Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 23.09.2004

LSG Berlin-Brandenburg: unechte rückwirkung, versicherter verdienst, post, rücknahme, altersrente, vergleich, rückwirkungsverbot, vertrauensschutz, hauptsache, sammlung

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 1.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 1 R 196/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 256a Abs 2 SGB 6, § 310a SGB
6, § 44 Abs 1 SGB 10, § 44 Abs 4
SGB 10
Neufeststellung einer Rente mit Beschäftigungszeiten bei der
Deutschen Reichsbahn bzw. der Deutschen Post
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. September 2004 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit steht, ob die Beklagte die Altersrente des Klägers für die Zeit ab 1. Januar 1994
oder erst für die Zeit ab 1. Dezember 1998 neu festzustellen hat:
Der im geborene Kläger war zwischen April 1943 und November 1991 durchgängig bei
der Deutschen Reichspost bzw. bei der Deutschen Post der DDR beschäftigt. Die
Beklagte bewilligte ihm mit Bescheid vom 22. April 1993 eine Regelaltersrente mit
Beginn ab 1. April 1992. Während des anschließenden Widerspruchsverfahrens stellte sie
die Altersrente mit Bescheiden vom 11. Januar 1994 und vom 1. Juni 1995 neu fest. Im
sich anschließenden Klageverfahren schlossen die Beteiligten vor dem Sozialgericht
Berlin (SG) am 15. April 1998 einen Vergleich, wonach die Beklagte Zeiten im Jahre 1945
als Pflichtbeitragszeiten anerkannte, der Kläger im Gegenzug die Klage im Übrigen
zurücknahm (Az.: S 4 An 8341/95). Die Beklagte stellte die Rente mit Bescheid vom 14.
Mai 1998 neu fest. Der Kläger bat in der Folgezeit um Überprüfung betreffend die
Anerkennung seiner Ausbildung als Beamtenanwärter zwischen 1943 und 1945. Mit
Bescheid vom 5. Oktober 1998 lehnte die Beklagte eine Rücknahme nach § 44
Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ab.
Der Kläger beantragte bezugnehmend auf die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG)
vom 10. November 1998 mit Schreiben vom 2. Dezember 1998 eine Neuberechnung
seiner Rente unter Berücksichtigung seines den monatlichen Betrag von 600,00 M
übersteigenden Arbeitsverdienstes für die Zeit vom 1. März 1971 bis 31. Dezember
1973. Mit Bescheid vom 11. November 2002 stellte die Beklagte die Regelaltersrente ab
1. Dezember 1998 neu fest und berücksichtigte dabei für die Zeit vom 1. März 1997 bis
31. Dezember 1973 das 600,00 M übersteigende Arbeitsentgelt. Als Grund für die
Neufeststellung gab sie dabei die gesetzlichen Neuregelungen im Zweiten Gesetz zur
Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes vom
27. Juli 2001 (2. AAÜG-ÄndG) an. Für Beschäftigungszeiten bei der Deutschen Post seien
danach zusätzliche Entgelte zu berücksichtigen. Die Festsetzung erfolge für die Zeit ab
1. Dezember 1998. An diesem Tag seien die gesetzlichen Neuregelungen in Kraft
getreten, weil der bisherige Rentenbescheid am 10. November 1998 bereits bindend
gewesen.
Der Kläger erhob Widerspruch. Der tatsächlich erzielte Arbeitsverdienst müsse nach
dem BSG-Urteil von Anfang an berücksichtigt werden. Die Beklagte wies den
Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 9. Januar 2004 zurück. Das 2. AAÜG-ÄndG
sei rückwirkend zum 1. Dezember 1998 in Kraft getreten. Die Neufeststellung, welche
nach dem dabei eingefügten § 310 a Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) auf
Antrag durchzuführen sei, wenn der Rentenbeginn vor dem 3. August 2001 gewesen sei,
erfolge nach dem Gesetz frühestens für die Zeit ab 1. Dezember 1998. Dies gelte auch
für Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X. Davon abweichend sei die Neuberechnung
nach § 310 a SGB VI nur dann ab 1. Januar 1992 bzw. ab Rentenbeginn durchzuführen,
wenn der Rentenbescheid am 10. November 1998 noch nicht bindend gewesen sei oder
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wenn der Rentenbescheid am 10. November 1998 noch nicht bindend gewesen sei oder
erst nach diesem Tag erteilt worden sei. Hier jedoch sei der Rentenbescheid am 10.
