Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 24.04.2007

LSG Berlin und Brandenburg: depression, angestellter, berufsunfähigkeit, diagnose, form, behinderung, erwerbstätigkeit, verwaltungsverfahren, befund, psychiatrie

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 24.04.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 15 R 530/05
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 3 R 1407/06
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. August 2006 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1950 geborene Kläger, der nach seinen Angaben im März 1976 eine Ausbildung zum Radio- und Fernsehtechniker
abschloss, ab April 1979 als technischer Angestellter der Vergütungsgruppe V c bei der Senatsverwaltung für Jugend,
Bildung und Sport B arbeitete und seit 15. August 2001 arbeitsunfähig krank ist, stellte am 10. Februar 2003 bei der
Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Zur Begründung gab er an, sich seit
August 2001 wegen Depressionen und einer psychogenen Angstneurose für erwerbsge-mindert zu halten.
Zunächst lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 05. Mai 2003 wegen fehlender Mitwirkung ab. Dagegen
legte der Kläger Widerspruch ein und bezog sich zur Begründung u.a. auf ein Attest der Allgemeinmedizinerin G vom
18. Juni 2003. Auf Empfehlung des beratungsärztlichen Dienstes veranlasste die Beklagte daraufhin ein Gutachten,
das am 06. November 2003 von der Neurologin und Psychiaterin G erstattet wurde und in dem sie zu dem Ergebnis
kam, der Kläger leide an einer Panikstörung mit Neigung zu Meideverhalten und einer zurzeit leichten depressiven
Episode. Er sei deshalb jedoch noch in der Lage, mittelschwere Arbeiten in allen Haltungsarten ohne wesentlichen
Zeitdruck und ohne Nachtschicht 6 Stunden und mehr täglich zu verrichten. Daraufhin lehnte die Beklagte den
Rentenantrag mit Bescheid vom 04. Dezember 2003 ab. Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch machte der
Kläger geltend, wegen einer schweren Depression und täglichen Panikattacken sowie schwersten Existenz- und
Lebensängsten voll erwerbsgemindert zu sein. Die Beklagte zog Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte,
des Neurologen und Psychiaters Dipl. med. W vom 24. Juni 2004, der Allgemeinmedizinerin G vom 15. Juni 2004 und
des Neurologen und Psychiaters L vom 02. Juli 2004, bei. Dann beauftragte sie den Internisten Dr. K mit der
Untersuchung und Begutachtung des Klägers. Dr. K stellte in seinem Gutachten vom 07. Oktober 2004 fest, der
Kläger leide an einer Alkoholkrankheit, einem Leberpa-renchymschaden ohne Anhalt für eine Synthesestörung und
einem labilen Hypertonus, der zwar kontroll-, derzeit aber nicht behandlungsbedürftig sei. Auf internistischem
Fachgebiet bestünden demnach keine Gesundheitsstörungen von gravierendem Einfluss auf das Leistungsvermögen
im Erwerbsleben. Zumutbar seien leichte bis mittelschwere Arbeiten in allen Haltungsarten ohne quantitative
Einschränkung. Dies gelte auch für die erlernte Tätigkeit eines Radio- und Fernsehmechanikers sowie die gegenwärtig
ausgeübte Tätigkeit einer Bürokraft. Anschließend veranlasste die Beklagte eine weitere Begutachtung, die durch die
Neurologin und Psychiaterin Dr. S am 25. September 2004 durchgeführt wurde. Die Gutachterin diagnostizierte Angst
und Depression gemischt, phobische Störung und Alkoholmissbrauch. Gleichwohl sei der Kläger noch in der Lage,
sowohl seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit als auch mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
vollschichtig zu verrichten. Die Wiederaufnahme einer Beschäftigung würde sich eher stabilisierend auf die
psychische Befindlichkeit ausüben. Die ambulanten Behandlungsmaßnahmen seien noch nicht ausgeschöpft. Im
Hinblick auf das Ergebnis der medizinischen Ermittlungen wies die Beklagte den Widerspruch mit
Widerspruchsbescheid vom 04. Januar 2005 zurück.
Dagegen hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der er sein Ziel, die Gewährung einer Rente
wegen Erwerbsminderung zu erreichen, weiterverfolgt hat. Er könne wegen seiner schweren Depression weder seine
letzte Beschäftigung als technischer Angestellter noch andere wirtschaftlich verwertbare Tätigkeiten vollschichtig
verrichten. Zur Ver-schlimmerung seines psychischen Zustands habe der soziale Abstieg beigetragen, der darin
bestehe, dass er nunmehr "Hartz-IV"- Empfänger sei. Er habe zwischenzeitlich die private Insolvenz angemeldet.
