Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 27.05.2004
LSG Berlin und Brandenburg: rumänisch, zugehörigkeit, muttersprache, eltern, innere medizin, rumänien, altersrente, familie, mehrsprachigkeit, wartezeit
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 27.05.2004 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 1 RA 1819/98
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 5 RA 56/02
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 7. Juni 2002 wird
zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu
erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um den Rentenanspruch des Klägers bzw. seine Zulassung zur Nachentrichtung von
Rentenbeiträgen unter dem Aspekt der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (§ 17 a FRG).
Der Kläger wurde 1920 als rumänischer Staatsangehöriger jüdischen Glaubens in Rumänien B geboren. Seit seiner
Auswanderung nach Israel im Jahre 1961 besitzt er die israelische Staatsangehörigkeit. Nach Abschluss seines
Studiums war er von 1949 bis 1961 in Rumänien in verschiedenen Krankenhäusern als Arzt tätig. Mit Bescheid vom
12. Dezember 1966 sprach ihm der Regierungspräsident Köln eine Entschädigung wegen in den Jahren 1941 bis 1944
in Botosani erlittener Freiheitsbeschränkung nach dem Bundesentschädigungsgesetz zu.
Am 1. April 1996 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Bewilligung einer Altersrente unter Anerkennung von in
Rumänien zurückgelegten Beitragszeiten nach § 17 a FRG sowie die Zulassung zur Nachentrichtung von
Rentenbeiträgen. Im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis erklärte er dabei: Er
habe die Sprachen Rumänisch und Deutsch in Wort und Schrift beherrscht. Diese Sprachen habe er auch im
persönlichen Lebensbereich (in der Familie) überwiegend benutzt. Außerhalb der Familie sei überwiegend rumänisch
gesprochen worden. Im Berufsleben habe er sich der Sprachen Deutsch und Rumänisch überwiegend bedient. Die
Frage, ob er überwiegend jiddisch oder hebräisch gesprochen habe, bejahte der Kläger. Deutsche Schulen oder
Schulen mit deutscher Unterrichtssprache habe er nicht besucht. Beide Elternteile hätten deutsch gesprochen. Im
Elternhaus sei überwiegend deutsch gesprochen worden. Auch mit seiner Ehefrau, die er im April 1949 in Rumänien
heiratete, spreche er in der Ehe überwiegend deutsch.
In einem weiteren, am 30. April 1996 unterzeichneten Antragsformular, machte der Kläger folgende Angaben: Seine
Muttersprache sei Deutsch. Persönlich habe er im Herkunftsgebiet die deutsche und die rumänische Sprache benutzt.
Die allgemeine Umgangssprache sei jedoch Rumänisch gewesen. Jiddisch habe er im Beruf gesprochen. Unter der
Überschrift "überwiegender Sprachgebrauch bei Mehrsprachigkeit" kreuzte der Kläger an, im persönlichen Bereich,
insbesondere im Elternhaus, rumänisch und deutsch gesprochen zu haben. Die Muttersprache seines im Jahre 1880
geborenen Vaters sei Deutsch gewesen, im Beruf habe er das Jiddische benutzt. Unter der Rubrik "überwiegender
Sprachgebrauch bei Mehrsprachigkeit" gab der Kläger auch hier an, dass der Vater im persönlichen Bereich - wie
auch die 1891 geborene Mutter - deutsch und rumänisch gesprochen habe. Die Muttersprache der Mutter sei
Rumänisch bzw. Deutsch gewesen. Sie habe in der Familie auch jiddisch gesprochen.
