Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 30.07.2001
LSG Berlin und Brandenburg: arzneimittel, vorläufiger rechtsschutz, wirtschaftliche tätigkeit, hauptsache, markt, ausschluss, versicherter, gruppenbildung, drucksache, festpreis
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 30.07.2001 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 75 KR 4133/00 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 9 B 201/01 KR ER
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 18. Januar 2001 wird
zurückgewiesen. Die Antragstellerin hat den Antragsgegnern die außergerichtlichen Kosten des
Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
Die gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG- zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Berlin vom 18. Januar 2001 ist unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antrag der Antragstellerin auf
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Festsetzung eines Festbetrages von 4,93 DM für das von der
Antragstellerin vertriebene Fertigarzneimittel Nurofen 200 mg Brausegranulat für die Packungsgröße 12 Beutel
Brausegranulat zu Recht abgelehnt.
Es kann offen bleiben, ob der Antrag der Antragstellerin, den Antragsgegnern zu untersagen, für Nurofen 200 mg
Brausegranulat einen Festbetrag unter 7,61 DM festzusetzen, zulässig ist. Denn es lässt sich bei der im vorliegenden
Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung nicht feststellen, dass die Errechnung des oben angegebenen
Festbetrages für das von der Antragstellerin vertriebene Arzneimittel durch das Schreiben des Antragsgegners zu 2)
vom 25. Oktober 2000 fehlerhaft und rechtswidrig ist. Deshalb kommt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
nach § 80 Abs. 5 oder nach § 123 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO- mangels Anordnungsanspruchs bzw.
eines das öffentliche Interesse an der Durchsetzung der Festbeträge übersteigenden Interesses der Antragstellerin
nicht in Betracht.
Ohne weitere medizinisch-pharmakologische Ermittlungen, die gegebenenfalls die Einholung entsprechender
Sachverständigengutachten einschließen, kann nicht geklärt werden, ob die angegriffene Festbetragsfestsetzung
bereits deswegen rechtswidrig ist, weil sie auf einer einheitlichen Preisbildung für alle Ibuprofen-haltigen Arzneimittel
beruht. Denn § 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch -SGB V- lässt die Festsetzung von
Festbeträgen für Gruppen von Arzneimitteln mit denselben Wirkstoffen unabhängig von der Darreichungsform zu, so
dass die Festsetzung eines gemeinsamen Festbetrages für alle Ibuprofen-haltigen Arzneimittel unabhängig von der
Darreichungsform nicht schlechthin ausgeschlossen erscheint. Eine Auseinandersetzung mit der von der
Antragstellerin aufgeworfenen Rechtsfrage würde deshalb zumindest erfordern, die für die vom Bundesausschuss der
Ärzte und Krankenkassen vor seiner Entscheidung über die Gruppenbildung gemäß §§ 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6, 35
Abs. 1 SGB V nach § 35 Abs. 2 SGB V eingeholten medizinischen und pharmazeutischen Stellungnahmen der
Prüfung zugrunde zu legen und der Antragstellerin hierzu Gelegenheit zu geben, ihre medizinischen und
pharmazeutischen Einwände geltend zu machen. Für ein solches Vorgehen mit einer eingehenden Sachaufklärung ist
in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren jedoch weder in tatsächlicher noch rechtlicher Hinsicht Raum, zumal sie
in vollem Umfang die Hauptsache vorwegnehmen würde. Diese Prüfung ist deshalb dem Hauptsacheverfahren
vorzubehalten (ständige Rechtsprechung des Senats, Beschlüsse vom 26. Oktober 2000 - L 9 B 93/00 KR ER sowie
L 9 B 97/00 KR ER -).
Die offensichtliche Rechtswidrigkeit der Festbetragsfestsetzung kann die Antragstellerin bei der im vorliegenden
Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung auch nicht daraus herleiten, dass der 3. Senat des
Bundessozialgerichts die den Spitzenverbänden der Krankenkassen durch § 35 SGB V eingeräumte Befugnis, für
Arzneimittel Festbeträge festzusetzen, für verfassungswidrig gehalten und diese Frage gemäß Artikel 100 GG dem
Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt hat. Denn der 6. Senat des BSG (Urteil vom 1. Oktober 1990 -
6 RKa 3/90 - USK 90 107) und das Bundesverfassungsgericht (Die Leistungen 1992, 237 ff und SozR 3-2500 § 34
SGB V Nr. 1) haben sogar den Ausschluss von Arzneimitteln von der Verordnungsfähigkeit zu Lasten der GKV
sowohl im Hinblick auf Artikel 12 Abs. 1 GG als auch Artikel 3 Abs. 1 und 14 GG für verfassungsrechtlich
unbedenklich gehalten, so dass vieles dafür spricht, dass auch die mit der Festbetragsfestsetzung für die
Antragstellerin - möglicherweise - verbundene Erschwerung, ihr Produkt zu dem von ihr gewünschten Preis
abzusetzen, verfassungsgemäß ist, weil das Arzneimittel rechtlich weiterhin verordnungsfähig bleibt und der Eingriff
deswegen weniger schwer wiegt als beim völligen Ausschluss der Verordnungsfähigkeit. Zu berücksichtigen ist in
diesem Zusammenhang weiterhin, dass die Festbetragsfestsetzung für die Versicherten auf eine erweiterte
Zuzahlungspflicht hinausläuft, die ein erprobtes Instrument zur Sicherstellung der finanziellen Leistungsfähigkeit der
GKV darstellt und keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet ist, gleichviel, ob das Gesetz
feste Zuzahlungsbeträge (vgl. z.B. § 31 Abs. 3 SGB V für Arzneimittel), eine prozentuale Beteiligung der Versicherten
an den entstehenden Kosten (vgl. z.B. §§ 32 Abs. 2 und 33 Abs. 2 SGB V für Heil- und Hilfsmittel) oder eine
Festsetzung eines von der GKV zu übernehmenden Festbetrages (vgl. z.B. §§ 30 Abs. 1 und 30 a SGB V in der
Fassung des 2. GKV-NOG für Zahnersatz) als Begrenzung des Sachleistungsanspruches der Versicherten vorsieht
oder vorsah. Denn die Gewährleistung der finanziellen Stabilität der GKV stellt eine besondere Gemeinwohlaufgabe
dar, welche der Gesetzgeber nicht nur verfolgen darf, sondern der er sich nicht einmal entziehen dürfte (BVerfGE 68,
193, 218 sowie Urteil des LSG Berlin, 15. Senat, vom 11. Januar 1995 - L 15 Kr 25/94 - mit weiteren Nachweisen) und
für deren Durchsetzung er ein besonders weites gesetzgeberisches Ermessen besitzt.