Das Sozialgericht hat zur Ermittlung des Sachverhalts weitere Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte
beigezogen. Die Ärztin G, die allein den Kläger aktuell noch behandelt, hat in ihrem Bericht vom 26. September 2005
eine gleichbleibende, z.T. schwankende Befundlage bei dem Kläger bestätigt. Dann ist die Ärztin für Psychiatrie G mit
der Erstellung eines Gutachtens beauftragt worden. In dem Gutachten vom 21. April 2006 ist sie zu dem Ergebnis
gekommen, der Kläger leide an einer leichten depressiven Episode, einer Panikstörung, einer Alkoholabhängigkeit mit
z.Zt. kontrolliertem Konsum und einer beginnenden Polyneuropathie. Er könne noch mittelschwere bis schwere
Arbeiten mit weiteren qualitativen Einschränkungen mindestens 8 Stunden täglich verrichten. Der Kläger hat sich dem
Ergebnis der Begutachtung nicht anzuschließen vermocht und hat einen Laborbefund vom 20. Juni 2006 vorgelegt.
Durch Urteil vom 21. August 2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der
Kläger habe keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, wie sich aus dem eingeholten gerichtlichen
Gutachten ergebe. Danach sei das Leistungs-vermögen des Klägers zwar eingeschränkt, so dass er keine körperlich
schweren Arbeiten mehr verrichten und auch nicht unter Zeitdruck, in Nachtschicht und in festgelegtem
Arbeitsrhythmus arbeiten könne. Tätigkeiten mit sehr hohen Anforderungen an das Reaktionsvermögen seien
ebenfalls nicht möglich. Allerdings könne er noch leichte bis mittelschwere Arbeiten, die teilweise oder überwiegend
am Computer stattfänden und auch den Umgang mit Publikumsverkehr beinhalteten, verrichten. Die Einschätzung der
Sachverständigen werde nicht durch die Ausführungen der behandelnden Ärzte und der Vorgutachter in Frage gestellt.
Einzig Frau G habe in ihrem Attest vom 18. Juni 2003 eine abweichend Einschränkung der Leistungsfähigkeit
abgegeben. Ihr Schluss auf eine Arbeitsunfähigkeit bzw. Aufhebung des Leistungsvermögens beruhe auf der
Diagnose einer schweren Depression, die nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen angesichts
der vorliegenden psychopathologischen Symptomatik und unter Berücksichtigung der anamnestischen Angaben
gerade nicht vorliege. Der Kläger sei deshalb weder teilweise noch voll erwerbsgemindert. Er sei auch nicht teilweise
erwerbsgemindert bei Berufsunfähigkeit, denn er könne seinen Beruf als technischer Angestellter noch in einem
Umfang von mindestens 6 Stunden täglich verrichten.
Gegen das am 30. August 2006 zugestelltes Urteil richtet sich die am 28. September 2006 eingelegte Berufung des
Klägers, mit der er geltend macht, ihm stehe eine Rente wegen Erwerbsminderung zu, denn seine psychischen
Probleme machten es ihm unmöglich, eine wirtschaftlich sinnvolle Berufstätigkeit auszuüben.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 21. August 2006 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des
Bescheides vom 04. Dezember 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Januar 2005 zu verurteilen,
ihm ab 01. März 2003 Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser
Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Mit gerichtlichen Schreiben vom 19. März und 11. April 2007 sind die Beteiligten zu der beabsichtigten Entscheidung
des Senats durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der
beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
II.
Der Senat konnte nach Anhörung der Beteiligten die Berufung gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss
zurückweisen, denn er hält sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig aber unbegründet. Ihm steht, wie das
Sozialgericht zutreffend entschieden hat, eine Rente wegen Erwerbsminderung nicht zu.
Der ab 01. März 2003 geltend gemachte Rentenanspruch richtet sich nach § 43 Abs. 1, 2 Sozialgesetzbuch VI (SGB
VI) in der ab 01. Januar 2001 geltenden Fassung.
Danach haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung,
wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind.
Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit
außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich
erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder
Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen
Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI). Nach § 43 Abs. 3 SGB
VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6
Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Nach Auswertung der im Verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren erstellten Gutachten, insbesondere der Ärztin
für Psychiatrie G vom 21. April 2006, ist der Senat davon überzeugt, dass der Kläger nicht voll oder teilweise
erwerbsgemindert ist.