Am 16. Juni 1997 unterzog der Kläger sich einer Sprachprüfung im Israelischen Finanzministerium. Die
Muttersprachen seiner Eltern bezeichnete er mit Deutsch für den Vater und mit Rumänisch für die Mutter. Zusätzlich
hätten der Vater rumänisch und die Mutter deutsch sowie französisch gesprochen. Der Kläger erklärte, die Eltern
hätten untereinander abwechselnd deutsch und rumänisch gesprochen. Der Vater habe mit den Kindern mehr deutsch
gesprochen, die Mutter mehr rumänisch. Die Kinder hätten sich überwiegend auf rumänisch verständigt, mit
Verwandten auf Deutsch. Als Ergebnis der Befragung wurde festgehalten: Der Kläger spreche deutsch unbefangen,
aber nicht fehlerfrei. Er schreibe deutsch, lese deutsch schnell, mit Verständnis, aber ebenfalls nicht fehlerfrei. Der
Vater des Klägers habe in der K.u.K.-Armee gedient und einige Jahre in Hamburg und Czernowitz gearbeitet, wo er
Bücher aus der deutschen Bibliothek Aurora ausgeliehen habe. Die Mutter sei in einem privaten Internat gewesen, wo
in Deutsch und Französisch unterrichtet worden sei. Der Vater habe als Getreidehändler Geschäftsbeziehungen zu
Deutschland unterhalten und entsprechende Korrespondenz geführt. Im Beruf habe er deutsch und rumänisch
gesprochen. Auch zu Hause hätten die Eltern miteinander und mit den beiden Kindern abwechselnd deutsch und
rumänisch geredet. Die Kinder hätten untereinander meistens rumänisch gesprochen. In den Schulferien sei der
Kläger zu den kinderlosen Verwandten väterlicherseits nach Czernowitz geschickt worden, mit denen er deutsch
gesprochen habe. Zu Hause habe es auch deutsche Bücher und Zeitungen gegeben. Die Mutter habe Klavier gespielt
und Noten aus Wien bezogen. Der Kläger habe eine rumänische Grundschule besucht. In der rumänischen
Mittelschule habe er Deutsch als Fach gehabt. An der Universität in Czernowitz, wo er Medizin studiert habe, habe es
noch viele deutschsprechende Studenten und Dozenten gegeben. Der Kläger erinnere sich an Gedichte von Heinrich
Heine, an den Baron von Münchhausen, Indianergeschichten von Karl May, an deutsche Sänger, Schauspieler usw.
Er habe deutsche Fachliteratur, z.B. "Innere Medizin" von Prof. Porges gelesen. Er sei auch heute Mitglied der
österreichischen Gesellschaft für Akupunktur, beteilige sich an Kongressen, abonniere deutsche Fachzeitschriften
und bekomme persönliche Brief auf Deutsch. Nach Meinung der befragenden Person sei der Kläger zweisprachig mit
Deutsch und Rumänisch aufgewachsen. Der enge Kontakt mit der väterlichen Familie in Czernowitz habe seine
Deutschkenntnisse gefördert. Im Zeitpunkt der nationalsozialistischen Einflussnahme auf sein Heimatgebiet habe er
daher "auch dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört". Wegen des Ergebnisses dieser Befragung wird
ergänzend auf Blatt 201 bis 213 der Rentenakte Bezug genommen.
Mit Bescheid vom 16. Juli 1997 lehnte die Beklagte den Antrag auf Altersrente ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei.
Eine Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen nach dem Zusatzabkommen zum deutsch-israelischen
Sozialversicherungsabkommen in Verbindung mit § 17 a FRG komme nicht in Betracht, weil eine Zugehörigkeit zum
deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht gegeben sei. Es habe kein überwiegender deutscher Sprachgebrauch
vorgelegen. Trotz seines Bildungsstandes sei eine Beherrschung der deutschen Sprache wie eine Muttersprache nach
dem Ergebnis der Befragung in Israel auszuschließen.
In seinem hiergegen erhobenen Widerspruch erklärte der Kläger, mittlerweile Schwierigkeiten in jeder Sprache zu
haben, weil er seit Jahren an der Parkinson-Krankheit leide. Sein 1924 geborener Bruder, der aus demselben
Elternhaus stamme, erhalte von der Beklagten eine monatliche Altersrente. Die Sache mit der Wartezeit von fünf
Jahren sei ihm nicht klar. Wie die Beklagte wisse, sei er mittlerweile 77 Jahre alt. Er wisse nicht, worauf er so lange
warten solle. Er habe nicht wenige Bekannte aus Ost-Europa, die gar kein Deutsch könnten und schöne Altersrenten
erhielten. Sein 1880 geborener Vater sei austro-ungarischer Staatsbürger gewesen. Von 1905 bis 1914 habe er in
Hamburg gearbeitet. Die Geschwister seines Vaters hätten keine Kinder gehabt und in Czernowitz gelebt. Seine
ganze Kindheit habe er dort verbracht. Die Sprache sei Deutsch gewesen. Von 1980 bis 1990 sei er manchmal in
Wien zu einem Akupunkturkurs gewesen. Alle Prüfungen seien in deutscher Sprache durchgeführt worden. Aufgrund
seines damaligen Wohnsitzes in B könne sicherlich davon ausgegangen werden, dass er mehrsprachig aufgewachsen
sei. Zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Einflussnahme, im April 1941, habe jedoch Zugehörigkeit zum
deutschen Sprach- und Kulturkreis bestanden. Er sei deutscher Muttersprache und habe diese Sprache im
persönlichen Bereich überwiegend gebraucht, auch wenn im Elternhaus die Mutter mit den Kindern und die Kinder
untereinander rumänisch gesprochen hätten. Mit den Verwandten des in der Familie dominanten Vaters sei jedoch
überwiegend deutsch gesprochen worden.
