Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 05.01.2000
LSG Berlin und Brandenburg: innere medizin, auskunft, körperpflege, wohnung, ernährung, versorgung, gesundheitszustand, operation, rollstuhl, aufwand
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 05.01.2000 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 73 P 404/96
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 17 P 15/99
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 15. März 1999 wird
zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig sind Leistungen der Pflegestufe III an die Klägerin ab 1. April 1995.
Die 1942 geborene Klägerin leidet nach der Operation eines Hirntumors an einer Parese beider Beine, an
Koordinationsstörungen der Arme und an einer geistigen Behinderung. Die Klägerin bezog Leistungen nach § 53 des
Sozialgesetzbuches Fünftes Buch (SGB V), die in Leistungen der Pflegestufe II übergeleitet wurden. Sie beantragte
bereits am 12. August 1994, ihr nach dem zum 1. April 1995 in Kraft tretenden Pflegeversicherungsgesetz Leistungen
der Pflegestufe III zu gewähren.
Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung der Klägerin durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung
(MDK). In dem Gutachten der Ärztin für Sozialhygiene, Sozialmedizin Dr. N-I vom 22. Februar 1995 heißt es, der
Umfang des Fremdhilfebedarfes entspreche weiterhin den Kriterien der Schwerpflegebedürftigkeit entsprechend SGB
V § 53, sowie aber auch denen nach SGB XI § 15 (1) 2. Eine medizinische Begründung für Stufe III liege nicht vor,
gelegentliches nächtliches Zudecken könne nicht als rund-um-die-Uhr-Betreuung angesehen werden.
Durch Bescheid der Beklagten vom 12. Juli 1995 wurde der Antrag auf Gewährung von Leistungen der Pflegestufe III
abgelehnt. Auf den Widerspruch der Klägerin empfahl der MDK die Durchführung einer erneuten Begutachtung. Diese
wurde am 28. November 1995 durch die Ärztin N1 N2 durchgeführt. Die Ärztin stellte fest, dass die Klägerin in allen
Bereichen des täglichen Lebens (auch nachts) auf die persönliche Hilfe ihres Ehemannes angewiesen sei. Der
pflegerische Aufwand pro Tag betrage jedoch auch unter Berücksichtigung des nächtlichen Hilfebedarfs nur ca. 200
Minuten. Die Voraussetzungen der Pflegestufe III seien nicht gegeben.
Durch Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 1996 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zwar bestünde bei der
Klägerin auch täglich rund-um-die-Uhr, d.h. auch nachts ein Pflegebedarf. Dieser betrage jedoch nicht im
Tagesdurchschnitt fünf Stunden. Aus der Gewährung der Pflegestufe IV nach dem Berliner Pflegeleistungsgesetz
könne nicht geschlossen werden, dass ein Pflege- und Hilfebedarf entsprechend der Pflegestufe III des
Pflegeversicherungsgesetzes bestehe, da die Zugangskriterien zu den Pflegestufen in diesen beiden Gesetzen
unterschiedlich geregelt seien.
Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Berlin Befundberichte des behandelnden Nervenarztes - Arzt
für Psychotherapie - MR Dr. med. L und der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. Q eingeholt und den Ehemann der
Klägerin in der Zeit vom 4. Oktober 1996 bis 3. November 1996 ein Pflegetagebuch erstellen lassen. Im Anschluss
daran hat das Sozialgericht die Fachärztin für Innere Medizin Dr. L1 mit der Erstellung eines
Sachverständigengutachtens beauftragt. In ihrem Gutachten vom 5. Mai 1998 hat die Sachverständige folgende
Krankheiten und Behinderungen bei der Klägerin festgestellt:
ausgeprägte ataktische Störung der Extremitäten nach Operation wegen Hirntumor 1986,
Sprachstörungen (Dysatrie, Aphasie),
Sehstörungen in Form von Doppelbildern,
Gang- und Standunfähigkeit,
arterieller Hypertonus,
mäßige Hyperlipidämie,
chronische Obstipation.
