Dr. W auch eine in Chronifizierung übergegangene längerandauernde
Depression mit den Leitsymptomen der Herabstimmung, Antriebshemmung und Zwanghaftigkeit festgestellt. Bestätigt
hat diese Diagnose der im Berufungsverfahren beauftragte Sachverständige Dr. M.
Die von Dr. A gestellte Diagnose eines neurasthenischen Syndroms vor dem Hintergrund einer anankastischen
(zwanghaften/ordnungsgebundenen) Persönlichkeitsstruktur überzeugt dagegen nicht. Zunächst lässt sich weder den
Rehabilitationsentlassungsberichten der Klinik Sch noch der H oder dem Gutachten des Dr. Dr. W entnehmen, dass
der Kläger bereits vor dem Überfall unter Zwanghaftigkeit gelitten hat. Zwar wird in dem Bericht der Klinik Sch
ausgeführt, der Kläger wirke im Aufnahmegespräch "leicht zwanghaft". Hieraus lässt sich jedoch kein Rückschluss
auf Zeiten vor dem Überfall ziehen. Anlässlich der Begutachtung des Klägers durch Dr. Dr. W hatte die Ehefrau
berichtet, dass sich der Zustand des Klägers nach dem Aufenthalt in der Klinik Sch nochmals verschlechtert habe.
Sie gab an, er sei nach der Kur in Sch voller Hoffnung gewesen, danach sei es nur noch bergab gegangen. Er sei
nicht mehr fröhlich, nicht motiviert, dies alles habe sich schleichend und allmählich verschlechtert. Ihr Ehemann ordne
zwanghaft Schlafanzüge und Kissen auf dem Bett, er sei umständlich geworden, drehe sich gedanklich im Kreise,
fahre zum Beispiel auch zwei- bis dreimal am Tag für Kleinigkeiten einkaufen. Auch hieraus lässt sich nicht auf eine
vor dem Überfall bereits bestehende Zwanghaftigkeit schließen. Soweit der Sachverständige Dr. A in seinem
Gutachten vom 18. August 2005 ausführt, die Ehefrau des Klägers habe ausdrücklich eine bereits prämorbid
bestehende Zwangsstruktur, die jedoch nach Ende der Berufstätigkeit an Prägnanz zugenommen habe, bestätigt,
lässt sich dies in den Gutachten des Dr. Dr. W und des Sachverständigen Dr. M so nicht wieder finden. Insbesondere
anlässlich der Anamneseerhebung durch Dr. M hat die Ehefrau des Klägers ausgeführt, Dr. A habe sie in dieser
Hinsicht völlig falsch zitiert. Der konkrete Nachweis solcher Ursachen wäre aber für die Annahme einer Verschiebung
der Wesensgrundlage erforderlich, da eine so schwere Störung ohne Ursache nicht vorstellbar ist.
Für den Senat wenig überzeugend ist auch, dass nach kurzfristiger Besserung der posttraumatischen
Belastungsstörung Ende 2002 ab Januar 2003 eine Neurasthenie (neu) aufgetreten sein soll, die im übrigen nach
Aussage des Sachverständigen Dr. M depressive Symptome einschließt, die der Sachverständige Dr. A nach seinem
erhobenen Befund jedoch nicht feststellen konnte, insoweit widerspricht sich Dr. A selbst.
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger aus der Behandlung in der Klinik Sch auch nicht mehr oder
weniger symptomfrei entlassen worden ist. Zwar ist dem Entlassungsbericht vom 10. Dezember 2002 zu entnehmen,
dass die posttraumatische Symptomatik am Ende des Therapieaufenthaltes als weitestgehend reduziert angesehen
wurde. Geblieben sei eine leichte Angstsymptomatik bezüglich der Arbeitsplatzsituation. Andererseits wird jedoch
auch ausgeführt, dass der Kläger befürchtete, erneut in eine ähnliche Situation am Arbeitsplatz geraten zu können.
Der Kläger ist aus dieser Rehabilitationsmaßnahme arbeitsunfähig entlassen worden. Bereits mit Bericht vom 27.
