Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 01.11.2006

LSG Berlin-Brandenburg: wohnung, wohnraum, geburt, zusicherung, umzug, wohnfläche, hauptsache, angemessenheit, abrede, miete

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 5.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 5 B 1147/06 AS ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 2 SGG, § 22 Abs 2 S 2
SGB 2
Erforderlichkeit eines Umzuges Feststellung im Rahmen einer
ausnahmsweise zulässigen Elementenfeststellungklage;
zumutbarer Wohnraum bei Geburt eines Säuglings (zwei
separate Zimmer nötig)
Tenor
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom
01. November 2006 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass im Wege der
einstweiligen Anordnung festgestellt wird, dass mit der – am 15. Dezember 2006
erwarteten – Geburt des Kindes der Antragsteller deren Umzug in angemessenen
Wohnraum erforderlich ist.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern ihre notwendigen Kosten auch für das
Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Verfahrens zur Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes um die Übernahme der Kosten für angemessenen Wohnraum.
Die seit Februar 2006 Leistungen zur Grundsicherung nach dem Zweiten Buch des
Sozialgesetzbuches (SGB II) beziehenden Antragsteller bewohnen zurzeit eine 54 m²
große Wohnung, die nach dem Mietvertrag aus zwei Zimmern nebst Küche, Korridor,
Toilette mit Bad und Balkon besteht. Am 05. September 2006 zeigte die Antragstellerin
zu 2.) bei dem Antragsgegner an, dass sie schwanger sei und ihr Kind voraussichtlich am
15. Dezember 2006 geboren werde. Am 15. September 2006 stellte sie bei dem
Antragsgegner einen Antrag auf Mietkostenübernahme. Die von ihr und ihrem Partner
bewohnte 1,5-Zimmer-Wohnung sei für drei Personen zu klein. Die Wohnung bestehe im
Wesentlichen aus einem 31,71 m² großen Zimmer, von dem vor ihrem Einzug durch
Einziehen einer weiteren Wand ein fensterloser 8 m² großer Raum abgeteilt worden sei,
den sie als Schlafzimmer nutzten. Die verbleibenden 23,71 m² würden als Wohnzimmer
genutzt. Sie könnten eine 68,37 m² große 2,5-Zimmer-Wohnung im Bweg in B anmieten.
Die Bruttowarmmiete belaufe sich auf 514,22 €.
Mit Bescheid vom 26. September 2006 lehnte der Antragsgegner die Übernahme der
Miete ab. Zur Begründung führte er aus, dass die derzeit bewohnte Wohnung mit zwei
Zimmern und 54 m² nicht als unzumutbar beengt anzusehen sei, für drei Personen
vielmehr bei zwei Zimmern mit mindestens 50 m² ausreichend Wohnraum vorhanden
sei. Hiergegen legten die Antragsteller im Oktober 2006 Widerspruch ein, den der
Antragsgegner seinem Vorbringen zufolge inzwischen negativ beschieden haben dürfte.
Am 20. Oktober 2006 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Berlin beantragt, den
Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung "anzuhalten, ihnen den Umzug in
eine passendere Wohnung zu gestatten". Zur Begründung haben sie unter Vorlage einer
Wohnungsskizze ihr bisheriges Vorbringen im Wesentlichen wiederholt. Mit Beschluss
vom 01. November 2006 hat das Sozialgericht Berlin den Antragsgegner im Wege der
einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern eine Zusicherung zur
Übernahme der Miete für eine neue Wohnung mit einer Bruttomiete von maximal 542,00
€ zu erteilen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass wegen der generellen,
rechtsfehlerhaften Ablehnung einer Zusicherung ein Rechtsschutzbedürfnis für die
Feststellung einer im Ergebnis abstrakten Zusicherungsverpflichtung nach § 22 Abs. 2
Satz 2 SGB II im Rahmen des in Berlin geltenden Angemessenheits-Richtwertes von
542,00 € für einen 3-Personen-Haushalt gegeben sei. Die Angemessenheit einer
Wohnung sei nach mehreren Faktoren zu beurteilen. Neben der reinen Wohnfläche sei
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Wohnung sei nach mehreren Faktoren zu beurteilen. Neben der reinen Wohnfläche sei
auch der Zuschnitt der Wohnung, gemessen an den individuellen Wohnbedürfnissen der
Leistungsberechtigten, von Bedeutung. Lebten Kinder in der Wohnung oder stehe dies
unmittelbar bevor, sei deren Bedürfnissen besondere Beachtung zu schenken. Der
Wertungsgedanke des früheren § 12 Abs. 2 des Bundessozialhilfegesetzes, der in § 16
des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (Familiengerechte Leistungen) Eingang
gefunden habe, sei im SGB II im Rahmen der Angemessenheitsprüfung zu
berücksichtigen. Die Auffassung des Antragsgegners, ein Neugeborenes habe zunächst
einen "Null-Wohnbedarf", verletze den Grundsatz der familiengerechten Hilfe. Da die
Antragsteller nicht über eine 2-Zimmer-Wohnung, sondern nur über einen
angemessenen Wohnraum verfügten, dem ein recht kleines, fensterloses
Behelfszimmer angegliedert sei, sei vorliegend der Mindest-Unterkunftsbedarf für ein
Paar mit Kind nicht gewährleistet, sodass der Umzug notwendig im Sinne von § 22 Abs.