November 1998 bindend gewesen. Das Klageverfahren gegen den Rentenbescheid vom
22. April 1993 sei durch den Vergleich vom 15. April 1998 beendet gewesen.
In seiner Klage hiergegen hat der Kläger das Abstellen auf die Bestandskraft des
ursprünglichen Rentenbescheides für willkürlich gehalten. Es sei reiner Zufall, dass der
Rechtsstreit bereits vor dem Stichtag beendet gewesen sei. In anderen Fällen habe die
Beklagte die Nachberechnung anstandslos vorgenommen. Er hat in der Verhandlung vor
dem SG beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 11. November 2002 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 2004 abzuändern und die Beklagte zu
verpflichten, die Bescheide vom 22. April 1993, 11. Januar 1994, 1. Juni 1995 und 14. Mai
1998 zurückzunehmen und die Regelaltersrente unter Berücksichtigung der im Zeitraum
vom 1. März 1971 bis 31. Dezember 1973 tatsächlich erzielten Entgelte neu
festzustellen. Zuvor hatte der Vorsitzende ihn darauf hingewiesen, dass nach § 44 Abs.
4 SGB X lediglich eine Neufeststellung rückwirkend für vier Kalenderjahre in Betracht
komme.
Das SG hat dieser Klage stattgegeben. Der Kläger habe nach § 44 Abs. 1, Abs. 4 SGB X
einen Anspruch auf Neufeststellung seiner Altersrente bereits ab 1. Januar 1994. Die
Beklagte habe zwar den durch das 2. AAÜG-ÄndG eingeführten § 310 a SGB VI
zutreffend angewandt. Allerdings folge der Anspruch des Klägers bereits unmittelbar aus
§ 256 a SGB VI in der bis dahin geltenden Fassung (nachfolgend: “alte Fassung” = a. F.).
Das Gericht folge dem Urteil des BSG vom 10. November 1998 - B 4 RA 32/98 R -.
Demnach sei in der fraglichen Zeit vom 1. März 1971 bis 31. Dezember 1973 der
gesamte Arbeitsverdienst versicherter Verdienst im Sinne des § 256 a SGB VI a. F..
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Das SG hätte § 256 a Abs. 2 SGB VI
nicht in der alten Fassung anwenden dürfen, weil ausschließlich das neue Recht
anzuwenden sei (Bezugnahme auf Urteil des BSG vom 11. Dezember 2002 – B 5 RJ
14/00 R –)(Blatt 37 f).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Berlin vom 23. September 2004 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Der Kläger hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Vorgang
der Beklagten verwiesen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Berufung hat Erfolg. Die Klage auf (Teil-)Rücknahme der
Rentenfeststellungsbescheide vom 22. April 1993, 11. Januar 1994, 1. Juni 1995 und 14.
Mai 1998 ist unbegründet. Der dies ablehnende Bescheid vom 11. November 2002 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 2004 ist rechtmäßig und
beschwert den Kläger nicht (§ 54 Abs. 1, Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Für die Frage, ob die aufgeführten Bescheide zurückzunehmen sind, ist nur auf die §§
310 a und 256 a Abs. 2 SGB VI in der Fassung der Änderungen durch das 2. AAÜG-ÄndG
(nachfolgend: „neue Fassung“ = n. F.) abzustellen. In § 256 a Abs. 2 SGB VI n. F. ist
klargestellt, dass entgeltpunktfähiger Arbeitsverdienst im Sinne der Vorschrift nur
solcher ist, für den „jeweils“ Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt wurden,
jedoch nicht die 600,00 M monatlich übersteigenden Entgelte der Mitarbeiter der
Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post. Nach der alten Fassung - ohne die
Klarstellung „jeweils“ - war unklar, ob auch Arbeitsverdienst (insgesamt)
entgeltpunktfähig sein konnte. Der 4. Senat des BSG hatte dies im Urteil vom 10.
November 1998 – B 4 RA 32/98 R – für die Mitarbeiter der Deutschen Post und
Deutschen Reichsbahn bejaht.
Gesetzesänderungen sind rückwirkend zu berücksichtigen, wenn und soweit die
gesetzliche Regelung nach ihrem zeitlichen Geltungsbereich das streitige
Rechtsverhältnis erfassen will (BSG, Urteil vom 11. Dezember 2002 – B 5 RJ 14/00 R –
BSGE 90,197,198). Nach Art. 13 Abs. 12 2.AAÜG-ÄndG ist § 310 a SGB VI mit Wirkung
vom 1. Dezember 1998 in Kraft getreten, es sei denn, am 10. November 1998 wäre ein
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vom 1. Dezember 1998 in Kraft getreten, es sei denn, am 10. November 1998 wäre ein
Rentenbescheid mit Beschäftigungszeiten bei der Deutschen Reichsbahn oder bei der
Deutschen Post noch nicht bindend bewilligt. § 310 a SGB VI ist eine spezielle Regelung
und normiert in Abweichung von § 44 Abs. 1, Abs. 4 SGB X, dass eine Neufeststellung
frühestens für die Zeit ab 1. Dezember 1998 erfolgen kann. Ab diesem Zeitpunkt tritt
nach Artikel 13 Abs. 12 2.AAÜG-ÄndG auch der neue § 256 a Abs. 2 SGB VI in Kraft.