Nach den Feststellungen der gerichtlichen Sachverständigen leidet der Kläger an einer leichten depressiven Episode,
einer Panikstörung, Alkoholabhängigkeit und einer beginnenden Polyneuropathie. Die Psychiaterin hat detailliert
dargelegt, aus welchen Gründen von einer nur leichten und nicht, wie die Allgemeinmedizinerin G bescheinigt,
schweren Depression auszugehen ist. Dem schließt sich der Senat an. Frau G hat weder in dem Attest vom 18. Juni
2003 noch in dem Befundbericht vom 26. September 2005 einen so schwerwiegenden psychpathologischen Befund
erhoben, dass dieser die Diagnose einer schweren Depression rechtfertigt. Die Verwendung des Diagnoseschlüssels
32.9 des ICD 10 durch die behandelnde Ärztin entspricht außerdem nicht einer schweren Depression, vielmehr steht
der Schlüssel für eine nicht näher bezeichnete depressive Episode. Die internistischen Leiden in Form eines
Leberparenchymschadens und eines Hypertonus wirken sich nach den Ausführungen des im Verwaltungsverfahren
gehörten Internisten Dr. K nicht wesentlich leistungsmindernd aus. Auch die psychiatrischen Gesundheitsstörungen
schränken den Kläger nicht so ein, dass ihm eine Erwerbstätigkeit für mindestens 6 Stunden täglich nicht zuzumuten
wäre. Die gerichtliche Sachverständige hat für den Senat nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, dass diese
Gesundheitsstörungen kein quantitativ aufgehobenes Leistungsvermögen bedingen. Der Kläger ist vielmehr noch in
der Lage, mindestens 6 Stunden täglich zumindest mittelschwere Arbeiten zu verrichten. Dabei sind jedoch qualitative
Einschränkungen zu beachten. Ausgeschlossen sind Arbeiten in festgelegtem Arbeitsrhythmus, unter Zeit-druck und
in Nachtschicht. Die Gesundheitsstörungen beeinträchtigen nicht seine Fähigkeit, - auch schwierige - geistige
Arbeiten entsprechend der beruflichen Ausbildung zu verrichten. Zwar ist nicht auszuschließen, dass das
Reaktionsvermögen wegen der psychischen Störung reduziert ist. Die Auffassungsgabe, die Lern- und Merkfähigkeit,
das Gedächtnis, die Konzentrationsfähigkeit und die Entschluss- und Verantwortungsfähigkeit sind ebenso wenig
reduziert wie die Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit. Arbeiten überwiegend am Computer und mit
Publikumsverkehr hat die Sachverständige ausdrücklich für möglich gehalten. Besonderheiten für den Weg zur
Arbeitsstelle sind nicht zu berücksichtigen, denn eine schwerwiegende Einschränkung seines Bewegungsspielraums
durch die von ihm empfundenen Ängste ist - auch nach den eigenen Schilderungen seines Alltagslebens - nicht
festzustellen. Es besteht deshalb Wegefähigkeit.
Der Senat hat keine Bedenken, dieser Leistungseinschätzung zu folgen. Sie ist nachvollziehbar begründet und stimmt
im Wesentlichen mit der Beurteilung den im Verwaltungsverfahren tätig gewordenen Neurologinnen und
Psychiaterinnen G in dem Gutachten vom 06. November 2003 und Dr. S in dem Gutachten vom 25. September 2004
überein.
Der Kläger hat keinen Sachverhalt vorgetragen, der den Senat veranlassen müsste, weitere Ermittlungen von Amts
wegen durchzuführen. Er meint zwar, glaubhaft gemacht zu haben, aus welchen Gründen er nicht in der Lage sei, eine
Erwerbstätigkeit aufzunehmen, und dies indiziere die tatsächliche Schwere seiner seelischen Erkrankung. Auf die
Beschwerdeschilderung des Klägers, die mit der Schilderung seines strukturierten und wenig beeinträchtigten Alltags
nur schwer zu vereinbaren ist, kommt es nicht allein an. Sachverständige G hat bei der Beurteilung seines
Leistungsvermögens ausdrücklich berücksichtigt, dass der Kläger die Einschränkungen durch die depressive Störung
als massiv erlebe, obwohl nach dem erhobenen Befund nur eine leichte depressive Störung diagnostiziert werden
könne. Sie hat ausgeführt, dass die psychischen Störungen behandelbar seien durch eine Kombination
medikamentöser und psychotherapeutischer Mittel. Nach alledem hat der Senat keine Zweifel daran, dass der Kläger
noch in der Lage ist, mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Damit ist er nicht voll oder teilweise
erwerbsgemindert.
Dem Kläger steht auch keine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI
zu, denn es ist nach den gutachterlichen Feststellungen nicht zweifelhaft, dass er seine bisherige Tätigkeit, die
zuletzt in einer reinen Bürotätigkeit bestanden hat, mindestens 6 Stunden täglich verrichten kann.
Die Berufung war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.