Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 24.04.2007
LSG Berlin und Brandenburg: juristische person, aufschiebende wirkung, entsendung, versicherungspflicht, vollziehung, zweigniederlassung, anfechtungsklage, arbeitsentgelt, härte, interessenabwägung
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 24.04.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 86 KR 1199/04 ER 05
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 1 B 1030/05 KR ER
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 24. Juni 2005 wird aufgehoben. Der Antrag wird zurückgewiesen. Die
Antragsstellerin trägt die Kosten des Verfahrens. Der Streitwert wird für beide Instanzen auf jeweils 17.454,73 EUR
festgesetzt.
Gründe:
I.
Zum Sachverhalt wird auf die Darstellung im angegriffenen Beschluss des Sozialgerichts Berlin (SG) verwiesen. Die
Klage gegen die polnische Verbindungsstelle (ZUS) ist nach wie vor vor dem Bezirksgericht in Wroclaw rechtshängig.
II.
Die gemäß § 172 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Beschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 173 SGG)
und damit insgesamt zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
Nach § 86a Abs.1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Diese Wirkung
entfällt bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umla¬gepflichten sowie der Anforderung von
Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abga¬ben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten (§ 86a
Abs. 2 Nr. 1 SGG). Hier handelt es sich um einen Prüfbescheid gemäß § 28p Sozialgesetzbuch 4. Buch (SGB IV),
mit dem die Antragsgegnerin Beiträge geltend macht. Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann jedoch das
Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG durch Beschluss die Aussetzung der
Vollziehung anordnen. Es handelt sich um eine gerichtliche Interessenabwägung nach pflichtgemäßem Ermessen, bei
welcher die für und gegen einen Sofortvollzug sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen sind.
Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kommt in der Regel nur in
Betracht, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn
seine Vollziehung für den betroffenen Zahlungspflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche
Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Anhaltspunkte für eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche
Interessen gebotene Härte als Folge der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Prüfungs- und
Beitragsnachforderungsbescheides nach § 28p SGB IV sind nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich.
Durchgreifende Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Festsetzungen der Antragsgegnerin bestehen ebenfalls nicht. Nach
Auffassung des Senats wird das Hauptsacheverfahren für die Antragstellerin voraussichtlich ohne Erfolg enden. Die
Interessenabwägung fällt deshalb zu ihren Ungunsten aus.
Es sind nach § 3 Nr. 1 SGB IV die deutschen Vorschriften über die Versicherungspflicht anzuwenden, weil die
Arbeitnehmer der Antragstellerin im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches beschäftigt gewesen sind:
Es ist nicht ersichtlich, dass aufgrund der Vorschriften des nach § 6 SGB IV vorrangigen damals gültigen
Abkommens vom 25. 4. 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die
Sozialversicherung von Arbeitnehmern, die in das Gebiet des anderen Staates vorübergehend entsandt werden (BGBl
II 1974, 926; Entsendeabkommen), entgegen der Annahme der Antragsgegnerin keine normale Versicherungspflicht
der Antragstellerin bestanden hat.
Es gibt nämlich keine (gültigen) Entsendebescheinigungen "D/Pl 101", welche bescheinigen würden, die Arbeitnehmer
der Antragstellerin hätten gemäß Art. 4 oder 6 des Entsendeabkommens nur der polnischen Sozialversicherung
unterlegen. Eine derartige Bescheinigung bindet den zuständigen Träger und die Gerichte des Staates, in den die
Arbeitnehmer entsandt worden sind, (nur) solange sie nicht von den Behörden des Ausstellungsstaates
zurückgezogen oder für ungültig erklärt wurde, vgl. Urteil des EuGH vom 26. Januar 2006 in der Rechtssache C –
2/05 Rdnr. 33 zur entsprechenden Bescheinigung E 101. Eine solche Situation einer ungültigen
Entsendebescheinigung liegt hier vor: Die von der polnischen Verbindungsstelle ZUS (Sozialversicherungsanstalt,
Abteilung in Wroclaw) ausgestellten Entsendebescheinigungen sind (vom Vorgang her unstreitig) von der ZUS am 2.
12. 2002 annulliert worden. Ausweislich des von der Antragstellerin im Widerspruchsverfahren eingereichten Antrages
hat sie mit Schreiben vom 1. August 2003 bei der ZUS "einen Verwaltungsakt bezüglich der Ungültigkeitserklärung
der Bescheinigungen D/Pl 101, die zugunsten der Gesellschaft für den Zeitraum von Juli bis Dezember 2001
ausgestellt wurden", beantragt, der Sache nach also, die Annullierung ihrerseits wieder aufzuheben. Sie hat ferner im
Januar 2004 beim Bezirksgericht in Wroclaw Klage auf Feststellung eingereicht, dass sich die Pflicht zur
Sozialversicherung nach polnischem Sozialversicherungsrecht richte.
