Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 15.12.2008
LSG Berlin und Brandenburg: aufschiebende wirkung, sachliche zuständigkeit, hauptsache, pflege, erlass, versorgung, krankenversicherung, behinderung, krankenkasse, wirtschaftlichkeitsgebot
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 15.12.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt (Oder) S 11 P 37/08 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 27 B 127/08 P ER
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 14. Oktober 2008
wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet
wird, dem Antragsteller eine Deckenliftanlage, bestehend aus zwei Deckenliftgarnituren (Gurt, Motor, Körperformgurt)
sowie Deckenschienen nach Aufmaß jeweils in beiden Badezimmern, an den beiden Anfangs- und Endpunkten des
Treppenlifts, im Therapiezimmer, im Schlafzimmer des Antragstellers, im Essbereich und im Wohnzimmer, vorläufig
zur Verfügung zu stellen. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten für das
Beschwerdeverfahren zu erstatten. Der Antrag des Antragstellers, ihm für das Beschwerdeverfahren
Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt.
Gründe:
Die zulässige, insbesondere nach § 172 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte und frist- und
formgerecht im Sinne von § 173 SGG eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 14. Oktober 2008 ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin -
mit der aus dem Tenor ersichtlichen Maßgabe - der Sache nach zu Recht im Rahmen einstweiligen Rechtsschutzes
verpflichtet, den Antragsteller mit der von ihm begehrten Deckenliftanlage zu versorgen.
Zunächst ist das Sozialgericht für den Erlass der einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG sachlich
zuständig gewesen. Nach Satz 1 dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen durch das Gericht der Hauptsache
zu treffen. Nach Satz 3 der Vorschrift ist Gericht der Hauptsache im vorstehenden Sinne das Gericht des ersten
Rechtszugs und nur dann, wenn die Hauptsache im Berufungsverfahren anhängig ist, das Berufungsgericht (Keller, in:
Meyer-ladewig/ Keller/ Leihterer, SGG – Kommentar, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn. 37). Da vorliegend im Zeitpunkt des
Eingangs des Eilrechtsschutzantrags am 25. September 2008 in der Hauptsache bereits die Revision beim
Bundessozialgericht zu B 3 P 4/08 R anhängig gewesen ist, ist die sachliche Zuständigkeit für den Erlass der
einstweiligen Anordnung vom während des Berufungsverfahrens zwischenzeitlich sachlich zuständig gewesenen
Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg wieder auf die erste Instanz zurückgefallen.
Dem Eilrechtsschutzantrag steht die (beschränkte) Rechtskraft der im Beschluss des Senats vom 14. Januar 2008 –
L 27 P 53/08 ER – enthaltenen Ablehnung des damaligen auf die vorläufige Versorgung mit einer Deckenliftanlage
gerichteten Eilrechtsschutzantrags des Antragstellers nicht entgegen. Zum einen lehnte der Senat den damaligen
Eilrechtsschutzantrag, ohne eine Entscheidung in der Sache selbst zu treffen, lediglich als unzulässig mit der
Begründung ab, dass das Rechtsschutzbedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Anordnung angesichts des mit
dem stattgebenden erstinstanzlichen Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 24. August 2007 – S 11 P 71/03 –
gegebenen vollstreckbaren Titels im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG fehle, zumal die Berufung gemäß § 154 Abs.
1 SGG keine aufschiebende Wirkung habe. Zum anderen lag dem Beschluss vom 14. Januar 2008 eine andere
Sachlage zugrunde als jetzt. Denn zur Zeit verfügt der Antragsteller hinsichtlich seines – hier im Rahmen
einstweiligen Rechtsschutzes geltend gemachten - Rechtsschutzbegehrens über keinen vollstreckbaren Titel mehr,
weil der Senat die Klage mit Urteil vom 24. April 2008 – L 27 P 48/08 - hinsichtlich des Hauptantrags abgewiesen hat,
wobei die hiergegen eingelegte Revision gemäß § 165 S. 1 in Verbindung mit § 154 Abs. 1 SGG ihrerseits keine
aufschiebende Wirkung entfaltet.