November 2002 hatte die Klinik Sch mitgeteilt, dass für eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit eine Konfrontation
in vivo mit der angstauslösenden beruflichen Situation notwendig sei. Zu Recht hat hierauf auch der Sachverständige
Dr. M hingewiesen und ausgeführt, dass von einer nachhaltigen Besserung so lange nicht auszugehen ist, bis diese
durch die "Nagelprobe" Exposition in vivo, also durch die tatsächliche Tätigkeit als Zugführer bewiesen ist. Dies war
zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Klinik Sch noch nicht der Fall. Unter dieser Belastung in vivo ist der Kläger
dann auch kurz darauf wieder psychisch dekompensiert. Da U- und S-Bahnen ein spezifischer Trigger (Auslöser) für
die traumatische Erinnerung waren und sind, wurde die durch den Unfall hervorgerufene Angst und die Symptomatik
der posttraumatischen Belastungsstörung wieder aktiviert, da sie eben nicht abschließend behandelt war. Die
unmittelbar im Zug erlebte phobische Angst und die damit verbundene Unfähigkeit, seine Arbeit wieder ausüben zu
können, der deshalb drohende Verlust des Arbeitsplatzes sind die Ursachen der nachfolgenden Depression, die
insofern auch Unfallfolge ist. Für diese Auffassung spricht zudem, dass der Kläger während des gesamten
Aufenthaltes in der Klinik Schwedenstein, das heißt also bis zuletzt, ein auffallendes Vermeidungsverhalten gezeigt
haben soll. Dies ist mit der unterstellten nachhaltigen Besserung einer Traumafolgestörung nicht zu vereinbaren, weil
sich das Vermeidungsverhalten gerade auf eine noch florierende Traumaerinnerung bezieht, die vermieden werden
soll. Anderenfalls wäre Vermeidung unnötig. Aus diesem Grund sind auch die darauf fußenden Annahmen im
Gutachten von Dr. A nicht plausibel.
Auch die von dem gemäß § 109 SGG bestellten Sachverständigen Prof. Dr. St gestellte Diagnose einer zunehmenden
andauernden Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung überzeugt nicht. Diese Diagnose wurde für Überlebende
von KZ-Folter als Folge "verheerender traumatischer Erfahrung" geschaffen und soll nur gestellt werden, wenn sie auf
eine "tiefgreifende existenzielle extreme Erfahrung zurückgeführt werden kann" (Zitat aus ICD-10) und nicht auf einer
vorbestehenden Persönlichkeitsstörung fußt. Auch wenn die zwanzigminütige Bedrohung des Klägers anlässlich des
Überfalls subjektiv lebensbedrohlich gewesen ist, ist dieses Erlebnis einer KZ-Haft oder einer Extremerfahrung wie
Folter über einen langen Zeitraum keineswegs vergleichbar.
Nach alledem steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger unter einer rezidivierenden depressiven
Störung mit gegenwärtig mittelgradiger bis schwerer Episode leidet.
Das Unfallgeschehen ist auch kausal für die psychische Erkrankung des Klägers. Für die Gewährung von Leistungen
aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist es erforderlich, dass sowohl zwischen der unfallbringenden Tätigkeit und
dem Unfallereignis als auch zwischen dem Unfallereignis und der Gesundheitsschädigung ein innerer ursächlicher
Zusammenhang besteht. Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, der Arbeitsunfall und die Gesundheitsschädigung im
Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - nachgewiesen werden, während für
den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung für die Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im
Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende)
Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BSG Urteil
vom 02. Mai 2001, Az. B 2 U 16/00 R, SozR 3-2200 § 551 RVO Nr. 16 m. w. N.). Eine solche Wahrscheinlichkeit ist
anzunehmen, wenn nach vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Faktoren
ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass die richterliche Überzeugung hierauf gestützt werden kann (BSG, Urteil
vom 06. April 1989, Az. 2 RU 69/87, zitiert nach iuris; Urteil vom 02. Februar 1978, Az. 8 RU 66/77, BSGE 45, 285,
286).
Unter Beachtung dieser Grundsätze ist zur Überzeugung des Senats die bei dem Kläger vorliegende psychische
Erkrankung auch über den 31. Dezember 2002 hinaus hinreichend wahrscheinlich auf den Überfall am 25. August
2002 und damit auf den Arbeitsunfall zurückzuführen.
Eine klinisch manifeste vorbestehende psychische Erkrankung oder eine psychische Schadensanlage, die so leicht
ansprechbar gewesen wäre, dass sie durch austauschbare Ereignisse hätte ausgelöst werden können, lässt sich im
vorliegenden Verfahren trotz der Mutmaßungen des Dr. Dr. W und des Dr. At zur Überzeugung des Senats nicht
feststellen.