Es seien gegenüber den vorliegenden ärztlichen Unterlagen keine neuen Befunde erhoben worden. Die
Sachverständige hat den folgenden notwendigen Pflegebedarf ermittelt:
Im Bereich der Körperpflege: Tag
Waschen: morgens 15 Min.; abends 4x/Woche je 10 Min.; entspr. 40 Min./Woche21
Duschen: entfällt 0
Baden: 3x/Woche 20.Min. inkl. Transferleistungen 9
Zahnpflege: morgens und abends je 1 Min. 2
Kämmen: morgens und abends je 1 Min. 2
Darm- und Blasenentleerung: 6x5 Min. inkl. Transfer und Nachsäubern30
Gesamt69
Im Bereich der Ernährung:
Mundgerechte Zubereitung: 4x2 Min./Tag 8
Nahrungsaufnahme: entfällt 0
Gesamt 8
Im Bereich der Mobilität
Aufstehen und Zubettgehen: morgens 2 Min., abends 3 Min. 5
An- und Auskleiden: morgens 15 Min.; abends 5 Min.20
Gehen: Transport der Ehefrau im Rollstuhl in der Wohnung 5
Stehen: Transferleistungen Rollstuhl/Sessel 5x/Tag (nach Toilettengang, Mittagessen) 5
Treppensteigen: entfällt 0
Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung: Apothekengang 30 Min./Monat 1
Gesamt36
Gesamtbedarf Grundpflege in Minuten 113
Im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung
Einkaufen:10
Kochen:20
Reinigen der Wohnung:35
Spülen:15
Wechseln von Bettwäsche und Waschen von Wäsche und Kleidung:15
Beheizen: entfällt 0
Gesamt95
Gesamtbedarf Pflege in Minuten 208
Die Sachverständige ergänzt, dass sie mit ihrer Einschätzung des täglichen Pflegebedarfs nur unwesentlich von den
Gutachten des MDK abweiche. Sie komme lediglich auf einen um 11 Minuten höher liegenden Pflegebedarf. Dies
beruhe vermutlich auf dem höheren Anteil im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Nächtlich sei in der Regel
einmalig Hilfe beim Toilettengang erforderlich.
Durch Gerichtsbescheid vom 15. März 1999 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen
Anspruch auf Pflegeleistungen nach der Pflegestufe III, da sie die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Nr. 3 des
Sozialgesetzbuches Elftes Buch (SGB XI) in zeitlicher Hinsicht nicht erfülle. Denn der nach dem Gesetz erforderliche
Pflegeaufwand für den Bereich der Grundpflege von mehr als 240 Minuten sei im Falle der Klägerin nicht erreicht. Das
ergebe sich aus dem Gutachten der Sachverständigen Dr. L1 und stehe insoweit auch in Übereinstimmung mit den
Feststellungen der Gutachter des MDK.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung, mit der die Klägerin im Wesentlichen geltend macht, die
Feststellung der Gutachterin N2 und der Sachverständigen Dr. L1 sei falsch, dass alle Ärzte die Klägerin zu Hause
aufsuchten. Dies sei nur bei Dr. Q und MR Dr. L der Fall. Alle anderen Ärzte müssten aufgesucht werden. Der Senat
hat bei den von der Klägerin benannten Ärzten Dr. C, Dr. M, Dr. Q1, Dres. T angefragt und um Mitteilung gebeten, wie
oft die Klägerin sie in der Vergangenheit aufgesucht habe und welcher zeitliche Aufwand für einen Arztbesuch
erforderlich sei. Auf die zu den Akten genomme-nen Auskünfte dieser Ärzte wird Bezug genommen. Die Klägerin
macht geltend, als Hilfe seien im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität nicht die vom
Sozialgericht zugrunde gelegten Werte zutreffend, sondern diejenigen, die im Pflegetagebuch festgehalten worden
seien. Auch habe die mit einem Pflegeeinsatz gemäß § 37 Abs. 3 SGB XI beauftragte Pflegeeinrichtung ihre
Einstufung in die Pflegestufe III gefordert.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 15. März 1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. Juli
1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4.Juli 1996 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Pflegegeld
nach der Pflegestufe III ab dem 1. April 1995 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen. Sie hält den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für zutreffend.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der Klägerin erklärt, dass sich seit dem Gutachten von Dr. L1
im Gesundheitszustand der Klägerin keine Veränderung ergeben habe, lediglich die Gewichtszunahme habe die
weitere Pflege erschwert. Außerdem hat er eine Aufstellung über die von der Klägerin 1999 in Anspruch genommenen
Telebusfahrten vorgelegt.
Die Verwaltungsakten der Beklagten zum Aktenzeichen xxx und die Akten des Sozialgerichts Berlin zum
Aktenzeichen S 73 P 404/96 haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, sie ist jedoch nicht begründet.
Die Klägerin hat gegenwärtig noch keinen Anspruch auf Pflegeleistungen der Pflegestufe III. Der Anspruch auf ein
Pflegegeld nach § 37 SGB XI setzt für die Pflegestufe III nach § 15 Abs. 1 Ziffer 3 in Verbindung mit § 15 Abs. 3
Ziffer 3 SGB XI voraus, dass der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft
ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung
benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens fünf Stunden beträgt. Hierbei müssen auf die Grundpflege
mindestens vier Stunden entfallen. Das Sozialgericht hat zutreffend ausgeführt, dass dieser in § 15 Abs. 3 SGB XI in
der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (1. SGB
XI Änderungsgesetz vom 14.Juni 1996 - BGBl. I S. 830 -) genau umschriebene zeitliche Bedarf, der nach der
Fassung des Gesetzes erst seit dem 25. Juni 1996 gilt, auch für die Zeit davor, d.h. für die Zeit ab 1. April 1995
anzuwenden ist, weil der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 15 Abs. 3 SGB XI die bis dahin in den Richtlinien
vorgenommene Festlegung gebilligt und lediglich we-gen der größeren Transparenz für die Versicherten nunmehr
gesetzlich festgeschrieben hat (vgl. BSG in SozR 3-3300 § 14 Nr. 6).