2 SGB II sei. Sobald den Antragstellern ein konkretes Wohnungsangebot vorliege,
müssten sie bezogen auf die Angemessenheit dieser Wohnung eine weitere Zusicherung
des Antragsgegners einholen.
Gegen diesen ihm am 07. November 2006 zugestellten Beschluss richtet sich die am
24. November 2006 eingelegte Beschwerde des Antragsgegners. Es bestehe weder ein
Anordnungsgrund noch ein Anordnungsanspruch. Die für Mitte Dezember 2006 zu
erwartende Geburt des Kindes begründe keine existenzielle Notlage. Ferner sei ein
Umzug nicht erforderlich. Für ein Neugeborenes sei kein gesteigerter Wohnbedarf
anzunehmen. Eine zumutbare Rückzugsmöglichkeit für das Kind und den jeweils
betreuenden Elternteil sei gegeben. Der Wohnraum sei objektiv nicht beengt; die
Wohnung verfüge über zwei Zimmer. Im Übrigen erstrebten die Antragsteller hier eine
Vorwegnahme der Hauptsache.
II.
Die Beschwerde des Antragsgegners ist gemäß §§ 172 Abs. 1 und 173 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, kann jedoch im Ergebnis keinen Erfolg haben.
Wie zuvor das Sozialgericht Berlin geht auch der Senat davon aus, dass im Falle der
Antragsteller mit der Geburt ihres Kindes ein Umzug erforderlich sein wird. Indes sieht er
– mangels Konkretisierung des Antrages auf Zusicherung der Übernahme der Kosten für
eine bestimmte Wohnung - kein Rechtsschutzbedürfnis für eine Verpflichtung des
Antragsgegners zur Erteilung einer Zusicherung. Denn deren Erteilung setzt neben der
Erforderlichkeit des Umzuges gerade voraus, dass die Aufwendungen für die neue
Unterkunft angemessen sind. Dies aber kann nur beurteilt werden, wenn die neue
Unterkunft konkret bezeichnet ist. Allerdings geht der Senat davon aus, dass vorliegend
ein entsprechendes – durch die Geburt des Kindes bedingtes - Feststellungsinteresse
der Antragsteller besteht. Er hält in Fällen, in denen seitens des Antragsgegners die
Erforderlichkeit eines Umzuges pauschal in Abrede gestellt wird, ausnahmsweise im
Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie eine so genannte Elementenfeststellungsklage für
zulässig. Denn die – im Wesentlichen streitige - Erforderlichkeit eines Umzuges muss
isoliert festgestellt werden können, um zu gewährleisten, dass im Falle des Vorliegens
eines konkreten Wohnungsangebotes allein noch dessen Angemessenheit in der
gebotenen Schnelligkeit überprüft wird. Andernfalls würden die Betroffenen immer wieder
Gefahr laufen, dass eine ihnen angebotene Wohnung bei Abschluss des Verfahrens über
die Frage der Erforderlichkeit des Umzuges bereits vergeben ist. Im Übrigen dürfte mit
der Klärung der streitigen Frage der Erforderlichkeit des Umzuges in einer Vielzahl der
Fälle der Rechtsstreit in Gänze erledigt sein.
Nach § 86b Abs. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen
Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist vorliegend zur
Überzeugung des Senats der Fall. Es war hier im Wege der einstweiligen Anordnung die
Erforderlichkeit des Umzuges der Antragsteller mit der – für den 15. Dezember 2006
erwarteten - Geburt ihres Kindes als wesentliche Voraussetzung für die Erteilung einer
Zusicherung im Sinne des § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II festzustellen. Soweit der
Antragsgegner unter Bezugnahme auf die Verwaltungsvorschriften zur Änderung der
Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22
SGB II (AV-Wohnen) vom 30. Mai 2006 die Erforderlichkeit des Umzuges verneint hat,
vermag der Senat ihm – wie bereits zuvor das Sozialgericht Berlin – nicht zu folgen.
Nach Ziffer 9.4 Abs. 5 der AV-Wohnen, an die das Gericht zwar nicht gebunden ist, deren
Anwendbarkeit jedenfalls im Rahmen einstweiliger Verfügungsverfahren zur
Überzeugung des Senats keine durchgreifenden Bedenken entgegenstehen, kann ein
Umzug zum Beispiel erforderlich sein wegen unzumutbar beengter Wohnverhältnisse.
Hierbei sind die bei Anerkennung eines dringenden Wohnbedarfs im Rahmen der
Beantragung eines Wohnberechtigungsscheines als räumlich unzureichend
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Beantragung eines Wohnberechtigungsscheines als räumlich unzureichend
beschriebenen Wohnverhältnisse zu Grunde zu legen. Dies ist der Fall, wenn in der Regel
nicht mindestens folgender Wohnraum (ohne Küche und Nebenräume) zur Verfügung
steht:
- für 2 Personen 1 Wohnraum mit insgesamt 30 m² Wohnfläche der Wohnung
- für 3 Personen 2 Wohnräume mit insgesamt 50 m² Wohnfläche der Wohnung.
Die Antragsteller haben glaubhaft gemacht, dass ihre Wohnung zwar laut Mietvertrag
über zwei Zimmer verfügt, es sich hierbei jedoch tatsächlich um einen etwa 23 m²
großen Raum sowie eine abgetrennte 8 m² große Kammer handelt, die über kein Fenster
verfügt. Zur Überzeugung des Senats kann die Wohnung daher – entgegen der
Annahme des Antragsgegners - nicht als 2-Zimmer-Wohnung eingestuft werden. Vor
diesem Hintergrund ist die konkrete Wohnung nicht zumutbar und dies, ohne dass es
darauf ankäme, ob ein Säugling sofort als dritte Person volle Berücksichtigung finden
muss oder nicht. Denn auch seitens des Antragsgegners wird nicht in Abrede gestellt,
dass für einen Säugling und den betreuenden Elternteil eine Rückzugsmöglichkeit
bestehen muss. Dies aber ist im konkreten Fall nicht gewährleistet. Ein fensterloser
Raum kann bereits für Erwachsene kaum als adäquates Schlafzimmer angesehen
werden. Ganz sicher aber ist er ungeeignet, als Ruhestätte eines Säuglings während der
Anwesenheit beider - hier wegen Mutterschutzes bzw. offenbar ab dem 16. Dezember
2006 wegen Arbeitslosigkeit - jeweils zuhause verweilender Elternteile zu dienen.
Schließlich ist es den Antragstellern hier auch unter Abwägung der sich
gegenüberstehenden Interessen der Beteiligten nach den Umständen des Einzelfalles
unzumutbar, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Die Geburt des Kindes
ist innerhalb der nächsten Tage zu erwarten. Um eine angemessene Lebenssituation
des Kindes zu gewährleisten, ist das öffentliche Interesse, eine Vorwegnahme der
Hauptsache zu verhindern, bei für die Antragsteller günstiger Prognose für den Ausgang
eines Hauptsacheverfahrens als nachrangig anzusehen. Im Gegenteil muss das
Interesse der Allgemeinheit, keine Rechtsverhältnisse festzustellen, aufgrund derer - sich
möglicherweise nachträglich als unberechtigt herausstellende - Forderungen aus
steuerlichen Mitteln zu befriedigen sind, zurücktreten.
Der Senat geht davon aus, dass der Antragsgegner den Antragstellern bei Vorlage eines
konkretes Wohnungsangebotes, das nach den Maßstäben der vom Antragsgegner
regelmäßig angewendeten AV-Wohnen angemessen ist, umgehend eine Zusicherung
nach § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II erteilen wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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