Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 30.10.2006

LSG Berlin-Brandenburg: kost und logis, verpflegung, eltern, verfügung, freibetrag, marktwert, sachleistung, sammlung, gerichtsakte, lebensmittel

1
2
3
4
5
Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
14. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 14 AS 1124/06
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 2 Abs 1 S 1 SGB 2, § 11 Abs 1
S 1 SGB 2, § 20 Abs 1 SGB 2
vom 30.07.2004, § 20 Abs 2
SGB 2 vom 30.07.2004, § 2 Abs
4 AlgIIV vom 20.10.2004
Grundsicherung für Arbeitsuchende -
Einkommensberücksichtigung - Sachbezug - kostenfreie
Verpflegung durch Familienangehörige in der
Haushaltsgemeinschaft
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. Oktober
2006 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Berücksichtigung freier Verpflegung bei der Berechnung
der Höhe von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende in der Zeit vom 18.
Januar bis 31. Juli 2005.
Die ... 1985 geborene Klägerin wohnt zusammen mit ihren Eltern in einer 66,9 m² großen
Wohnung, für die von ihren Eltern eine Bruttogesamtmiete von 418,55 € zu zahlen ist.
Die Mutter erzielte im maßgebenden Zeitraum ein monatliches Nettoeinkommen von
1.464,83 € (brutto 1.782,53 €) aus einer abhängigen Beschäftigung, der Vater hatte
keine Einkünfte. Das Kindergeld in Höhe von 154,00 € monatlich erhielt die Mutter der
Klägerin. Mietzahlungen leistete die Klägerin nicht an ihre Eltern.
Die Klägerin beantragte am 18. Januar 2005 die Gewährung von Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts. Dabei gab sie an, dass ihr volle Verpflegung zur
Verfügung gestellt werde; dafür behalte die Mutter das Kindergeld. Der Beklagte
bewilligte daraufhin der Klägerin mit Bescheid vom 4. April 2005 Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende für die Zeit vom 18. Januar bis 31. Juli 2005 in Höhe
von 61,34 € anteilig für den Monat Januar sowie in Höhe von monatlich 131,45 € für die
Zeit von Februar bis Juli 2005. Dabei rechnete er monatlich vom Einkommen der Mutter
einen Betrag von 92,80 € an. Die Regelleistung wurde außerdem aufgrund der freien
Verpflegung für die Klägerin um 35 % der Regelleistung, also in Höhe von 120,75 €
monatlich gekürzt.
Den dagegen wegen der Einkommensanrechnung eingelegten Widerspruch wies der
Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. November 2005 zurück. Nach § 9 Abs. 5
des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) werde vermutet, dass Hilfebedürftige
Leistungen von ihren Verwandten erhielten, mit denen sie in Hausgemeinschaft lebten,
soweit dies nach deren Einkommen erwartet werden könne. Die Berücksichtigung von
Einkommen erfolge nach der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V). Nach §
1 Abs. 2 ALG II-V seien Nettoeinnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit
sie einen Freibetrag in Höhe des doppelten Satzes der nach § 20 Abs. 2 SGB II
maßgebenden Regelleistungen zzgl. der anteiligen Kosten für Unterkunft und Heizung
sowie weitere 50 % der diesen Freibetrag übersteigenden Leistung nicht überschritten.
Der Mutter der Klägerin stehe danach ein Freibetrag in Höhe von 1.419,55 € zu; das
Gesamteinkommen in Höhe von 1.605,14 € (Nettoarbeitsentgelt und Kindergeld) sei
nach Abzug des Freibetrages zur Hälfte, das heißt in Höhe von 92,80 € monatlich auf
den Bedarf der Klägerin anzurechnen. Außerdem sei für die volle Verpflegung ein Betrag
in Höhe von monatlich 120,75 €, das seien 35 % der Regelleistung entsprechend der
Bewertung in der Sachbezugsverordnung, zu berücksichtigen, so dass die Klägerin für
einen vollen Monat Anspruch auf Leistungen in Höhe von 131,45 € habe.
Mit ihrer dagegen erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Gewährung der
5
6
7
8
9
10
11
12
Mit ihrer dagegen erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Gewährung der
vollen Regelleistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende weiter. Sie verfüge über
kein eigenes Einkommen. Der als sonstiges Einkommen pauschalisierte
Anrechnungsbetrag von 120,75 € sei unzutreffend, da sie wegen familiärer Spannungen
nicht regelmäßig die Vollverpflegung wahrnehme. So frühstücke sie nie mit der Familie,
da sie ein "Frühstücksmuffel" sei. Mittagessen nehme sie durchschnittlich nur viermal in
der Woche und Abendbrot lediglich zweimal in der Woche war, da sie sich aufgrund der
Spannungen mit ihren Eltern häufig außerhalb des Haushalts aufhalte.