Eine zwanghafte Persönlichkeitsstruktur des Klägers vor dem Unfall lässt sich nicht feststellen, insoweit kann auf das
oben gesagte verwiesen werden.
Soweit Dr. Dr. W auf die Frage nach einer bereits vor dem Unfallzeitpunkt relevanten psychischen Erkrankung auf
eine mehrmonatige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im vierten Quartal 2001 wegen eines Verdachts auf "Multiple
Sklerose" (chronisch entzündliche Entmarkungserkrankung des zentralen Nervensystems) verweist, überzeugt dies
den Senat nicht, da die Multiple Sklerose keine psychische Erkrankung darstellt. Der den Kläger behandelnde
Facharzt für Allgemeinmedizin B hat mit Attest vom 9. August 2004 ausgeführt, dass der Kläger vom 11. September
2001 bis zum 27. Dezember 2001 wegen Magenbeschwerden, Schluckbeschwerden und Schwindel in Behandlung war
und schließlich am 26. November 2001 und am 1. Dezember 2001 operiert wurde.
Soweit der Sachverständige Dr. A davon ausgeht, dass eine Neigung zu "Stress" darüber hinaus seit Jahren bestehe
und hierzu ausführt, dass der Kläger schon zweimal, nämlich 1987 und 1993, stationäre Rehabilitationsmaßnahmen
wegen chronischer Schmerzen im Bereich des Knochen- und Gelenkssystems mit Schwerpunkt Wirbelsäule
absolviert habe, kann der Senat dem schon deshalb nicht folgen, weil die Beklagte trotz intensiver Recherchen eine
stationäre Rehabilitationsmaßnahme 1993 gar nicht bestätigen konnte, da weder die BfA noch die LVA noch die
angebliche Rehabilitationsklinik eine Rehabilitationsmaßnahme bestätigen konnten. Auch Unterlagen über eine
Rehabilitationsmaßnahme 1987 ließen sich nicht mehr finden, da diese - unterstellt eine Rehabilitationsmaßnahme
habe stattgefunden - bereits vernichtet wären. Selbst wenn der Kläger, wie von Dr. A unterstellt, wegen
Wirbelsäulenbeschwerden in Behandlung gewesen sein sollte, stellt dies für den Senat keine psychische Erkrankung
dar. Auch die von Dr. A genannten Behandlungen wegen teilweise lang anhaltender Schwindelgefühle und ähnlicher
psychosomatischer Beschwerden, die seiner Ansicht nach eindeutige Anzeichen einer Neigung zu
psychosomatischen Reaktionen beziehungsweise vegetativer Instabilität sind, lassen sich den Akten nicht
entnehmen. Ähnlich verhält es sich mit den Sehstörungen und der notfallmäßigen Behandlung im Krankenhaus.
Eine tatsächlich vorbestehende Erkrankung des Klägers auf psychiatrischem Gebiet lässt sich nach alledem nicht
feststellen.
Zum Unfall zeitgleich konkurrierende oder nach dem Unfall einsetzende Ursachen, die vergleichbare psychische
Störungen hätten hervorrufen können, sind ebenfalls nicht bekannt und wurden von sämtlichen Gutachtern gleichfalls
nicht festgestellt. Auch die durch den Sachverständigen Dr. M durchgeführte ausführliche biografische Anamnese
ergab keine besonderen belastenden Ereignisse oder Faktoren, die eine anderweitige Veranlassung der festgestellten
psychischen Störungen wahrscheinlich machen könnte.
Da also weder vorbestehende noch konkurrierende oder später einsetzende unfallfremde Ursachen nachgewiesen
sind, bleibt als einzige bekannte Ursache der Unfall übrig. Dabei steht das Fortbestehen der posttraumatischen
Belastungsstörung und der Depression vollständig im Einklang mit dem auslösenden Ereignis des Unfalls und dem
Verlust der Arbeitsfähigkeit als Zugführer. Es überrascht allein die Schwere und die Dauer der Störung. Diese erklärt
der Sachverständige Dr. M für den Senat überzeugend und nachvollziehbar damit, das der Kläger ein recht rigides und
idealisierendes Selbstbild hat und die psychische Störung als Beschämung erlebt, was zur Vermeidung führt und
damit die Genesung erschwert. Dies ist jedoch nicht als vorbestehende psychische Krankheit einzuordnen, sondern
als eine Konstellation, die den Heilungsprozess erschwert hat, ohne selbst eine psychische Krankheit zu sein.
Ähnliche Überlegungen hatte bereits die Klinik Sch in ihrem Bericht vom 21. Oktober 2002 angestellt und ausgeführt,
auffällig sei der hohe Perfektionismusanspruch des Klägers sowie die vorhandene narzisstische Kränkung (durch die
Patientenrolle und die erlebte Hilflosigkeit während des traumatischen Erlebnisses). Dies sei als Ursache für das
Fortbestehen der Erkrankung und als aufrechterhaltender Faktor für die psychischen Störungen zu werten
Zur Überzeugung des Senats beträgt die MdE ab 23. Februar 2003 (Ende der Verletztengeldzahlung) 40 v.H ...
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bezeichnet den durch die körperlichen, seelischen und geistigen Folgen
des Versicherungsfalles bedingten Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§
56 Abs. 2 SGB VII). Steht die unfallbedingte Leistungseinbuße fest, so ist zu bewerten, wie sie sich im allgemeinen
Erwerbsleben auswirkt (BSG, Urteil vom 29. November 1956, Az: 2 RU 121/56, BSGE 4, 147, 149; Urteil vom 27.
Juni 2000, Az: B 2 U 14/99 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 7; Urteil vom 02. Mai 2001, Az: B 2 U 24/00 R, SozR 3-2200 §
581 Nr. 8). Dabei sind die medizinischen und sonstigen Erfahrungssätze ebenso zu beachten wie die
Gesamtumstände des Einzelfalles (vgl. BSG, Urteil vom 02. Mai 2001, Az. B 2 U 24/00, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8).
Wie weit die Unfallfolgen bzw. die Folgen der anerkannten Berufskrankheit die körperlichen und geistigen Fähigkeiten
des Versicherten beeinträchtigen, beurteilt sich in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Um die MdE
einzuschätzen sind die Erfahrungssätze zu beachten, die die Rechtsprechung und das versicherungsrechtliche sowie
versicherungsmedizinische Schrifttum herausgearbeitet haben. Auch wenn diese Erfahrungssätze das Gericht im
Einzelfall nicht binden, so bilden sie doch die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in
zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis (BSG, Urteil vom 26. Juni 1985, Az: 2 RU 60/84, SozR 2200 § 581 Nr.
23; Urteil vom 26. November 1987, Az: 2 RU 22/87, SozR 2200 § 581 Nr. 27; Urteil vom 30. Juni 1998, Az: B 2 U
41/97 R, SozR 3-2200 § 581 Nr. 5; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 56 SGB VII Rn. 10.3).
Sie sind in Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst und bilden die Basis für einen Vorschlag, den der
medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet. Hierdurch wird gewährleistet, dass alle Betroffenen
nach einheitlichen Kriterien begutachtet und beurteilt werden. Insoweit bilden sie ein geeignetes Hilfsmittel zur
Einschätzung der MdE (vgl. BSG, Urteil vom 19. Dezember 2000, Az: B 2 U 49/99 R, HVBG-INFO 2001, 499, 500
ff.).
Unter Beachtung dieser Grundsätze ist die MdE wie dargestellt zu bemessen. Der Senat folgt hinsichtlich der
Einschätzung der MdE dem Gutachten des Sachverständigen Dr. M. In der einschlägigen unfallrechtlichen Literatur
werden folgende Abstufungen gebildet:
Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (zum Beispiel
manche Phobien, pathologische Entwicklungsstörungen) MdE 20-40
Schwere Störungen mit erheblichen sozialen Anpassungsschwierigkeiten MdE 50-100.
Bei dem Kläger liegt eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und
Gestaltungsfähigkeit im oberen Bereich vor, so dass die MdE mit 40 v.H. zutreffend zu bewerten ist. Erhebliche
soziale Anpassungsschwierigkeiten wie bei einer schweren Störung liegen andererseits nicht vor, da etwa im
Freizeitbereich noch gewisse Aktivitäten möglich sind und sich auch anlässlich der Untersuchung durch den
Sachverständigen Dr. M im psychischen Befund zumindest zeitweilige Auflockerung herstellte.
Liegt nach alledem über den 31. Dezember 2002 hinaus eine Arbeitsunfallfolge weiterhin vor, so hat die Beklagte dem
Kläger insoweit auch Heilbehandlung zu gewähren.
Nach alledem ist der Berufung stattzugeben.
Die Kostenentscheidung findet ihre Grundlage in § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und trägt dem Ausgang des
Verfahrens Rechnung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG genannten Gründe vorliegt.