Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 27.09.2007

LSG Berlin und Brandenburg: ordre public, behörde, botschaft, wohnung, legalisation, arbeitserlaubnis, registrierung, heirat, hauptsache, muslim

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 27.09.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 114 AS 11236/07 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 32 B 1558/07 AS ER
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Juli 2007 wird geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den
Antragstellern zu 2) und 3) vorläufig für September 2007 Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld nebst Kosten der
Unterkunft, soweit letztere noch nicht dem Antragsteller zu 1) gewährt wurde, nach Maßgabe der gesetzlichen
Vorschriften und den nachfolgenden Ausführungen zu erbringen. Der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes und die Beschwerde insoweit werden im Übrigen zurückgewiesen. Soweit beantragt wurde,
Mietschulden als Darlehen zu übernehmen, wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat den
Antragsstellern die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des gesamten Eilverfahrens zu erstatten.
Gründe:
1.) Die Beschwerde, der das Sozialgericht (SG) nicht abgeholfen hat, ist zulässig. Dem Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung fehlt jedenfalls bis jetzt nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Es ist zwar auch in Eilfällen nicht
Aufgabe des Gerichts, an die Stelle der Behörde zu treten. Ein Eilantrag vor Gericht setzt grundsätzlich eine vorherige
Befassung der Behörde voraus. Den Antragstellern ist aber zuzugeben, dass nach Aktenlage der Antragsgegner der
Auffassung ist, den Antragstellern zu 2 ) und 3) stünden keine Leistungen zu, so dass ein Antrag auf eine vorläufige
Gewährung, einen Vorschuss oder ähnliches keinen Sinn macht. Ganz allgemein gilt, dass ausnahmsweise ein
Rechtsschutzbedürfnis für eine einstweilige Anordnung vorliegt, auch wenn vorher bei der Behörde kein Antrag auf die
Leistung gestellt worden ist, wenn mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden muss, dass die
zuständige Behörde einen entsprechenden förmlichen Antrag nicht positiv bescheiden würde (vgl. Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage, § 86 b, Rdnr. 26 b). Es ist den
Antragstellern aber zuzumuten, für die Zeit ab Oktober zunächst förmlich Leistungen zu beantragen.
Die Antragsteller begehren im Wege der zulässigen Antragshäufung (§ 56 Sozialgerichtsgesetz [SGG] entspr.) zum
einen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes und dabei primär die (inzidente) Feststellung grundsätzlicher
Leistungsberechtigung der Antragsteller zu 2) und 3). Insoweit ist die Beschwerde teilweise begründet. Zum anderen
soll der Antragsgegner darlehensweise Mietschulden übernehmen. Dies hat das SG zutreffend abgelehnt:
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur
Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierbei dürfen Entscheidungen grundsätzlich sowohl auf eine
Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden.
Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare
Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte nur
an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht
dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer
Folgenabwägung zu entscheiden (ständige Rechtsprechung des Senats, siehe auch Bundesverfassungsgericht,
Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 -). Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz stellt insbesondere dann besondere
Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn das einstweilige Verfahren vollständig die Bedeutung
des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines
Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose regelmäßig der Fall
ist.
2. Ob den Antragstellern zu 2) und 3) tatsächlich Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) zustehen,
kann hier nicht ermittelt werden. Es spricht aber so viel dafür, dass eine Leistungsversagung nach Maßgabe des
Tenors unzumutbar wäre:
Noch nicht klar ist hier zwar bereits, ob die Antragsteller ihren nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II erforderlichen
gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. Daran bestehen Zweifel, weil sich die Antragsteller das ihnen
mutmaßlich als Unionsbürgern zustehende Aufenthaltsrecht bislang nicht haben bescheinigen lassen. Der neue
Reisepass der Antragstellerin zu 2) ist jedenfalls nicht von der Botschaft in Berlin ausgestellt worden, obwohl die
Antragstellerin angibt, dort bereits seit März 2005 zu wohnen, sondern im November 2006 in R. Auch die nach
Aktenlage für die Familie zu kleine Wohnung könnte darauf hindeuten, dass sich diese nicht allzu oft dort zu dritt
aufhält. Auch die Einkommensverhältnisse sind noch nicht abschließend geklärt. Nur für die vorläufige Verpflichtung
kann und muss (nur) von den im letzten Schriftsatz (auch erst auf ausdrückliche Nachfrage hin offenbarten)
Einnahmen von 300,- EUR Erziehungsgeld, 154,- EUR Kindergeld sowie 150,- EUR Verdienst aus
nichtselbstständiger Tätigkeit des Antragstellers zu 1) ausgegangen werden. Im Hauptsacheverfahren ist auch noch
zu klären, ob vom Antragsteller zu 1) überhaupt ernstlich Miete verlangt wird (siehe dazu unten).
Die Antragsteller zu 2) und 3) sind jedoch entgegen der Annahme des Antragsgegners und des SG vorläufig als
Anspruchsberechtigte nach § 7 Abs. 2, Abs. 3 Nr. 3 a) (Ehegatte) bzw. Nr. 4 (Kind) anzusehen. Ihnen steht
Arbeitslosengeld II nach § 19 SGB II (Antragstellerin zu 2)) zu bzw. Sozialgeld nach § 28 SGB I (Antragstellerin zu
3)).