Der Beklagte hat im Laufe des Klageverfahrens mit Bescheid vom 7. März 2006 die
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 18.
Januar bis 31. Juli 2005 neu festgesetzt. Dabei hat er das Einkommen der Mutter nicht
mehr berücksichtigt, da dieses entgegen der ursprünglichen Berechnung nur mit
1.180,60 € anzurechnen sei und damit unterhalb des Freibetrages liege. Er hat für den
Monat Januar eine anteilige Leistung in Höhe von 104,65 € unter Anrechnung von
sonstigem Einkommen in Höhe von 56,35 € und für die Monate Februar bis Juli 2005
Leistungen in Höhe von 224,25 € unter Anrechnung von sonstigem Einkommen in Höhe
von 120,75 € bewilligt. Den pauschalisierten Anrechnungsbetrag von 120,75 € hat er
damit begründet, dass der Klägerin von ihren Eltern eine Vollverpflegung zur Verfügung
gestellt werde und sie nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II verpflichtet sei, alle Möglichkeiten
zur Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit auszuschöpfen, wozu auch die vollständige
Inanspruchnahme der zur Verfügung gestellten Leistung gehöre.
Das Sozialgericht Berlin hat durch Urteil vom 30. Oktober 2006 die Klage abgewiesen.
Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klägerin mit der freien Verpflegung eine
geldwerte Sachleistung erhalte, die gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II als ihr Einkommen
zu berücksichtigen sei. Dies ergebe sich auch aus § 2 Abs. 4 Satz 1 ALG II-V, der
ausdrücklich auf die Sachbezugsverordnung Bezug nehme. Es sei nicht zu beanstanden,
dass der Beklagte den Wert der freien Verpflegung mit 35 % der Regelleistung, also mit
120,75 € beziffert habe, denn der für die Ernährung bestimmte Anteil der Regelleistung
sei mindestens in dieser Höhe anzusetzen.
§ 1 Abs. 1 Satz 1 der Sachbezugsverordnung (SachBezV) in der Fassung vom 22.
Oktober 2004, der für die Bewertung von Sachleistungen heranzuziehen sei, sehe für
freie Verpflegung sogar einen Betrag von monatlich 200,30 € vor, weshalb das von der
Beklagten berücksichtigte Einkommen aus Sachleistungen nicht zu hoch, sondern eher
zu Gunsten der Klägerin zu niedrig angesetzt sei. Unerheblich sei, dass die Klägerin die
Vollverpflegung nur teilweise in Anspruch nehme, da sie sich diese unabhängig von der
tatsächlichen Inanspruchnahme als Einkommen anrechnen lassen müsse, um ihre
Hilfebedürftigkeit zu verringern. Zudem habe die Klägerin mit ihrer Mutter eine
Vereinbarung dahingehend getroffen, dass diese das Kindergeld in Höhe von 154,00 €
monatlich zur Deckung der Unkosten für die Verpflegung behalte. Dies zeige, dass die
Klägerin die Möglichkeit gehabt habe, sich das Kindergeld auszahlen zu lassen, anstatt
die Verpflegung zu Hause in Anspruch zu nehmen, wobei ihr in diesem Fall 154,00 €
minus 30,00 € Versicherungspauschale, also insgesamt 124,00 € monatlich, als
Einkommen anzurechnen gewesen wären. Diesen Betrag überstiegen die
angerechneten 120,65 € nicht.
Gegen das ihr am 6. November 2006 zugestellte Urteil richtet sich die am 28. November
2006 erhobene Berufung der Klägerin. Zur Begründung trägt sie vor, dass ihre Situation
mit der eines Untermieters vergleichbar sei und sie weitgehend ihr eigenes Leben im
Haushalt führe. Sie kaufe selbst Lebensmittel ein und meide den Kontakt mit ihren
Eltern. Sie habe ein gespanntes Verhältnis zu ihren Eltern, so dass gemeinsame
Gespräche, auch bei Tisch, regelmäßig im Streit endeten, weshalb sie dem
gemeinsamen Essen aus dem Weg gehe. Im Übrigen bestimme § 20 Abs. 2 SGB II eine
feste Höhe der Regelleistung, von der keine Abzüge vorzunehmen seien. Unter Hinweis
auf eine Entscheidung des Sozialgerichts Heilbronn vom 6. März 2007 (S 7 AS 447/06)
macht sie weiter geltend, es sei rechtswidrig, die kostenfreie Verpflegung als Einkommen
im Sinne von § 11 SGB II zu berücksichtigen, da eine Tauschbarkeit in Geld fehle.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. Oktober 2006 aufzuheben und den
Bescheid des Beklagten vom 7. März 2006 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen,
der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 161,00 € für
die Zeit vom 18. bis 31. Januar 2005 und in Höhe von 345,00 € monatlich für die Zeit
vom 1. Februar bis 31. Juli 2005 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
13
14
15
16
17
18
19
20
die Berufung zurückzuweisen,
die sie für unbegründet hält.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die statthafte und frist- und formgerecht erhobene (§§ 143, 144 Abs. 1 und 151 Abs. 1
des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –) Berufung der Klägerin ist zulässig, aber nicht
begründet. Die Klägerin kann Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne
Anrechnung von Einkommen in Form freier Verpflegung als Sachbezug nicht verlangen.