Mit Bescheid vom 1. April 1998 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück und führte zur Begründung im
Wesentlichen aus: Eine Zugehörigkeit des Klägers zum deutschen Sprach- und Kulturkreis sei nach wie vor nicht
erkennbar. Bei Verfolgten aus mehrsprachigen Gebieten sei sie im Regelfall nur dann zu bejahen, wenn die deutsche
Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und im persönlichen Bereich überwiegend verwendet worden sei. Allein
aus dem Vorliegen von Deutschkenntnissen könne noch nicht positiv auf eine deutsche Volkszugehörigkeit
geschlossen werden. Die Kenntnis der deutschen Sprache schließe es nämlich nicht aus, einem anderen Sprach- und
Kulturkreis mindestens ebenso stark verhaftet gewesen zu sein. Nach seinen eigenen Angaben habe der Kläger im
Elternhaus mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder überwiegend rumänisch gesprochen. Die Eltern hätten
untereinander abwechselnd rumänisch und deutsch gesprochen, lediglich der Vater habe überwiegend deutsch mit
dem Kläger geredet. Die Schulausbildung sowohl in Volks- als auch in der Mittelschule sei auf rumänisch erfolgt.
Mithin liege Zweisprachigkeit vor, zu der noch der Gebrauch des Jiddischen trete. Der Kläger habe zwar die deutsche
Sprache erlernt und könne sich mündlich und schriftlich in ihr ausdrücken. Es sei jedoch mit großer Sicherheit
auszuschließen, dass der Kläger Deutsch wie eine Muttersprache beherrscht und überwiegend benutzt habe. Eine
Einsicht in die Rentenakte des Bruders des Klägers habe ergeben, dass dort keine Feststellungen zur Muttersprache
und zur Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis getroffen worden seien. Deshalb könne man von dort
keine Rückschlüsse auf das Verfahren des Klägers ziehen.
Hiergegen hat der Kläger am 24. April 1998 Klage erhoben. Er hat ergänzend erklärt: Seine frühe Kindheit habe er
während mehrerer Jahre in Czernowitz verbracht, bei dem Bruder des Vaters, M, und bei der Schwester des Vaters,
T. Beide seien kinderlos gewesen. Dort habe er nur deutsch gesprochen. Seine Umgangssprache in der frühen
Kindheit sei also das Deutsche gewesen. In der Mittelschule sei es für ihn leicht gewesen, Deutsch als Fach zu
wählen, denn das habe er beherrscht, statt Englisch, welches ihm total fremd gewesen sei. 1939 habe er ein Jahr
Physik und Chemie an der Universität von Czernowitz studiert. Von 1940 bis 1944 habe er in einem Arbeitslager in B
gelebt. In seinem 1944 begonnenen Medizinstudium habe er deutsche Fachbücher benutzt. Von 1980 an sei er etwa
zehnmal in Wien gewesen, wo er Akupunktur erlernt habe. Er lebe seit 38 Jahren in Israel und bediene sich dort nicht
mehr der deutschen Sprache.
Auf Nachfrage des Sozialgerichts hat die Beklagte erklärt, den Zeitraum 1. Juli 1949 bis 18. Mai 1961 vorbehaltlich
der Anerkennung der Voraussetzungen des § 17 a FRG als Beitragszeit nach § 15 FRG anzuerkennen.
Das Sozialgericht hat die Vernehmung der vom Kläger benannten Zeuginnen Asowie Rangeordnet. Die Zeugin S,
Schwägerin des Klägers, hat am 11. Januar 2000 vor dem Amtsgericht in Haifa im Wesentlichen erklärt, im Jahre
1926 in der B geboren und 1946 nach P ausgewandert zu sein. Sie habe den Kläger erst im Jahre 1961 kennen
gelernt. Sie könne deshalb keine Angaben zu seinem Sprachgebrauch oder zu sonstigen Umständen vor dem Jahre
1961 machen. Sie spreche mit dem Kläger rumänisch und manchmal auch deutsch.