Gerade weil der Kläger für sein Hauptbegehren derzeit über keinen vollstreckbaren Titel verfügt, ist – anders als beim
vorgenannten Beschluss des Senats vom 14. Januar 2008 - zur Zeit auch das für den neuerlichen Antrag auf Erlass
einer entsprechenden einstweiligen Anordnung erforderliche Rechtsschutzbedürfnis gegeben.
Der Eilrechtsschutzantrag ist – mit der aus dem Tenor ersichtlichen Maßgabe – begründet. Der Antragsteller hat
Anordnungsgrund und –anspruch mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen
Wahrscheinlichkeit gemäß §§ 86b Abs. 2 S. 1 bis 4 SGG, 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft
gemacht.
Der Anordnungsgrund ist gegeben. Nach Überzeugung des Senats ist ein eiliges Regelungsbedürfnis insoweit
gegeben, als dem Antragsteller die finanziellen Mittel zur Anschaffung einer Deckenliftanlage fehlen und die Mutter
des Antragstellers als bisherige Pflegeperson ohne Deckenliftanlage - entgegen der aus §§ 2 Abs. 1, 3 S. 1 des Elften
Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) folgenden - Zielsetzung der sozialen Pflegeversicherung körperlich nicht
(mehr) in der Lage ist, die häusliche Pflege des mittlerweile über 160 cm großen und mehr als 64 kg schweren
Antragstellers fortzusetzen, welcher an einer mehrfachen schweren körperlichen und geistigen Behinderung in Folge
unter anderem einer spastischen Cerebralparese und Epilepsie leidet. Hierfür bezieht sich der Senat auf das vom
Antragsteller vorgelegte ärztliche Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin und Chirotherapie L vom 4. Oktober
2007, wonach die Mutter des Antragstellers unter einer anhaltenden therapiebedürftigen Funktionsstörung der
Wirbelsäule aufgrund der mit einer andauernden Fehl- und Mehrbelastung ihres Stützapparates einhergehenden
Dauerpflege des Antragstellers leidet, wobei bei der fortgesetzten ständigen Belastung eine Verschlimmerung droht.
Der Anordnungsanspruch ist zu bejahen, weil der Antragsteller als bei der Antragsgegnerin versicherter
Schwerstpflegebedürftiger zum gemäß §§ 1 Abs. 4, 21 Abs. 1 S. 1, 4 Abs. 1, 14, 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 28 Abs. 1 Nr.
5 SGB XI dem Grunde nach anspruchsberechtigten Personenkreis gehört und ihm aufgrund einer Folgenabwägung die
begehrte Leistung nach § 40 Abs. 1 S. 1 (Abs. 3 S. 1) SGB XI zusteht, wonach Pflegebedürftige Anspruch auf
(leihweise) Versorgung mit (technischen) Pflegehilfsmitteln haben, die zur Erleichterung der Pflege oder zur Linderung
der Beschwerden des Pflegebedürftigen beitragen oder ihm eine selbständigere Lebensführung ermöglichen, soweit
die Hilfsmittel nicht wegen Krankheit oder Behinderung von der Krankenversicherung oder anderen zuständigen
Leistungsträgern zu leisten sind.
Die Gewährleistung des aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 des Grundgesetzes (GG) folgenden Gebots effektiven
Rechtsschutzes stellt besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen
können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Die Gerichte müssen in solchen Fällen,
wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur
summarisch, sondern abschließend prüfen. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und
Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall
sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen und müssen sich die
Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um
die durch Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete Wahrung der Würde des Menschen geht, deren Verletzung die Gerichte zu
verhindern haben, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert (Bundesverfassungsgericht,
Erster Senat, Dritte Kammer, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvvR 569/05 -, zitiert nach juris Rn. 24 ff.).
Dies zugrunde gelegt, ist hier eine Folgenabwägung vorzunehmen. Denn mit dem zu befürchtenden Abbruch der
häuslichen Pflege durch die Mutter erlitte der Antragsteller eine schwere und unzumutbare Beeinträchtigung, welche
durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wäre. Die entscheidungserhebliche Frage, ob die vom
Antragsteller begehrte Deckenliftanlage ein dem aus § 29 Abs. 1 SGB XI folgenden Wirtschaftlichkeitsgebot
entsprechendes, das heißt notwendiges, der Leistungspflicht der sozialen Pflegeversicherung unterfallendes
(technisches) Pflegehilfsmittel im Sinne von § 40 Abs. 1 S. 1 (Abs. 3 S. 1) SGB XI ist, betrifft den Antragsteller
zudem unmittelbar in seiner von Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten Menschenwürde, welcher gemäß § 2 Abs. 1 S. 1 SGB
XI die Leistungen der Pflegeversicherung Rechnung zu tragen haben, und lässt sich im vorliegenden Eilverfahren
auch nicht nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12. Juni 2008 – B 3 P 6/07 R –abschließend klären,
wonach Deckenliftanlagen Hilfsmittel entweder der gesetzlichen Krankenversicherung im Sinne von § 33 des Fünften
Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB V) oder der sozialen Pflegeversicherung im Sinne von § 40 Abs. 1 S. 1 SGB XI
sind, je nachdem, ob der Behinderungsausgleich oder die Pflegeerleichterung im Vordergrund steht.
Die hier anknüpfende Folgenabwägung fällt im vorliegenden Fall zugunsten des Antragstellers aus. Es sind die Folgen
abzuwägen, die eintreten würden, wenn die begehrte Anordnung nicht erginge, der Antragsteller im
Hauptsacheverfahren aber obsiegte, gegenüber den Folgen, die entstünden, wenn die Anordnung erlassen würde, der
Antragsteller indes im Hauptsacheverfahren keinen Erfolg hätte. Dies zugrunde gelegt, wöge der bei einer weiterhin
unterbleibenden Versorgung mit der Deckenliftanlage zu befürchtende Abbruch der häuslichen Pflege des
Antragstellers durch seine Mutter schwerer als die Gefahr einer durch die Antragsgegnerin letztlich möglicherweise zu
Unrecht erbrachten Hilfsmittelversorgung, zumal die Antragsgegnerin letzterenfalls die Hilfsmittelversorgung
möglicher- und rechtmäßigerweise durch ihre Krankenkasse zu erbringen hätte und hiernach nur noch die Frage der
Erstattung anstünde, worauf das Sozialgericht im angefochtenen Beschluss zutreffend hingewiesen hat. Dass das
Interesse der Antragsgegnerin an der strikten Trennung der Leistungszuständigkeit zwischen gesetzlicher
Krankenversicherung und sozialer Pflegeversicherung hinter das Versorgungsinteresse des Antragstellers
zurückzutreten hat, hat zudem das BSG im Revisionsverfahren der Sache nach in seiner Anfrage an die
Antragsgegnerin vom 27. November 2008 zum Ausdruck gebracht, ob nämlich über das Leistungsbegehren auf der
Grundlage der Senatsentscheidung vom 12. Juni 2008 im Revisionsverfahren B 3 P 6/07 R im Benehmen mit der
Krankenkasse des Antragstellers in dessen Sinne entschieden werden könne.
Da nach der aus dem Tenor ersichtlichen Verpflichtung es der Antragsgegnerin nachgelassen ist, den Antragsteller
auch nur leihweise mit einer Deckenliftanlage zu versorgen und sich die Deckenliftanlage technisch ohne eine
Gebrauchsminderung wieder abbauen und bei anderen versicherten Pflegebedürftigen gegebenenfalls wieder
verwenden ließe, liegt in der hier getroffenen Entscheidung – wie bereits das Sozialgericht im angefochtenen
Beschluss zutreffend ausgeführt hat - auch keine unzulässige, sondern allenfalls eine zulässige Vorwegnahme der
Hauptsache, welche geboten ist, um der Schaffung vollendeter Tatsachen entgegen zu wirken und die Hauptsache
entscheidungsoffen zu erhalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache selbst.
Der Antrag des Antragstellers, ihm für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, war abzulehnen,
weil der Antragsteller aufgrund der vorstehenden Kostenentscheidung gegen die Antragsgegnerin einen Anspruch auf
vollständige Erstattung seiner außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens besitzt und er deshalb nicht
bedürftig im Sinne des § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 S. 1 ZPO ist.
Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde ans Bundessozialgericht angefochten werden.