Zur Begründung verweist der Senat auf die eingehenden Ausführungen des
Sozialgerichts, denen er sich anschließt. Von einer weiteren Darstellung der
Entscheidungsgründe wird deshalb abgesehen (§ 153 Abs. 2 SGG).
Die Berufungsbegründung kann zu keiner anderen Beurteilung führen. Dies gilt auch für
die Bezugnahme auf das von der Klägerin angeführte Urteil des Sozialgerichts Heilbronn,
wonach kostenfreie Verpflegung nicht als Einkommen zu berücksichtigen sei, weil die
jederzeitige Tauschbarkeit in Geld fehle. Die der Klägerin von ihren Eltern zur Verfügung
gestellte freie Verpflegung stellt ein Einkommen in Geldeswert im Sinne von § 11 Abs. 1
S 1 SGB II dar. Bei Einkommen in Geldeswert genügt es, wenn dieses einen bestimmten
in Geld ausdrückbaren wirtschaftlichen Wert besitzt (vgl. Mecke, in: Eicher/Spellbrink,
SGB II, 1. Aufl., § 11 Rdnr. 19). Dieser wirtschaftliche Wert wird für Kost und Logis
ausdrücklich in der Sachbezugsverordnung festgesetzt. Gewährt ein Arbeitgeber freie
Kost und/oder Logis, ist dies als Einkommen des Arbeitnehmers zu bewerten. Nichts
anderes gilt für von Anderen (Eltern, sonstigen Verwandten oder anderen Personen) zur
Verfügung gestellte Sachleistungen. Die freie Verpflegung besitzt einen anerkannten
(von der Sachbezugsverordnung festgelegten) Marktwert, weil Geld aufgewendet werden
muss, um diese Sachleistung zu erhalten. Der Sachbezug freie Verpflegung oder Logis
ist in diesem Sinn "gegen Geld tauschbar", d. h. er kann für Geld auf dem Markt
erworben werden. Soweit sich das Sozialgericht Heilbronn (aaO) auf diese in der Literatur
verwendete Formulierung ("Einnahmen sind Geld (...) oder Sacheinnahmen (...) mit
Geldeswert, d. h. solche, die einen Marktwert haben, also gegen Geld tauschbar sind."
Brühl, in: LPK-SGB II § 11 Rdnr. 11) bezieht und daraus folgert, der Sachbezug
Verpflegung könne nicht verkauft werden und habe deshalb keinen Marktwert, liegt eine
offenkundige Fehlinterpretation vor. Es geht nicht darum, ob ein Sachbezug (z. B. das
konkrete Mittagessen) realistischerweise in Geld "zurückgetauscht" werden kann – das
wird bei vielen Sachbezügen nicht oder nur schwer möglich sein –, sondern darum, ob er
für Geld auf dem Markt zu beschaffen ist. Dass der Sachbezug der Verpflegung in
diesem Sinne marktgängig, also für Geld erhältlich ist, zeigt das Beispiel der Klägerin.
Sie möchte lieber die eigene Verpflegung für Geld erwerben und dafür Geldleistungen
von dem Beklagten erhalten, statt auf die Inanspruchnahme der Verpflegung durch die
Eltern verwiesen zu werden. Gegen die Interpretation des Sozialgerichts Heilbronn
spricht auch, dass die gleiche Literaturstelle ausdrücklich Kost und Logis zu den
Naturalleistungen zählt, die als Sacheinnahmen im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II
zu bewerten sind (vgl Brühl, in: LPK-SGB II § 11 Rdnr. 11).
Offenbleiben kann, ob die freie Verpflegung in voller Höhe des sich aus der
Sachbezugsverordnung ergebenden Wertes als Einkommen zu berücksichtigen wäre.
Jedenfalls ist deren Wert mit 35 % der Regelleistung (120,65 € monatlich) von dem
Beklagten aus den vom Sozialgericht erwogenen Gründen nicht zu hoch angesetzt, so
dass die Klägerin dadurch nicht beschwert ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt das Ergebnis in der
Hauptsache.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht
vor.
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum