Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 18.04.2006

LSG Berlin und Brandenburg: krankengeld, aufschiebende wirkung, vollstreckung, hauptsache, krankenversicherung, aussetzung, erlass, zustellung, arbeitsunfähigkeit, vorrang

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 18.04.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 85 KR 2287/05 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 1 B 1210/05 KR ER
Die Beschwerde wird als unzulässig verworfen, soweit die Antragsgegnerin Krankengeld bereits ausgezahlt hat. Im
Übrigen wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 17. November 2005 mit Wirkung ab Ablauf eines Monats
nach Zustellung dieses Beschlusses an die Antragstellerin in der Hauptsache aufgehoben. Die Antragsgegnerin hat
der Antragstellerin – außer den erstinstanzlich angefallenen Kosten – 2/3 ihrer außergerichtlichen Kosten im
Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Antragsgegnerin durch Beschluss vom 17. November 2005 im Wege der
einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin entsprechend dem Bescheid vom 16. August 2005 und der
Abhilfeentscheidung vom 7. September 2005 Kranken-geld für die Zeit ab 8. Juli 2005 auszuzahlen. In den
Beschlussgründen hat es ausgeführt, soweit bei der Antragsgegnerin berechtigte Zweifel bestehen, ob die
Antragstellerin überhaupt Versicherte sei, was verneinendenfalls auch einer rechtmäßigen Zahlung des Krankengeldes
trotz bestehender Arbeitsunfähigkeit entgegenstehen würde, könne sie diese noch nicht im jetzigen
Verfahrensstadium zu Lasten der Antragstellerin einwenden. Denn die Antrags-gegnerin habe ihre bislang vorliegenden
Bewilligungsbescheide nicht aufgehoben bzw. keine gegenteiligen Bescheide erlassen.
Die Antragsgegnerin hat gegen den Beschluss des SG Beschwerde erhoben, ihn zugleich aber ausgeführt und der
Antragstellerin rückwirkend ab 8. Juli 2005 bis laufend Krankengeld gezahlt. Durch Bescheid vom 5. Januar 2006 hat
sie festgestellt, dass für die Antragstellerin in der – der Krankengeldzahlung zugrunde liegenden – Tätigkeit vom 15.
Juni 2005 bis 15. Juli 2005 keine Sozialversicherungspflicht bestehe. Den Widerspruch dagegen hat sie durch
Widerspruchsbescheid vom 28. März 2006 zurückgewiesen.
Die Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist unzulässig, soweit die Antragsgegnerin entsprechend
dem angefochtenen Beschluss Krankengeld bereits ausgezahlt hat. Insoweit fehlt der Antragsgegnerin das
erforderliche Rechtschutzinteresse. Zwar hatte die Beschwerde keine aufschiebende Wirkung (§ 175
Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Gleichwohl verhielt es sich nicht so, dass die Antragsgegnerin, um der Vollstreckung
gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 SGG zuvor zu kommen, gehalten war, den angefochtenen Beschluss auszuführen. War
sie davon überzeugt, dass die Antragstellerin nicht nur keinen endgültigen Anspruch auf das streitige Krankengeld
hatte, sondern dass es ihr – im Rahmen einstweiligen Rechtschutzes – nicht einmal vorläufig zustand, so hätte sie
dem durch Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung gemäß § 199 Abs. 2 SGG Ausdruck verleihen müssen. Da sie
das nicht getan, sondern der Antragstellerin – ohne rechtlich dazu gezwungen zu sein und insofern freiwillig – das
Krankengeld bis laufend vorläufig ausgezahlt hat, ist es ihr nunmehr verwehrt, insoweit noch geltend zu machen, das
Krankengeld stehe der Antragstellerin nicht einmal vorläufig zu. Anderenfalls könnten schon Entscheidungen im
einstweiligen Rechtschutzverfahren leicht Rückzahlungsverpflichtungen des Antragstellers auslösen, was dem Sinn
dieses Verfahrens zuwider liefe. Würde im einstweiligen Rechtschutzverfahren einem Antrag auf Aussetzung der
Vollstreckung nicht entsprochen werden, dürfte damit in der Regel schon eine Vorentscheidung im Sinne einer
Bestätigung der angefochtenen einstweiligen Anordnung getroffen worden sein.
