Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 13.03.2017
LSG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, behörde, zwangsvollstreckung, wahrscheinlichkeit, zustellung, akte, hauptsache, arbeitsstelle, verschulden, kündigung
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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
32. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 32 B 1565/07 AS ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 2 S 2 SGG, § 172 Abs
1 SGG, § 175 SGG, § 199 Abs 2
SGG, § 22 Abs 5 S 1 SGB 2
Einstweilige Anordnung - Rechtsschutzbedürfnis des
Grundsicherungsträgers für Beschwerde - Leistungserfüllung zur
Vermeidung der Zwangsvollstreckung - Mietschuldenübernahme
Leitsatz
Das Rechtsschutzbedürfnis einer Beschwerde gegen eine stattgebende einstweilige
Anordnung des Sozialgerichts entfällt nicht, wenn der Beschwerdeführer zur Vermeidung
einer Zwangsvollstreckung der Anordnung nachgekommen ist.
Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern zu 1, 3 und 4 die außergerichtlichen Kosten
auch des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde, der das Sozialgericht (SG) nicht abgeholfen hat, ist zulässig, selbst
wenn der Antragsgegner mittlerweile der erstinstanzlichen Verpflichtung zur
einstweiligen Gewährung eines Darlehens und dessen Auszahlung nachgekommen sein
sollte:
Das Recht zur Beschwerde steht nach § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auch der
in erster Instanz unterlegenen Behörde zu. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt nicht,
wenn die Behörde als Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin der vom Sozialgericht
auferlegten Verpflichtung nachgekommen ist, um eine Zwangsvollstreckung
abzuwenden bzw. zu vermeiden. Solange die Behörde aus diesem Grund -und nicht
freiwillig (vgl. hierzu: OVG Berlin, B. v. 15.09.1997 -2 SN 11/97 NVwZ 1998, 85f) - leistet,
gibt es keine prozessuale Vorschrift oder Regel, die eine Beschränkung des
Rechtsschutzes der unterlegenen Behörde ausschließlich auf das Hauptsacheverfahren
vorsieht (anderer Auffassung: LSG Berlin-Brandenburg, 10. Senat, B. v. 9.12.2005 -L 10
B 1004/05AS ER- veröffentlicht unter www.sozialgerichtsbarkeit.de). Die Beschwerde
setzt nur voraus, dass der Beschwerdeführer sein Begehren auf eine vorläufige Regelung
beschränkt und nicht bereits im Eilrechtsverfahren eine endgültige Klärung begehrt (in
diesem Sinne ebenso: LSG Berlin-Brandenburg, 14. Senat, B. v. 4.11.2005 -L 14 B
1147/05 AS ER Juris mit Bezug auf OVG Weimar, B. v. 17.07.1997 -2 ZEO 256/97 FEVS
48, 129-131).
Es entspricht der vorherrschender Auffassung, dass das zur Abwendung einer
Zwangsvollstreckung Geleistete den Rechtsstreit nicht erledigt (vgl. Bundesgerichtshof
NJW 1994, 942) und die Beschwer des Rechtsmittelführers nicht entfällt (vgl.
Zöller/Gunnar/Heßler ZPO, 25.A. 2005 vor § 511 Rdnr. 10 mit Nachweisen). Es kann
insoweit keinen Unterschied zur Situation einer tatsächlich durchgeführten Vollstreckung
einer noch nicht endgültigen gerichtlichen Entscheidung geben. Auch die Beschwerde
nach § 173 SGG hat im Regelfall -wie hier bei einer Eilentscheidung nach § 86b Abs. 2
SGG- gemäß § 175 SGG keine aufschiebende Wirkung: Eine Behörde, die sich rechtstreu
verhält, folgt der durch das Sozialgericht ausgesprochenen Verpflichtung sofort
(spätestens nach der förmlichen Zustellung). Es wäre weder im wohlverstandenen
Interesse des erstinstanzlich obsiegenden Antragstellers, wenn die Behörde quasi zu
rechtswidrigem Verhalten -nämlich einer vorübergehenden Missachtung jedenfalls bis
zur Entscheidung über einen Antrag nach § 199 Abs. 2 SGG- gezwungen wäre, wenn sie
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zur Entscheidung über einen Antrag nach § 199 Abs. 2 SGG- gezwungen wäre, wenn sie
die einstweilige Anordnung für rechtswidrig hält. Noch genügte es ihrem Recht auf
Gehör, wenn sie trotz bestehendem Rechtsbehelf bei rechtstreuer Beachtung der
sofortigen Vollziehbarkeit das Rechtsmittel der Sache nach verlöre. Art. 103 Abs. 1
Grundgesetz gehört zu den Rechten, auf die sich auch staatliche Stelle berufen können
(vgl. hierzu Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Rdnr. 33).
Die Beschwerde des erstinstanzlich unterliegenden Antragsgegners setzt nach dem
Gesetz neben der Beschwer auch kein Eilbedürfnis oder ähnliches voraus. Sie hat
(bereits) Erfolg, wenn die Voraussetzungen für die einstweilige Anordnung nicht bzw.
nicht mehr vorliegen.
Anderes folgt nicht aus der Möglichkeit, nach § 199 Abs. 2 SGG die Aussetzung der
Vollstreckbarkeit zu beantragen. Diese Vorschrift ist eine rein vollstreckungsrechtliche.