Die Zeugin R hat am 26. Juni 2001 vor dem Amtsgericht in N im Wesentlichen erklärt: Auch sie stamme aus B in
Rumänien. Sie sei im Jahre 1941 vertrieben worden. Bis 1974, dem Jahre ihrer Auswanderung nach Israel, habe sie in
einer anderen rumänischen Stadt gelebt. Den Kläger habe sie seit 1938 gekannt. Von da an habe sie ununterbrochen
Kontakt zu ihm gehabt. Der Kläger habe bei seinen Verwandten in Czernowitz die deutsche Sprache erlernt und
benutzt. Er habe deutsch gesprochen. Auch im Elternhaus des Klägers sei deutsch gesprochen worden, daneben
rumänisch und etwas jiddisch. Die Hauptsprache sei jedoch das Deutsche gewesen. Sie habe sich mit dem Kläger
auf Deutsch verständigt. Mit seinen Eltern habe der Kläger deutsch gesprochen; sein Vater habe nicht gut rumänisch
gekonnt. Mit seinen Freunden habe der Kläger sich auf Deutsch und Rumänisch verständigt. Die Eltern hätten
untereinander deutsch und rumänisch geredet, zu Hause aber deutsch. Mit den Eltern habe er ausschließlich deutsch
gesprochen. Wegen der Einzelheiten dieser Zeugenvernehmung wird auf Blatt 88 bis 90 der Gerichtsakte Bezug
genommen.
Mit Gerichtsbescheid vom 7. Juni 2002 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen und zur Begründung,
wegen deren Einzelheiten auf die Gerichtsakte Bezug genommen wird, im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe
keinen Anspruch auf Rentenzahlung, da ins Ausland zahlbare Beitragszeiten nicht vorlägen und ein Anspruch auf
Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen nicht bestehe. Die gesetzlichen Vorschriften erforderten eine
Zugehörigkeit des Klägers zum deutschen Sprach- und Kulturkreis im Monat April 1941, dem Zeitpunkt der
nationalsozialistischen Einflussnahme in Rumänien; diese Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis sei
jedoch nicht mit der notwendigen Sicherheit feststellbar. Zwar stehe Mehrsprachigkeit dieser Zugehörigkeit
grundsätzlich nicht entgegen, doch der Betroffene müsse dann Deutsch wie eine Muttersprache beherrschen und die
deutsche Sprache in seinem persönlichen Bereich überwiegend gebraucht haben. Es sei nicht feststellbar, dass der
Kläger diese Voraussetzungen erfüllte. Er sei mehrsprachig aufgewachsen, habe sowohl die deutsche, rumänische
als auch die jiddische Sprache beherrscht. Ein Überwiegen der deutschen Sprache zum maßgeblichen Zeitpunkt habe
sich auch unter Berücksichtigung der in Israel vernommenen Zeuginnen nicht feststellen lassen. Der Kläger habe
schon im Verwaltungsverfahren angegeben, überwiegend rumänisch und deutsch im persönlichen Bereich verwandt
zu haben. Gleiche Angaben habe er hinsichtlich des Sprachgebrauchs der Eltern gemacht. Ein Überwiegen der
deutschen Sprache habe der Kläger zu keinem Zeitpunkt angegeben. Lediglich der Vater habe mehr deutsch
gesprochen, während die Mutter mit den Kindern sich mehr auf Rumänisch verständigt. Die Kinder untereinander
hätten sich aber überwiegend auf Rumänisch verständigt. Bereits aus diesen eigenen Angaben des Klägers lasse sich
schließen, dass Deutsch nicht hauptsächlich die im persönlichen Bereich verwandte Sprache gewesen sei. Das
Ergebnis der Zeugenvernehmungen könne daran nichts ändern. Die Zeugin S habe keine relevanten Angaben machen
können. Außerdem habe sie den Kläger erst im Jahre 1961, also 20 Jahre nach dem maßgeblichen Zeitpunkt, kennen
gelernt. Den Angaben der Zeugin B sei schon deshalb nicht zu folgen, weil sie teilweise in erheblichem Widerspruch
zu den eigenen Angaben des Klägers stünden. Dieser habe nämlich angegeben, dass die Mutter mit den Kindern
überwiegend rumänisch gesprochen habe, nur der Vater habe sich überwiegend des Deutschen bedient. Auch die
Angabe, dass die Eltern untereinander deutsch gesprochen hätten, stehe im Widerspruch zu den Bekundungen des
Klägers, wonach die Eltern sich abwechselnd des Deutschen und des Rumänischen bedient hätten. Das Beherrschen
der deutschen Sprache allein führe nicht dazu, von einer Muttersprachlichkeit auszugehen. Insgesamt habe sich nicht
feststellen lassen, welche Sprache zum maßgeblichen Zeitpunkt tatsächlich überwogen habe.