Die Klägerin erfüllt diese gesetzlichen Vorgaben für ein Pflegegeld nach der Pflegestufe III nicht. Das Sozialgericht
hat ausführlich und mit eingehender Begründung dargelegt, weshalb den Feststellungen der Sachverständigen Dr. L1
zum zeitlichen Pflegebedarf im Falle der Klägerin zu folgen ist. Das Gericht sieht, um Wiederholungen zu vermeiden,
insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe nach § 153 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes
(SGG) ab und nimmt auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug.
Auch der mit der Berufung vorgetragene Einwand, die Gutachterin N2 bzw. die Sachverständige Dr. L1 seien zu
Unrecht davon ausgegangen, dass alle die Klägerin behandelnden Ärzte sie zu Hause aufsuchten, führt zu keiner
Erhöhung des berücksichtigungsfähigen Pflegeaufwandes. Zwar ist der Besuch von Ärzten als Hilfebedarf im Bereich
der Mobilität grundsätzlich berücksichtigungsfähig. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind jedoch
nur solche Arztbesuche im Rahmen der §§ 14, 15 SGB XI in den zeitlichen Pflegebedarf einzubeziehen, die
mindestens einmal wöchentlich stattfinden (BSG vom 29. April 1999 - B 3 P 13/98 R - S. 7 des amtlichen Umdrucks).
Dies ist bei den von der Klägerin mit der Berufung benannten weiteren Ärzten nicht der Fall. Der Zahnarzt Dr. C ist
laut seiner Auskunft vom 1. Juli 1999 von der Klägerin letztmalig im März 1999 aufgesucht worden. Die Ärztin für
Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde Dr. M sucht die Klägerin nach der Auskunft vom 30. Juni 1999 durchschnittlich
einmal im Monat auf. Die Ärztin für Innere Medizin und Kardiologie/Angiologie Dr. Q1 wird nach der Auskunft vom 5.
Juli 1999 etwa in dreimonatigen Abständen aufgesucht. Die Fachärzte für Urologie Dres. T sind nach der Auskunft
vom 25. September 1999 am 30. November 1998 einmalig aufgesucht worden. Diese Arztbesuche sind danach bei
der Ermittlung des täglichen Pflegebedarfs nicht zu berücksichtigen.
Der Senat sah sich auch nicht gedrängt, ein weiteres Sachverständigengutachten zum Umfang des notwendigen
Pflegebedarfs bei der Klägerin einzuholen. Nach den Angaben ihres Termins-bevollmächtigten hat sich ihr
Gesundheitszustand seit der Begutachtung durch Dr. L1 nicht verändert. Die behauptete Erschwernis der Pflege durch
die Zunahme des Körpergewichts der Klägerin hat sich ebenfalls nicht in einer Erhöhung des zeitlichen Pflegebedarfs
niedergeschlagen, denn der Bevollmächtigte der Klägerin hat in der in der mündlichen Verhandlung überreichten
Aufstellung für Körperpflege, Ernährung und Mobilität auf die Werte Bezug genommen, die bereits im Pflegetagebuch
von Oktober/November 1996 angegeben worden sind. Selbst wenn die behauptete Zunahme des Körpergewichts der
Klägerin im Bereich des Transfers einen zeitlich erhöhten Pflegebedarf bewirken sollte, ist es ausgeschlossen, dass
eine Erhöhung dieser Werte dazu führen würde, dass die Klägerin die Voraussetzungen der Pflegestufe III erfüllte,
weil der von der Sachverständigen Dr. L1 festgestellte notwendige Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege die
Voraussetzungen der Pflegestufe III um mehr als zwei Stunden täglich unterschritt.
Auch die auf einem Nachweis für einen Pflegeeinsatz nach § 37 Abs. 3 SGB XI festgehaltene Bemerkung der
zuständigen Pflegekraft, dass im Falle der Klägerin die Pflegestufe III angenommen werden müsse, vermag an der
Sicht des Senats nichts zu ändern. Diese Einschätzung, die von der Pflegekraft im August 1998 abgegeben wurde,
steht im Widerspruch zu den Feststellungen der dem Senat für ihr Sachverständnis bekannten Gutachterin Dr. L1,
ohne dass erkennbar wäre, auf welchen konkreten Feststellungen diese Einschätzung beruhte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Zulassungsgrund nach § 160 SGG nicht vorliegt.