Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 07.08.2007
LSG Berlin und Brandenburg: aufschiebende wirkung, bestimmtheit, anfechtungsklage, sanktion, auflage, verfügung, vollziehung, formfehler, verwaltungsakt, auszahlung
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 07.08.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 104 AS 5529/07 ER I
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 28 B 1231/07 AS ER
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Mai 2007 aufgehoben.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20. Februar
2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2007 wird angeordnet, soweit der Antragsgegner das
Arbeitslosengeld II der Antragstellerin wegen eines Meldeversäumnisses am 25. Januar 2007 abgesenkt hat. Der
Antragsgegner hat der Antragstellerin die Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde des Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Mai 2007 ist gemäß §
172 Abs. 1 und § 173 Sozialgerichtsgesetzt (SGG) zulässig und begründet. Auf den Antrag der Antragstellerin vom 5.
März 2007 war die aufschiebende Wirkung ihrer am 14. Juni 2007 beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage (S 117
AS 17552/07) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20. Februar 2007 in der Gestalt des
Widerspruchbescheides vom 11. Mai 2007 anzuordnen, soweit der Antragsgegner das Arbeitslosengeld II der
Antragstellerin wegen eines Meldeversäumnisses am 25. Januar 2007 abgesenkt hat.
Das Rechtsschutzgesuch der Antragstellerin richtet sich nach § 86 b Abs. 1 SGG. Denn mit dem ursprünglichen
Bewilligungsbescheid sind der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den hier streitbefangenen Zeitraum vom 1. April 2007 bis zum 30. Juni 2007 in
ungekürzter Höhe gewährt worden. Damit hat der Antragsgegner einen Rechtsgrund geschaffen, aus dem die
Antragstellerin für die jeweiligen Monate die Auszahlung der ihr mit diesem Bescheid gewährten Leistungen verlangen
kann. Wenn der Antragsgegner meint, diese Leistungsgewährung sei vom 1. April 2007 an insoweit rechtswidrig
geworden, so bedarf der ursprüngliche Bewilligungsbescheid der Aufhebung gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in
Verbindung mit § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Dieser Bescheid, der hier unter dem 20.
Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2007 ergangen ist, stellt eine die
Antragstellerin belastende Regelung dar, weil mit ihr in die der Antragstellerin mit dem ursprünglichen
Bewilligungsbescheid gewährte und sie begünstigende Rechtsposition eingegriffen worden ist.
Da die Klage der Antragstellerin gegen diese Entscheidung nach § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung hat,
richtet sich der einstweilige Rechtsschutz nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG.
Hiernach kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine
aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Das Begehren der
Antragstellerin richtete sich in diesem einstweiligen Rechtsschutzverfahren zwar zunächst darauf, die aufschiebende
Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid vom 20. Februar 2007 anzuordnen, weil im Zeitpunkt des Eingangs
ihres erstinstanzlichen Rechtsschutzgesuches ihr Widerspruch gegen den vorgenannten Bescheid noch nicht
beschieden und demzufolge die Erhebung einer Anfechtungsklage mangels Vorverfahrens zulässigerweise noch nicht
möglich gewesen ist. Dieser Antrag umfasst jedoch von Anfang an die Zeit bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit des
Bescheides vom 20. Februar 2007 und war damit im Rahmen eines einheitlichen Verfahrens darauf gerichtet, die
aufschiebende Wirkung desjenigen Rechtsbehelfs anzuordnen, der den Eintritt der Bestandskraft jeweils verhinderte.
Dementsprechend ist das Rechtsschutzgesuch der Antragstellerin, nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom
11. Mai 2007 und Erhebung der Anfechtungsklage am 14. Juni 2007 (S 117 AS 17552/07) dahingehend umzustellen,
dass nunmehr begehrt wird, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage anzuordnen (vgl. hierzu Schoch in
Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: EL 2, 2/98, § 80 RdNr. 363 unter Hinweis auf BVerwGE 78, 192,
210 und Beschlüsse des LSG Berlin-Brandenburg vom 10. Mai 2006 - L 9 B 71/06 KR ER - und vom 21. Juni 2007 - L
26 B 888/07 AS ER - abrufbar unter www.Sozialgerichtsbarkeit.de).
Ob die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen ist oder nicht, entscheidet das Gericht nach
pflichtgemäßem Ermessen auf der Grundlage einer Abwägung, bei der das private Interesse des Bescheidadressaten
an der Aufschiebung der Vollziehung gegen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des
Verwaltungsaktes abzuwägen ist. Um eine Entscheidung zugunsten des Bescheidadressaten zu treffen, ist
zumindest erforderlich, dass bei summarischer Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitigen
Bescheides bestehen (vgl. Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2005, Rdnr. 197 ff.). Ist in diesem Sinne eine
Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens zu bejahen, ist weiterhin Voraussetzung, dass dem Betroffenen das
Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden kann, also ein gewisses Maß an
Eilbedürftigkeit besteht (Beschlüsse des Senats vom 6. März 2007 - L 28 B 290/07 AS ER - ,vom 2. Mai 2007 - L 28
B 517/07 AS ER - und vom 6. Juni 2007 - L 28 B 731/07 AS ER - sowie bereits Beschluss des LSG Berlin-
Brandenburg vom 12. Mai 2006 - L 10 B 191/06 AS ER -, abrufbar unter: www.sozialgerichtsbarkeit.de).
An diesen Grundsätzen gemessen war die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die
angefochtene Entscheidung des Antragsgegners anzuordnen. Denn im vorliegenden Verfahren bestehen bereits
ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von dem Antragsgegner getroffenen Entscheidung, ohne dass es auf die
Rechtmäßigkeit der verhängten Sanktion in der Sache ankäme.
Mit dem Bescheid vom 20. Februar 2007 hat der Antragsgegner eine monatliche Absenkung des Arbeitslosengeldes II
für die Zeit vom 1. April 2007 bis zum 30. Juni 2007 "um 10 % der Regelleistung", höchstens jedoch in Höhe des der
Antragstellerin zustehenden "Gesamtauszahlungsbetrages", "maximal" aber "in Höhe 31,00 EUR monatlich", verfügt.
Bedenken gegen diese Verfahrensweise des Antragsgegners bestehen im vorliegenden Fall im Hinblick darauf, ob ein
solcher Verfügungssatz, dem der Hilfebedürftige nicht die tatsächliche Höhe der ihm für den Sanktionzeitraum
zustehenden Leistung entnehmen kann, den Anforderungen genügt, die an die Bestimmtheit eines Verwaltungsaktes
zu stellen sind (vgl. § 33 SGB X). Denn nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB II treten Absenkung und Wegfall mit Wirkung
des Kalendermonats ein, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes, der die Absenkung oder den Wegfall der
Leistung feststellt, folgt. Sinn und Zweck dieses Ausschlusses der Festsetzung einer Sanktion für einen in der
Vergangenheit liegenden Zeitraum ist es, dem Betroffenen zu ermöglichen, sich darauf einzustellen, dass er in der
Folgezeit (für den Sanktionszeitraum) nur noch mit niedrigeren Leistungen zur laufenden Sicherung des
Lebensunterhalts rechnen kann. Da mit den Leistungen der laufende Bedarf für das soziokulturelle Existenzminimum
gedeckt werden soll, muss es ihm möglich sein, auf eine Absenkung zu reagieren und im Vorhinein zu entscheiden,
auf welche Weise er ggf. den fehlenden Betrag decken kann. Dazu muss ihm insbesondere von vornherein klar sein,
in welcher Höhe er eine Absenkung hinzunehmen hat. Der Umfang der Kürzung muss deshalb konkret und
unmissverständlich (Berlit in LPK-SGB II, 2. Auflage 2007, § 31 RdNr. 146) dem Bescheid zu entnehmen sein.
Mangelt es an einer Bestimmtheit in diesem Sinne, kann dies nicht nach Ablauf des Sanktionszeitraumes
nachträglich geheilt werden; dem steht der Gesetzeszweck des § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB II entgegen (Beschluss des
Senats vom 29. Juni 2007 - L 28 B 889/07 AS ER - und bereits Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 14. Juni
2007 – L 26 B 907/07 AS ER - , abrufbar unter www.Sozialgerichtsbarkeit.de). Die mangelnde Bestimmtheit eines
Verwaltungsaktes kann (anders als seine fehlende Begründung) nicht nach § 41 SGB X geheilt werden, da es sich
nicht um einen Formfehler handelt. Der ursprüngliche Verwaltungsakt leidet bei fehlender Bestimmtheit an einem
besonders schweren Fehler (Recht in: Hauck/Noftz, K § 33 SGB X RdNr. 3; Engelmann in: von Wulffen, SGB X, 5.
Auflage 2005 § 33 RdNr. 6).
Im vorliegenden Fall bestehen damit erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Sanktionsbescheides. Seinem
Verfügungssatz ist ein konkreter Absenkungsbetrag nicht zu entnehmen. Er benennt lediglich einen Rahmen
(mindestens 10 %/höchstens in Höhe des zustehenden Gesamtauszahlungsbetrages/maximal 31,00 EUR), um den
die Regelleistung für den Sanktionzeitraum abgesenkt werden soll. Der Bescheidadressat, der Hilfebedürftige, kann
einem solchen Verfügungssatz nicht mit der notwendigen unmissverständlichen Bestimmtheit entnehmen, um
welchen konkreten Betrag die ihm bereits gewährte Regelleistung gekürzt wird und welcher Betrag ihm letztendlich
damit für die Folgezeit, für den Sanktionszeitraum, konkret zur Sicherung seines Lebensunterhalts zur Verfügung
steht. Im vorliegenden Verfahren kommt hinzu, dass der Antragsgegner mit weiterem Bescheid vom 20. Februar 2007
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2007 das Arbeitslosengeld II der Antragstellerin wegen eines
erneuten Meldeversäumnisses am 15. Februar 2007 nochmals für den auch in diesem Verfahren streitbefangenen
Zeitraum, also für die Zeit vom 1. April 2007 bis zum 30. Juni 2007, mit einem dem vorgenannten Entscheidungssatz
entsprechenden Verfügungssatz abgesenkt hat Vor diesem Hintergrund ist für den Hilfebedürftigen kaum
nachvollziehbar, welcher Betrag ihm zukünftig in dem Sanktionszeitraum zur Verfügung steht.
Die Eilbedürftigkeit ergibt sich aus der existenzsichernden Funktion der Leistungen nach dem SGB II.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).