Es ist von einer wirksamen Ehe auszugehen. Eine Eheschließung im Ausland ist für den deutschen Rechtsbereich
wirksam, wenn sie der Ortsform entspricht. Die Anlegung eines Familienbuches in Deutschland (§ 15a
Personenstandsgesetz) ist nicht konstitutiv. Für Willenserklärungen gilt nämlich nach Art. 11 Einführungsgesetz zum
Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) das Recht des Staates, in dem sie vorgenommen werden. U. a. in arabischen
Ländern ohne Zivilstandesämter ist eine Heirat -wie sie hier nach Aktenlage vor dem Jaafaritischen Schariagericht
Beirut erfolgt ist- durch Stellvertreter möglich (sogenannte Handschuhehe, vgl. dazu allgemein, insbesondere zur
Vereinbarkeit mit dem ordre public: KG, B. v. 22. 4. 2004 - 1 W 173/03 NJOZ 2004, 2138f). Nach Art. 11 Abs. 3
EGBGB gilt ausdrücklich das Recht des Ortes, an dem sich die Vertreter befinden. Die staatliche Registrierung durch
Ausstellung der Heiratsurkunde ist hier erfolgt, ebenso wie die Überbeglaubigung in Form der Legalisation durch die
deutsche Botschaft in Beirut. Eine Registrierung oder Anerkennung einer im Ausland geschlossenen Ehe ist
personenstandsrechtlich nicht vorgesehen. Die Zweifel an der Rechtsgültigkeit, welche die Botschaft anlässlich der
Legalisation geäußert hat, beziehen sich (nur) auf den Verdacht, dass die Ehe in Wahrheit in Deutschland
geschlossen sein könnte. Eine Heirat in Deutschland ist nur nach hiesigem Recht möglich, Art. 13 Abs. 3 Satz 1
EGBGB, also nur vor dem Standesamt und nicht im Rahmen einer religiösen Zeremonie. Es ist weiter nicht
ersichtlich, dass die Eheschließung in Beirut nach dortigem Recht ungültig sein könnte (etwa weil eine Eheschließung
vor dem Schariagericht zwischen einem Muslim und einer Nichtmuslimin nicht möglich sein könnte). Es gibt
schließlich auch keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die Antragstellerin zu 1) und 2) nicht die Eltern der
Antragstellerin zu 3) sind.
Die Antragstellerin zu 2) ist bei der einzig möglichen summarischen Betrachtung als erwerbsfähig im Sinne des § 7
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 8 Abs. 1 SGB II anzusehen: § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II steht Leistungen nicht entgegen. Sie hält
sich nicht (nur) zur Arbeitssuche in Deutschland aus. Sie will hier bei ihrem Mann und Kind sein. Die Erteilung einer
Arbeitserlaubnis ist auch nicht nach § 8 Abs. 2 SGB II ausgeschlossen. Ihr könnte vielmehr nach § 284 Abs. 1 und
Abs. 2 Sozialgesetzbuch 3. Buch (Arbeitsgenehmigung-EU für Staatsangehörige der neuen EU-Mitgliedstaaten) in
Verbindung mit § 39 Abs. 2-4, 6 Aufenthaltsgesetz eine Arbeitserlaubnis erteilt werden. Da die theoretische
Möglichkeit ausreicht, ist unerheblich, dass die Bundesagentur für Arbeit nach dem Vorbringen der Antragssteller die
Zustimmung nach § 39 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz für einen entsprechenden Aufenthaltstitel wohl nicht erteilen will.
Das Kind ist nicht erwerbsfähig und hat deshalb Anspruch auf Sozialgeld nach § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB II.
Die vorläufigen Leistungen sind nur für den laufenden Monat ab dem Zeitpunkt dieses Beschlusses zu gewähren, da
nur für die Befriedigung des gegenwärtigen und zukünftigen Bedarfes die besondere Dringlichkeit einer vorläufigen
Entscheidung gegeben ist. Für eine rückwirkende Gewährung für die Zeit vor dem jetzt laufenden Monat fehlt es an
einer entsprechenden konkreten Begründung. Ob den Antragstellern wirklich Bezüge zustehen, mit denen sie dann
ihre Mietschulden teilweise decken können, kann im Hauptsacheverfahren geklärt werden. Das Mietverhältnis ist noch
nicht einmal gekündigt. Um die einstweilige Klärung der Leistungsberechtigung der Antragsteller zu 2) und 3) nicht
noch weiter hinauszuzögern, hat der Senat von weiteren Ermittlungen zur konkreten Höhe der Leistungen abgesehen.
3. Eine einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur darlehensweise Übernahme der Mietschulden nach § 22
Abs. 5 SGB II scheidet aus. Es drohen aktuell weder Wohnungs- noch Obdachlosigkeit, weil das Mietverhältnis noch
nicht einmal gekündigt ist, so dass ein Abwarten des Ausgangs des Hauptsacheverfahrens noch zumutbar ist. Weiter
sind Rechts- und Ermessensfehler im Ablehnungsbescheid vom 23. Mai 2007 nicht ersichtlich. Es ergibt keinen Sinn,
die Mietschulden für eine Wohnung zu übernehmen, die auf Dauer zu klein ist. Außerdem nimmt nach Aktenlage der
Antragsteller zu 1) seine Zahlungspflichten ganz allgemein wohl zu wenig ernst. Die Prognose, dass dies auch künftig
der Fall sein wird und deshalb die konkrete Wohnung nicht gehalten werden wird, scheint deshalb nicht falsch zu sein.
4. Die Kostenentscheidungen folgen aus entsprechender Anwendung des § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Hinsichtlich des Antrages auf Leistungen entspricht es billigem Ermessen, dem Antragsgegner die Kosten voll
aufzuerlegen, weil die Antragsteller im Wesentlichen Erfolg gehabt haben. Die Zurückweisung ist primär dem
Zeitablauf geschuldet.
Gegen diese Entscheidung ist die Beschwerde an das Bundessozialgericht nicht gegeben (§ 177 SGG).