Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 16.11.2007

LSG Berlin-Brandenburg: medizinische indikation, kosmetische operation, verfassungskonforme auslegung, empfehlung, krankenversicherung, behandlung, krankenkasse, befund, psychiatrie, ausnahmefall

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 9.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 9 KR 29/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 13 Abs 3 SGB 5, § 27 Abs 1 S
2 Nr 1 SGB 5, § 28 SGB 5, § 135
SGB 5, § 92 Abs 1 SGB 5
Kostenerstattungsanspruch des Versicherten für eine selbst
beschaffte Leistung der Fettabsaugung
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. November
2007 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Übernahme der Kosten einer Liposuktion
(Fettabsaugung).
Die 1967 geborene Klägerin, die bei der Beklagten krankenversichert ist, beantragte im
Juli 2003 die Übernahme der Kosten für eine Liposuktion. Sie legte ein Attest des
Facharztes für Chirurgie, Unfallarzt, H-Arzt, Dr. med. B, vom 18. April 2003 vor, nach
dem bei ihr ein Lipödem der unteren Extremitäten vorliege. Es bestehe eine erhebliche
Disproportion zwischen Ober- und Unterkörper, die sich in einer Differenz mehrerer
Kleidergrößen zeige. Die Liposuktion der lokalen Fettdepots sei die einzige Möglichkeit
den Befund zu beheben. Die Klägerin stehe unter enormem psychischen Druck, der
seines Erachtens aufgrund der Befunde nachvollziehbar sei. Bei dem Lipödem handele
es sich um eine Erkrankung, die kein rein kosmetisches Problem darstelle. Die Beklagte
holte sozialmedizinische Gutachten des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung (MDK) Berlin-Brandenburg e. V. vom 11. September 2003 und 10.
Oktober 2003 ein und lehnte anschließend mit Bescheid vom 20. Oktober 2003 die
Kostenübernahme ab. Nach den Gutachten des MDK hätte zum
Untersuchungszeitpunkt am 9. September 2003 ein mäßiggrades Lipödem beider Beine
vorgelegen, bei dem nur eine bedingte Indikation zur Durchführung einer bilateralen
Liposuktion gegeben sei. Es sei zwar eine Verschlankung der Beine möglich, eine
Besserung der Gelenkfunktion könne jedoch bei fehlenden lokalen
Funktionsbeeinträchtigungen nicht erwartet werden. Es sei davon auszugehen, dass das
Risiko einer psychischen Dekompensation bei Misslingen des Operationsergebnisses
nicht auszuschließen sei und nicht im Verhältnis zum vorliegenden Befund stehe. Aus
diesen Gründen falle die beantragte Kostenübernahme nicht in das Leistungspektrum
der gesetzlichen Krankenversicherung.
Den hiergegen gerichteten Widerspruch begründete die Klägerin durch Vorlage eines
Attestes der Fachärztin für Psychiatrie Hillemann vom 13. Dezember 2003, nach der aus
psychiatrischer Sicht der Wunsch nach operativer Behandlung des Lipödems sehr gut
nachzuvollziehen und hinsichtlich der weiteren psychischen Stabilisierung sogar sinnvoll
sei. Eine Aktualisierung der vormals bestehenden Angstsymptomatik und eine sonstige
psychische Dekompensation seien durch den geplanten Eingriff aus psychiatrischer Sicht
nicht zu erwarten. Nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme des MDK vom 8.
März 2004 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten unter dem 22. April 2004 den
Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, die Liposuktion sei
eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, die nur dann zu Lasten der
gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet werden könne, wenn der
Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkasse eine entsprechende Empfehlung
abgegeben habe. Da eine solche Empfehlung fehle, dürfe sie daher die entsprechenden
Kosten nicht übernehmen. Darüber hinaus sei der Eingriff weder aus neurologischer noch
aus chirurgischer Sicht indiziert. Nach der ergänzenden Stellungnahme des MDK führe
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aus chirurgischer Sicht indiziert. Nach der ergänzenden Stellungnahme des MDK führe
das Lipödem zu keiner Funktionsbeeinträchtigung. Das regelmäßige Tragen von
Kompressionsstrümpfen und die Durchführung von Bewegungsbehandlungen seien
ausreichend.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hat die Klägerin vorgebracht: Zwar sei die
Liposuktion als neue Behandlungsmethode noch nicht vom Gemeinsamen
Bundessausschuss (GBA) empfohlen worden, jedoch handele es sich hier um ein
„Systemversagen“, da der Ausschuss aus sachfremden Erwägungen oder aus
Verschleppungsabsicht über eine Empfehlung noch nicht entschieden habe. Weiterhin
läge auch ein so genannter „Seltenheitsfall“ vor, bei dem ausnahmsweise trotz
fehlender Empfehlung eine Kostenübernahme erfolgen könne. Die Behandlung sei
chirurgisch notwendig, da der Befund krankheitswertig sei. Auch sei nicht zu befürchten,
dass bei einem Misslingen der Operation sie psychisch dekompensiere.
Zwischenzeitlich hat die Klägerin die Liposuktion durch Dr. B ambulant durchführen
lassen. Dieser hat eine undatierte Rechnung über 4.084,03 € vorgelegt.
Das Sozialgericht hat zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin
eingeholt und zwar von dem praktischen Arzt Dr. J J vom 16. Dezember 2004, dem
Facharzt für Chirurgie Dr. B vom 14. Februar 2005 und der Fachärztin für Psychiatrie H
vom 20. Juli 2005 sowie anschließend ein Gutachten des Facharztes für
Allgemeinmedizin/Diplompsychologen T B vom 23. November 2005 einschließlich einer
ergänzenden Stellungnahme desselben vom 20. Februar 2006. Es hat die Klage mit
Urteil vom 16. November 2007 abgewiesen und ausgeführt, es könne dahinstehen, ob
die Liposuktion eine neue Behandlungsmethode oder aber eine kosmetische Operation
sei. Jedenfalls komme eine Kostenübernahme zu Lasten der Krankenversicherung nicht
in Betracht, da nach dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Arztes B
eine medizinische Indikation für die Durchführung einer Liposuktion nicht erkennbar sei.
Darüber hinaus bestehe auch deshalb keine Pflicht der Beklagten zur Übernahme der
Kosten, da die vorgelegte Behandlungsrechnung des Dr. B nicht der Gebührenordnung
der Ärzte (GOÄ) entspreche. Weil sie keine ordnungsgemäße Honorarabrechnung
erhalten habe, sei sie keinen durchsetzbaren Vergütungsforderungen des Arztes
ausgesetzt, so dass ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 des
Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) auch dann ausscheide, wenn die erteilte
Rechnung inzwischen bezahlt sein sollte.
Gegen das ihr am 10. Dezember 2007 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 6. Januar
2008 Berufung eingelegt. Sie bezieht sich weiterhin darauf, dass eine Pflicht zur
Kostenübernahme der Beklagten auch ohne eine entsprechende Empfehlung des
Gemeinsamen Bundesausschusses bestehe, da sowohl ein „Systemversagen“ als auch
„Seltenheitsfall“ vorläge. Das Sozialgericht habe hierzu keinerlei Ermittlungen angestellt,
insbesondere habe es nicht ermittelt, ob und ggf. wann ein Antrag auf Anerkennung der
Behandlungsmethode gestellt worden sei. Es habe auch eine medizinische Indikation zur
Durchführung der Operation gegeben. Die Begründung der Beklagten, es bestehe ein
unverhältnismäßig hohes Risiko einer psychischen Dekompensation, stehe im
Widerspruch zur Aussage der behandelnden Fachärztin für Psychiatrie H. Andere Erfolg
versprechende anerkannte Behandlungsmethoden hätten nicht mehr zur Verfügung
gestanden, da der Krankheitsverlauf auch durch kontinuierliche
Lymphdrainagenbehandlung und Kompressionstherapie nicht habe aufgehalten werden
können. Sie legt eine neu erstellte, überarbeitete Rechnung des Dr. B vom 25. Februar
2008 über 4.592,76 € vor.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. November 2007 sowie den Bescheid
der Beklagten vom 20. Oktober 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
22. April 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die Kosten der
Liposuktion zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Mit der Berufungsbegründung seien keine neuen Gesichtspunkte vorgetragen worden.
Sie verweise auf ihr Vorbringen in der Vorinstanz sowie auf die Entscheidungsgründe des
angefochtenen Urteils.
Die Beteiligten sind unter dem 2. Oktober 2008 zu der beabsichtigten Entscheidung
durch Beschluss angehört worden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den
Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Senat
vorgelegen haben.
II.
Der Senat hat die Berufung nach § 153 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)
einstimmig durch Beschluss zurückgewiesen, weil sie unbegründet und eine mündlichen
Verhandlung nicht erforderlich ist. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, hierzu Stellung zu
nehmen.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene
Ablehnungsbescheid der Beklagten ist nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen
Anspruch auf Erstattung der Kosten für die durchgeführte Liposuktion.
Als Rechtsgrundlage für die begehrte Kostenerstattung kommt ausschließlich § 13 Abs.
3 Satz 1, 2. Alt. SGB V in Betracht. Danach sind dem Versicherten die für eine von ihm
selbst beschaffte Leistung entstandenen Kosten von der Krankenkasse zu erstatten,
wenn die Krankenkasse diese Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, die Leistung notwendig
und die Ablehnung für die Entstehung der Kosten ursächlich war. Da der Anspruch auf
Kostenerstattung nicht weiter reicht als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch,
setzt er nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) voraus, dass die
selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen
allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (ständige
Rechtsprechung, vgl. BSG, SozR 4-2500 § 31 Nr. 9). Einen derartigen
Naturalleistungsanspruch auf Durchführung einer Liposuktion im Rahmen ambulanter
ärztlicher Behandlung nach §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 28 Abs. 1 SGB V hat die Klägerin
nicht. Ein Anspruch auf eine ambulante ärztliche Liposuktion scheitert daran, dass der
GBA diese neue Methode der Fettabsaugung weder ärztlich empfohlen hat noch ein
Ausnahmefall vorliegt, bei welchem dies entbehrlich ist (BSG, Urteil vom 16. Dezember
2008, B 1 KR 11/08 R).
Der Anspruch eines Versicherten auf Behandlung nach §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 28 Abs.
1 SGB V unterliegt den sich aus den im §§ 2 Abs. 1 und 12 Abs. 1 SGB V ergebenen
Einschränkungen. Es können folglich nur solche Leistungen zu Lasten der gesetzlichen
Krankenversicherung erbracht werden, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren
Qualität und Wirksamkeit dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen
Erkenntnisse entsprechen. Dies ist bei neuen Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1
SGB V nur dann der Fall, wenn der GBA in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB
V eine positive Empfehlung über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der
Methode abgegeben hat. Durch diese Richtlinie wird der Umfang der den Versicherten
von den Krankenkassen geschuldeten ambulanten Leistungen verbindlich festgelegt
(ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, a. a. O., zitiert nach juris, RdNr. 14; BSGE 97, 190).
Bei der Liposuktion handelt es sich um eine neue Behandlungsmethode, die zum
Zeitpunkt der Leistungserbringung nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistung im
einheitlichen Bewertungsmaßstab für vertragsärztliche Leistungen (EBM-Ä) enthalten
war (BSG, a.a.O.). Da sie auch nicht vom GBA als neue Methode empfohlen wurde, ist
die ambulante Fettabsaugung grundsätzlich kein Leistungsgegenstand der gesetzlichen
Krankenversicherung.
Entgegen dem Vorbringen der Klägerin liegt auch kein Ausnahmefall vor, in dem es
keiner Empfehlung des GBA bedarf. Nach der Rechtsprechung des BSG sperrt das in §
135 Abs. Satz 1 SGB V vorgeschriebene Leistungsverbot mit Erlaubnisvorbehalt zwar
nicht Vorgehensweisen in einem singulären Krankheitsfall, wenn es sich um eine
einzigartige Erkrankung handelt, die weltweit nur extrem selten auftritt und die deshalb
im nationalen wie im internationalen Rahmen weder systematisch erforscht noch
systematisch behandelt werden kann (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004, B 1 KR 27/02
R, SozR 4-2500 § 27 Nr. 1). Bei der Liposuktion handelt es sich aber ersichtlich nicht um
eine extrem seltene Erkrankung in diesem Sinne. Auch liegt entgegen der Auffassung
der Klägerin kein sog. „Systemversagen“ vor. Ausnahmsweise kann eine Leistungspflicht
der Krankenkasse bestehen, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen
Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem GBA trotz
Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen
Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde (BSG, Urteil vom 26.
September 2006, B 1 KR 3/06 R, SozR 4-2500 § 27 Nr. 10). Hierfür ist aber weder von der
Klägerin etwas vorgetragen worden, noch bestehen Anhaltspunkte, auf Grund derer sich
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Klägerin etwas vorgetragen worden, noch bestehen Anhaltspunkte, auf Grund derer sich
ein solches Systemversagen ergeben könnte. Ohne Vorbringen entsprechender
tatsächlicher Umstände war der Senat auch nicht gehalten, die von der Klägerin
diesbezüglich angeregten Ermittlungen quasi „ins Blaue hinein“ durchzuführen. Im
Übrigen hat auch das BSG in seinem Urteil vom 16. Dezember 2008 (a.a.O.) keine
Anhaltspunkte für das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalles gesehen.
Letztendlich spricht auch nichts dafür, dass sich hier aufgrund einer
grundrechtsorientierten Auslegung (vgl. hierzu Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 115,
25) ein Anspruch ergeben könnte. Denn eine derartige verfassungskonforme Auslegung
setzte voraus, dass es sich um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich
verlaufende Erkrankung (vgl. BSG, SozR 4-2500 § 31 Nr. 4) oder zumindest
wertungsmäßig um eine damit vergleichbare Erkrankung (BSG, SozR 4-2500 § 27 Nr. 7)
handelt. Dies ist bei den bei der Klägerin bestehenden Lipödemen nicht der Fall.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der
Hauptsache.
Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil hierfür kein Grund nach § 160 Abs. 2 SGG
vorlag.
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