Gegen den ihm am 21. Juli 2002 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 9. Oktober 2002 Berufung
eingelegt. Zu ihrer Begründung hat er – in englischer Sprache – im Wesentlichen vorgebracht: Der Gerichtsbescheid
sei unzutreffend. Er habe nie jiddisch gesprochen, weder in seiner Kindheit noch an der Schule. Seine Eltern hätten
nur sehr wenig jiddisch gesprochen. Er habe deutsch gesprochen, weil er als Kind in Czernowitz gelebt habe, wo man
deutsch geredet habe. Auch während seiner Ausbildung habe er sich des Deutschen bedient. Von 1980 bis 1990 habe
er sogar in Wien auf Deutsch gelernt. Die Zeugin S sei in psychiatrischer Behandlung gewesen, was er nicht gewusst
habe, deshalb sei ihre Zeugenaussage unzutreffend.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 7. Juni 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 16. Juli 1997
in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 1. April 1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn zur
Nachent- richtung von Beiträgen zuzulassen und ihm eine Altersrente nach Israel zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den mit der Berufung angegriffenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Die Beteiligten haben schriftlich ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte (2
Bände), der Rentenakte der Beklagten sowie der Entschädigungsakte des Regierungspräsidiums Köln Bezug
genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Beratung war.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht durfte über die Sache ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu schriftlich ihr
Einverständnis erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Berufung ist zulässig, hat jedoch keinen Erfolg. Der mit der Berufung angegriffene Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts vom 7. Juni 2002 beurteilt die Sach- und Rechtslage zutreffend.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung und keinen Anspruch auf
Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zur deutschen Rentenversicherung nach dem Zusatzabkommen zum deutsch-
israelischen Sozialversicherungsabkommen, denn er hat seine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis
nicht glaubhaft gemacht.
Nach § 35 SGB VI – hier anwendbar gemäß § 300 Abs. 1 SGB VI – erhält Altersrente ein Versicherter, der das 65.
Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt, also eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten (§ 50
Abs. 1 SGB VI) zurückgelegt hat. Anrechenbare Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung können
sich für den Kläger nur nach § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI in Verbindung mit den §§ 15, 16 FRG ergeben. § 15 Abs. 1
Satz 1 FRG sieht vor, dass Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung
zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen. Nach Maßgabe des § 16 FRG
gilt entsprechendes für Beschäftigungszeiten. Da der Kläger nicht zu dem gemäß § 1 FRG begünstigten
Personenkreis gehört, finden die §§ 15, 16 FRG auf ihn nur dann Anwendung, wenn die Voraussetzungen des § 17 a
FRG vorliegen. Nach dieser Vorschrift finden die für die gesetzliche Rentenversicherung maßgebenden Vorschriften
des FRG Anwendung auch auf Personen, die bis zu dem Zeitpunkt, in dem der nationalsozialistische Einflussbereich
sich auf ihr jeweiliges Heimatgebiet erstreckt hat, (1.) dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben, (2.)
das 16. Lebensjahr bereits vollendet hatten oder im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem
deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben und (3.) sich wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht zum
deutschen Volkstum bekannt hatten und die Vertreibungsgebiete nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 des
Bundesvertriebenengesetzes verlassen haben. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift müssen, wie in ihrem Wortlaut
unmissverständlich zum Ausdruck kommt, kumulativ vorliegen. Das Fehlen einer dieser Voraussetzungen führt dazu,
dass Fremdrentenzeiten nach §§ 17a in Verbindung mit §§ 15, 16 FRG nicht anerkannt werden können (BSG, Urteil
vom 14. März 2002, B 13 RJ 15/01 R, zitiert nach juris). Da sowohl für die Anrechnung der rumänischen
Versicherungszeiten als auch für das Recht auf Nachentrichtung von Beiträgen die Voraussetzungen des § 17a FRG
gegeben sein müssen, hängen die Erfüllung der Wartezeit und damit der geltend gemachte Rentenanspruch
insgesamt davon ab, ob der Kläger zu dem von § 17a FRG begünstigten Personenkreis zählt.
Seine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis hat der Kläger jedoch nicht – was ausreichend wäre, § 4
Abs. 1 Satz 1 FRG – in erforderlichem Maße glaubhaft gemacht.
Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche
erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist, § 4 Abs. 1 Satz 2 FRG.
Glaubhaftmachung bedeutet danach mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die
an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit; es genügt die "gute Möglichkeit", dass der entscheidungserhebliche
Vorgang sich so zugetragen hat, wie behauptet wird; gewisse noch verbleibende Zweifel sind unbeachtlich.
Gleichzeitig muss mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Ist weder das Vorliegen noch das
Nichtvorliegen einer Tatsache überwiegend wahrscheinlich, ist nicht etwa zugunsten des Anspruchstellers zu
entscheiden; ein solcher Grundsatz wäre dem Sozialversicherungsrecht auch fremd (BSG, Urteil vom 17. Dezember
1980, 12 RK 42/80, SozR 5070 § 3 Nr. 1; Beschluss vom 4. Juni 1975,11 BA 4/75, BSGE 40, 40 [42]).
Für die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis kommt es vorrangig auf die Sprache an. Ein Betroffener
kann bei Mehrsprachigkeit dem deutschen Sprach- und Kulturkreis zugerechnet werden, wenn er die deutsche
Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie wie eine solche in seinem persönlichen Bereich verwendet hat.
Beide Merkmale, also Sprachbeherrschung wie Sprachgebrauch, sind unter Berücksichtigung der Verhältnisse des
Einzelfalls zu beurteilen. Bei der Feststellung eines überwiegenden Sprachgebrauchs ist die Gesamtheit der
individuellen Kommunikation des Betroffenen im persönlichen Lebensbereich in Betracht zu ziehen (vgl. nur BSG,
Urteil vom 14. März 2002, B 13 RJ 15/01 R, zitiert nach juris, m.w.N. zur ständigen Rechtsprechung des BGH und
des BSG).
Nach dem Inhalt der Akten und dem Ergebnis der Ermittlungen sind Beherrschung und Gebrauch der deutschen
Sprache durch den Kläger nicht im erforderlichen Maße erkennbar geworden. Das Sozialgericht hat in seinem
Gerichtsbescheid eingehend und nachvollziehbar herausgearbeitet, warum der Kläger – trotz zweifellos vorhandener
deutscher Sprachkenntnisse – nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis im oben definierten Sinne angehörte. Zur
Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat nach eigener Sachprüfung auf Bl. 7 und 8 der Gerichtsbescheides
Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).
Ergänzend und vertiefend bleibt – auch angesichts der überaus knappen Begründung der Berufung – lediglich
auszuführen: Schon das eigene Vorbringen des Klägers in den von ihm ausgefüllten Fragebögen und in der
Sprachprüfung lässt nicht auf einen überwiegenden Gebrauch des Deutschen schließen. Aus allen Angaben lässt sich
vielmehr auf einen mindestens gleichrangigen Gebrauch des Rumänischen schließen, wenn nicht sogar diese
Sprache die eigentlich dominante war, denn in ihr verständigte der Kläger sich überwiegend mit seiner Mutter, deren
Muttersprache gerade Rumänisch war, und seinem Bruder. Teilweise sind die Angaben des Klägers auch
widersprüchlich geblieben, was zu seinen Lasten geht und jedenfalls nicht die Annahme zulässt, Deutsch sei die
maßgebliche Sprache gewesen. Die Angaben der Zeugin B können schon deshalb keine entscheidende Bedeutung
haben, weil sie in maßgeblichen Punkten den eigenen Angaben des Klägers widersprechen, etwa hinsichtlich des
häuslichen Sprachgebrauchs, und deshalb zielgerichtet wirken.
Daher kann im Ergebnis nicht festgestellt werden, dass ein überwiegender deutscher Sprachgebrauch und damit eine
Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis glaubhaft gemacht ist. Danach kommt auch die Zulassung zur
Nachentrichtung von Beiträgen nach dem Zusatzabkommen zum deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommen
nicht in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis der Hauptsache. Die Revision war nicht
zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht gegeben sind.