Damit ist eine Rücknahme nach § 44 Abs. 1 SGB X für Zeiten vor dem 1. Dezember
1998 unter Berufung auf § 256 a Abs. 2 SGB VI a. F. nicht mehr möglich.
Der Gesetzgeber hat demnach einer Rücknahme unter Bezugnahme auf § 256a Abs. 2
SGB VI a. F. in der Auslegung durch den 4. Senat des BSG rückwirkend die Grundlage
entzogen.
Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese sogenannte
Rückwirkung.
Es handelt sich nur um eine sogenannte unechte Rückwirkung, die vorliegt, wenn eine
Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und
Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene
Rechtsposition nachträglich entwertet (so BVerfGE 101, 239, 263; Jarass in
Jarass/Pieroth, GG, 7. Auflage 2004 Art. 20 Rdnr. 69 mit weiteren Nachweisen). Art. 12
Abs. 13 2.AAÜG-ÄndG lässt bestandskräftige Rentenbewilligungen unberührt. Lediglich
für Anträge auf Neufeststellungen wird das Vertrauen auf den Fortbestand des § 256 a
Abs. 2 SGB VI a. F. enttäuscht.
Die Frage kann jedoch dahingestellt bleiben, weil die gesetzliche Regelung auch dann
verfassungsgemäß wäre, wenn es sich um eine echte Rückwirkung handeln würde.
Eine echte Rückwirkung ist dann möglich, wenn das verfassungsrechtlich grundsätzlich
gebotene Rückwirkungsverbot, das seinen Grund im Vertrauensschutz hat, zurücktritt,
weil kein schützenswertes Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts besteht
(BVerfGE 101, 239, 263f mit weiterem Nachweis). Dies kann der Fall sein, wenn die
rückwirkend geänderte Rechtslage unklar war, sodass sich ein Vertrauen des Einzelnen
in den Bestand von Rechtsnormen und Rechtsakten nicht bilden konnte (vgl. BVerfGE
88, 384, 404; BSG, Urt. vom 25.06.1998 –B 7 2/98R- BSGE 82, 198, 204).
Eine solche Situation lag hier vor. Der Kläger hatte und hat nicht auf den Fortbestand
des § 256a Abs. 2 SGB VI a. F. vertraut. Die skizzierte Auslegung durch den 4. Senat des
BSG stand konträr zur Praxis der Rentenversicherungsträger. Diese hatten den
fraglichen Relativsatz des § 256a Abs. 2 Satz 1 SGB VI a. F. („für die Pflichtbeiträge
gezahlt worden sind“) auch auf Arbeitsverdienste bezogen, und blieben auch nach den
Entscheidungen des BSG bei ihrer Auffassung (vgl. Wollschläger DRV 1999 Seite 675,
679 ff mit ausführlicher Begründung unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien).
Überdies ist bei verfahrensrechtlichen Vorschriften eine Durchbrechung des
Rückwirkungsverbotes eher möglich (vgl. BVerfGE 63, 343, 359). Hier handelt es sich –
wie ausgeführt – nicht um eine rückwirkende Einschränkung eines festgestellten
Rentenanspruches sondern nur um eine teilweise Einschränkung einer Vorschrift des
Verfahrensrechts, § 44 SGB X.
Die Beklagte hat Art. 13 Abs. 12 2.AAÜG-ÄndG richtig angewendet. Insbesondere war
der Rentenbescheid des Klägers mit Beschäftigungszeiten der Deutschen Post zum
Stichtag bereits bindend bewilligt. Die Vorschrift stellt speziell auf diese
Beschäftigungsverhältnisse ab, so dass es auf das im November 1998 noch anhängige
Neufeststellungsverfahren hinsichtlich anderer Zeiten (1943-1945) nicht ankommen
kann.
Die Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 SGG entspricht dem Ergebnis in der
Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Dem
Rechtsstreit kommt insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung zu (§ 160 Abs. 2 Nr. 1
SGG). Es handelt sich um eine Übergangsproblematik, die über fünf Jahre nach
Inkrafttreten des 2. AAÜG-ÄndG einen singulären Fall betrifft.
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