Sie schränkt jedoch nicht die materielle Beschwerdemöglichkeit ein.
Die Beschwerde bleibt jedoch in der Sache erfolglos.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine
einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Der Erlass einer Regelungsanordnung setzt grundsätzlich voraus, dass der geltend
gemachte Anspruch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht
(Anordnungsanspruch), dass ohne Eilrechtsschutz bis zur Entscheidung in der
Hauptsache mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Rechtsverletzung
droht (Anordnungsgrund) und dass die Interessen des Antragstellers auch sonst
überwiegen.
Hier besteht ein Anordnungsanspruch. Es spricht viel dafür, dass bei der im Rahmen
eines Eilverfahrens grundsätzlich vorzunehmenden nur summarischen Prüfung das
Ermessen des Antragsgegners nach § 22 Abs. 5 Satz 1 Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB
II) so reduziert ist, dass eine Darlehensgewährung zu erfolgen hat:
Der Senat folgt dem SG in der sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergebenden
Auffassung, § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II stelle auf den Verlust der konkreten Wohnung ab.
Nur bei der Sollvorschrift des § 22 Abs. 5 Satz 2 SGB II - also einer im Regelfall
zwingenden Leistungsgewährung- kann sich die Frage ergeben, ob Wohnungslosigkeit
auch dann drohen kann, wenn Obdachlosigkeit nicht zu befürchten ist. Da das SG Abs. 5
Satz 2 des § 22 SGB II nur zusätzlich angewendet hat, geht die entsprechende Kritik des
Antragsgegners an der Entscheidung vorbei.
Auch nach § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II müssen die Mietschulden übernommen werden,
wenn sich nur dies als sachgerechte Ermessensausübung darstellt.
Der Antragsgegner weist zutreffend darauf hin, dass hier nach Aktenlage gewichtige
Umstände gegen eine Prognose künftiger Mietschuldenfreiheit sprechen. So haben die
Sozialbehörden schon wiederholt Mietschulden bezahlt.
Es spricht aber ungeachtet dessen viel dafür, dass die Schulden trotzdem übernommen
werden müssen:
Bereits aus der Akte ergibt sich, dass sich die Antragstellerin zu 1) bemüht, ihren
Verpflichtungen nachzukommen. In verschiedenen Schreiben versucht sie, das aus ihrer
Sicht fehlende Verschulden an ihrer Situation darzulegen. Dabei fällt auf, dass das
Schreiben der Antragstellerin zu 1) vom 11. Juni 2007 nicht richtig zur Akte genommen
worden ist. U. a. hat sie im April 2007 ihre Arbeitsstelle verloren. Weiter scheint sich der
Antragsteller zu 2) um die finanziellen Angelegenheiten nicht zu kümmern. Ob sich dies
die anderen Antragsteller zurechnen lassen müssen, erscheint fragwürdig.
Es ist weiter sicher sinnvoll, dass die Antragsteller persönlich erscheinen sollen, um eine
realistische Prognose zu ermöglichen, ob das konkrete Mietverhältnis dauerhaft erhalten
bleiben kann. Diese Prüfung und die Prognosestellung obliegen dem Antragsgegner. Die
Pflicht zur persönlichen Vorsprache, welche § 61 Sozialgesetzbuch 1. Buch (SGB I)
normiert, bezieht sich auf ein Erscheinen beim zuständigen Leistungsträger. Dem
Antragsgegner ist es deshalb grundsätzlich verwehrt ist, eine Leistungsversagung nach §
66 SGB I auf eine unterlassene Vorsprache bei einer anderen Behörde zu stützen.
Genau dies hat der Antragsgegner der Antragstellerin zu 1) jedoch mit
Aufforderungsschreiben vom 9. August 2007 verlangt.
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Soweit der Antragsteller meint, es komme höchstens eine anteilige
Mietschuldenübernahme in Betracht, weil der Antragsteller zu 2) kein Mitglied der
Bedarfsgemeinschaft ist, stellt dies keinen entscheidenden Ermessensgesichtspunkt
dar. Da die Notlage des Wohnungsverlustes nach der hier erfolgten fristlosen Kündigung
wegen Zahlungsverzugs nur durch den Ausgleich aller Mietschulden nach § 569 Abs. 3
Nr. 3 BGB unwirksam wird, geht es um einen Anspruch auf Übernahme der gesamten
Schulden.
Es besteht auch ein Anordnungsgrund. Ganz allgemein ist ein Zuwarten umso eher
unzumutbar, je größer die Erfolgschancen in der Sache einzuschätzen sind (ständige
Rechtsprechung des Senats (vgl. z. B. B. v. 3. 07. 2007 -L 32 B 723/07 AS ER-; v.
5.09.2007 -L 32 AS 1423/07 AS ER-). Hier ist den Antragstellern gerade angesichts der
bestehenden Erfolgschancen in der Sache nicht zuzumuten, die Frist nach § 569 Abs. 3
Nr. 3 BGB (zwei Monate nach Zustellung der Räumungsklage) zu versäumen. Die
Räumungsklage ist hier nach Aktenlage am 10. August 2007 erhoben worden.
Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193
Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Gegen diese Entscheidung ist die Beschwerde an das Bundessozialgericht nicht gegeben
(§ 177 SGG).
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