Von einer aufschiebenden Wirkung des Schreibens vom 1. August 2003 bzw. der Feststellungsklage, die es auch
nach deutschem Prozessrecht nicht gäbe -§ 86 a Abs. 1 SGG sieht eine solche nur bei einer Anfechtungsklage bzw.
einem entsprechenden Widerspruch vor – ist nicht auszugehen. Es wird nicht fingiert, dass ein Fall des Art. 4 des
Entsendeabkommens vorliegt.
Es ist weiter nicht ersichtlich, dass auch ohne die entsprechende Bescheinigung von einer Entsendung im Sinne des
Art. 4 Abs. 1 Entsendeabkommen und/oder von einer Einstrahlung im Sinne des § 5 Abs. 1 SGB IV ausgegangen
werden kann. Die Tätigkeiten erfolgten vielmehr in Deutschland für die deutsche Niederlassung der Antragstellerin:
Nach der Absprache vom 24. November 2000 zwischen dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung der
Bundesrepublik Deutschland und dem Ministerium für Arbeit und Sozialpolitik der Republik Polen liegt eine
Entsendung im Sinne des Entsendeabkommens nach Nr. 2 der Grundsätze nicht vor, wenn der Arbeitsvertrag
zwischen dem Arbeitnehmer und dem Tochterunternehmen besteht und sich der arbeitsvertragliche Geldanspruch
gegen dieses Tochterunternehmen richtet. In positiver Hinsicht setzt nach Nr. 1 der Grundsätze eine Entsendung
voraus, dass sich der Arbeitnehmer auf Weisung seines inländischen Arbeitgebers vorübergehend auf das Gebiet des
anderen Staates begibt, um dort eine Tätigkeit für diesen Arbeitgeber auszuüben. Das Arbeitsverhältnis muss
fortbestehen. Der arbeitsvertragliche Entgeltanspruch muss sich gegen diesen Arbeitgeber richten. Ferner setzt eine
Entsendung voraus, dass das entsendende Unternehmen im Entsendestaat eine nennenswerte Geschäftstätigkeit
ausübt und dort üblicherweise Personal beschäftigt. Wie die Antragsgegnerin in den angegriffenen Bescheiden, auf die
verwiesen wird, zutreffend dargestellt hat, ergibt sich hier aus einer ganzen Reihe von Indizien, dass die
Antragstellerin in Wroclaw keinen nennenswerten Unternehmensbetrieb unterhalten hat und dass die jeweils
überwiegende Anzahl der Arbeitnehmer (nur) in Deutschland tätig war. Die Indizien sind als solche auch nicht
bestritten. Nach der Auskunft der ZUS vom 10. Dezember 2002 waren sogar alle 10 Mitarbeiter, für die
Sozialversicherungsbeiträge entrichtet wurden, für eine befristete Zeit zur Beschäftigung nach Deutschland entsandt.
Zutreffend ist ferner ausgeführt, dass viel dafür spricht, dass das Arbeitsverhältnis nur mit der deutschen
Niederlassung geschlossen wurde, es sich also bei den eingereichten Verträgen mit der Antragstellerin selbst um
Scheinverträge gehandelt hat.
Ob die Bescheinigungen überhaupt einmal Fiktionswirkung hatten, kann dahingestellt bleiben. Dagegen könnte
sprechen, dass als Arbeitsstellen nicht die tatsächlichen Baustellen eingetragen sind, sondern der Geschäftssitz der
Niederlassung. An dieser wurden jedoch nie Fassadenarbeiten durchgeführt.
Es kann auch nicht von einem Fall der Einstrahlung nach § 5 SGB IV ausgegangen werden. Eine solche liegt nicht
vor, wenn -wie mutmaßlich hier- ein ausländischer Betrieb Arbeitnehmer an eine inländische Zweigniederlassung
entsendet, diese in den Betrieb der Zweigniederlassung eingegliedert sind und von ihr das Arbeitsentgelt erhalten,
auch wenn diese Zweigniederlassung keine eigene juristische Person darstellt (vgl. zutreffend BSG, Urteil vom 1. Juli
1979 – B 12 KR 2/99 R – BSGE 84, 136, 138f).
Sonstige Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Prüfbescheides bzw. dessen konkreten Festsetzungen
nach § 28 p Abs. 1 Satz 5 SGB IV, insbesondere hinsichtlich der Höhe der Nachforderungen, sind nicht vorgetragen
oder ersichtlich. So entspricht es insbesondere der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung, bei der
Unterschreitung verbindlicher Mindestlöhne die Versicherungspflicht nach dem zustehenden und nicht lediglich nach
dem zugeflossenen Arbeitsentgelt zu beurteilen (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 14. 7. 2004 – B 12 KR 1/04 R – BSGE
93, 119, 123f).
Zur Kostentragungspflicht und zur Streitwertfestsetzung wird auf die insoweit zutreffenden Ausführungen im
Beschluss des SG vom 24. Juli 2005 verwiesen.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).