Die Antragsgegnerin hat deshalb, soweit sie der einstweiligen Anordnung nachgekommen ist, kein schützenswertes
Interesse mehr an deren Aufhebung. Es kann ihr nur noch darum gehen, den ausgezahlten Betrag überhaupt
zurückzuerhalten und festgestellt zu wissen, dass sie nicht endgültig zur Krankengeldgewährung verpflichtet ist. Das
ist aber nicht Gegenstand des einstweiligen Rechtschutzverfahrens (im Ergebnis ebenso Beschluss des
Thüringischen OVG vom 17.07.1997 in FEVS 48, 129; Beschlüsse des LSG Berlin-Brandenburg vom 04.11.2005 - L
14 B 1147/05 AS ER -, vom 06.12.2005 - L 10 B 1144/05 AS ER -, vom 08.12.2005 - L 5 B 1231/05 AS ER - und vom
02.02.2006 - L 14 B 1307/05 AS ER -).
Im Übrigen ist die Beschwerde im Wesentlichen begründet. Ob ein Anordnungsanspruch besteht, muss jedenfalls
nach Erlass des Bescheides vom 5. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. März 2006 als
offen bezeichnet werden. Hier stehen Argumente gegen Argumente, die nur unter sorgfältiger Ausschöpfung aller
Erkenntnismöglichkeiten im Hauptverfahren gegeneinander abgewogen werden können. In einem solchen Falle kommt
es auf eine Interessenabwägung an (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005 § 86 b Rz 29). Diese
fällt hier zu Lasten der Antragstellerin aus:
Das streitige Krankengeld wird im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückwirkend gewährt. Während des
Hauptsacheverfahrens, das sich an den nunmehr ergangenen Widerspruchsbescheid vom 28. März 2006
zulässigerweise anschließen kann, ist das Existenzminimum der Antragstellerin – die nach ihrem Vortrag nicht über
ausreichende Rücklagen verfügt - anderweitig gedeckt. Bei entsprechender Bedürftigkeit der Antragstellerin kommen
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II in Betracht. Dem steht der
Nachrang dieser Leistungen gegenüber den Leistungen nach dem SGB V (vgl. § 2 Abs. 1 SGB II) in Konstellationen
wie der Vorliegenden nicht entgegen. Trotz der Nachrangigkeit der Leistungen nach § 2 Abs. 1 SGB II kann
Hilfebedürftigkeit nach § 9 Abs. 1 SGB II gegeben sein, wenn der Hilfebedürftige die in Betracht kommenden Mittel
(hier Krankengeld) tatsächlich nicht erhält. Der Nachrangigkeit der Leistungen nach dem SGB II wird durch die
Regelung des § 5 Abs. 3 SGB II Genüge getan, nach der der Leistungsträger nach dem SGB II ggf. erforderliche
Anträge selbst stellen kann (vgl. Sächsisches Landessozialgericht 3. Senat, Beschluss vom 19. September 2005,
Az: L 3 B 155/05 AS-ER). Kompetenzkonflikte zulasten der Antragstellerin sind damit nicht zu erwarten. Selbst für
den Fall, dass der zuständige Träger nach dem SGB II nicht nur von vorübergehender Arbeitsunfähigkeit, sondern von
dauerhafter Erwerbsunfähigkeit der Antragstellerin ausgehen sollte, besteht schließlich ein Anspruch auf Zahlung von
Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II. Denn nach der seit dem 1.1.2005 geltenden Rechtslage hat
grundsätzlich vorrangig die Bundesagentur für Arbeit nach § 44a SGB II festzustellen, ob ein Hilfesuchender
erwerbsfähig ist und bis zu einer Feststellung der Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 SGB II durch die Einigungsstelle
vorläufig Leistungen zu gewähren (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg 15. Senat, Beschluss vom 27. Januar
2006, Az: L 15 B 1105/05 SO ER). Vor allem weil der Bezug von Leistungen nach dem SGB II – anders als noch der
Bezug von Leistungen nach dem BSHG – zur (vorliegend vorrangig streitigen) Pflichtversicherung in der gesetzlichen
Krankenversicherung führt, folgt der Senat der Auffassung nicht, dass eine Verweisung im einstweiligen
Anordnungsverfahren auf Leistungen für erwerbsfähige Hilfebedürftige grundsätzlich unzumutbar sei (für diese
Auffassung vgl. nur Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer aaO Rdnr. 29 b mwN). Im Falle des streitigen Bezuges von
Krankengeld hält der Senat den Verweis auf diese Leistungen vielmehr dann für möglich, wenn Vermögen ersichtlich
nicht vorhanden ist, so dass es auf (nach §§ 9, 12 SGB II ggf. erforderliche) Vermögensdispositionen, die bei
Obsiegen in der Hauptsache nicht hätten getroffen werden müssen und die nach Abschluss des
Hauptsacheverfahrens unter Umständen nicht mehr rückgängig zu machen sind, nicht ankommt. Da ein Anspruch auf
Krankengeld für nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V pflichtversicherte Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung
nicht besteht (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB V), verbliebe es bei fehlender Mitgliedschaft nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V
abschließend bei einem Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung, so dass es schon deshalb ratsam erscheint,
einen entsprechenden Antrag (vgl. § 37 SGB II) zu stellen.
Nach Aktenlage besteht auch kein Anhalt für die Annahme, dass die Antragstellerin – nicht einmal mit Hilfe ihrer
Freundin (vgl. Schriftsatz der Antragstellerin vom 26. Oktober 2005) – nicht in der Lage sein könnte, die
vorbezeichnete Leistung zu beantragen. Insbesondere mit Rücksicht auf die Art der Erkrankung der Antragstellerin
hält der Senat es aber für erforderlich, dass die Krankengeldzahlung nicht sofort nach Zustellung dieses Beschlusses
eingestellt wird. Vielmehr ist die Leistung der Antragstellerin noch für einen weiteren Monat zu belassen, in deren
Verlauf sie sich umorientieren kann.
Darüber hinaus aber ist angesichts der vorgenannten Alternative, unterhaltssichernde Leistungen zu erlangen, dem
Interesse der Antragsgegnerin Rechnung zu tragen, nicht vorläufig – womöglich bis zur Erschöpfung des Anspruchs –
weiter Krankengeld zahlen zu müssen, obwohl der Antragstellerin das Krankengeld möglicherweise nicht zusteht.
Abschließend weist der Senat klarstellend darauf hin, dass die Verweisung auf die Inan-spruchnahme von Leistungen
nach dem SGB II im einstweiligen Anordnungsverfahren – wie hier – nur ausnahmsweise in Betracht kommen wird.
Grundsätzlich hat die Prüfung des Anordnungsanspruchs Vorrang. Ist der Anordnungsanspruch zu bejahen, wird eine
Verweisung auf Leistungen nach dem SGB II regelmäßig auszuscheiden haben. Ist der Anordnungsanspruch zu
verneinen, sind damit in der Regel auch die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne
weiteres zu verneinen. Wie oben bereits ausgeführt, scheidet eine Verweisung auf Leistungen nach dem SGB II
schließlich dann aus, wenn ersichtlich nach §§ 9, 12 SGB II verwertbares Vermögen vorhanden ist oder andere
Umstände des Einzelfalles die Inanspruchnahme dieser Leistungen unzumutbar erscheinen lassen.
Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).