Selbst wenn an der Möglichkeit zur Festsetzung von Festbeträgen in § 35 SGB V gleichwohl (ernstliche)
verfassungsrechtliche Zweifel bestehen sollten, käme allein im Hinblick auf die von der Antragstellerin geltend
gemachten und vom Bundessozialgericht geteilten verfassungsrechtlichen Bedenken an der Rechtsgrundlage der
Festbetragsfestsetzung ein vorläufiger Rechtsschutz hier nicht in Betracht. Dies gilt in gleicher Weise für die an
zivilrechtliche Judikatur anknüpfende europarechtlichen Einwände gegen die Festbetragsfestsetzung, zumal diese
erheblich umstritten sind (vgl. insbesondere Knispel, EG-Wettbewerbswidrige Festbetragsfestsetzungen und
Arzneimittelrichtlinien?, NZS 2000, 379 ff mit weiteren Nachweisen). Die Behauptung, die Festbetragsfestsetzung
stelle eine durch Artikel 81 Abs. 1 Buchstabe a EGV verbotene mittelbare Festsetzung der Ankaufspreise durch die
Krankenkassen und ihre Verbände als Unternehmen bzw. Unternehmensvereinigungen dar, erscheint schon im
Hinblick auf die soziale Zielsetzung der Aufgaben der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. nur §§ 1 und 3 SGB V), die
die erforderliche wirtschaftliche Tätigkeit dieser Träger hoheitlicher Gewalt ausschließen dürfte, nicht überzeugend.
Vor allem aber spricht vieles dafür, dass Artikel 81 EGV gemäß Artikel 86 Abs. 2 EGV auf die Tätigkeit der
Krankenkassen - auch bei der Festsetzung von Festbeträgen - keine Anwendung findet, weil anderenfalls die Erfüllung
der der GKV übertragenen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich verhindert würde. Denn schon der Gesetzgeber ist von
einem Einsparvolumen von mehr als 2 Milliarden DM im Arzneimittelbereich durch die Einführung von Festbeträgen
ausgegangen (BT-Drucksache 11/2237, 275). Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass eine Kostenminderung in
dieser Größenordnung einen erheblichen Beitrag zur finanziellen Konsolidierung der GKV leisten würde, ohne den ihre
ohnehin schwache finanzielle Stabilität zusätzlich weiterhin gefährdet würde.
In Fällen wie dem vorliegenden, in dem die Prüfung der aufgeworfenen verfassungsrechtlichen und europarechtlichen
Fragen außerordentlich kompliziert und ihr Ergebnis und damit der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen ist, ist in
Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine
Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird,
regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die
Anordnung nicht erginge, sich die zugrunde liegenden Normen aber als verfassungswidrig erweisen sollten, gegenüber
den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl die Normen verfassungsgemäß
wären (LSG Berlin, Beschluss vom 17. Dezember 1999 - L 9 B 127/99 KR ER - mit weiteren Nachweisen
insbesondere zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Nur auf diese Weise kann vermieden werden,
dass eine im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommene Norm durch die Entscheidung eines
Fachgerichts im Rahmen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes außer Kraft gesetzt und damit ein beim
Bundesverfassungsgericht anhängiges konkretes Normenkontrollverfahren in der Hauptsache vorweggenommen wird,
obwohl der Ausgang dieses Verfahrens ungewiss ist, wie im vorliegenden Fall schon die mehrjährige Anhängigkeit des
Vorlagebeschlusses des Bundessozialgerichts zeigt. In die Folgenabwägung ist in Fällen wie dem vorliegenden, in
dem es im Kern um die Verfassungs- und Europarechtskonformität einer Norm geht, auf Seiten der öffentlich-
rechtlichen Körperschaften nicht nur ihr Interesse an der konkret angegriffenen Festbetragsfestsetzung zu
berücksichtigen, sondern darüber hinaus die Möglichkeit, Festbetragsfestsetzungen für Arzneimittel zur
Kosteneinsparung schlechthin einzusetzen. Denn diese Befugnis würde ihnen - wenn auch nicht rechtlich - so doch
faktisch durch eine Entscheidung zugunsten der Antragstellerin genommen.
Unter Beachtung dieser Maßstäbe muss der Antrag erfolglos bleiben. Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht,
dass die Berechnung des Festbetrages für Nurofen 200 mg Brausegranulat in Höhe von 4,93 DM tatsächlich zu einer
unzumutbaren Beeinträchtigung ihrer wirtschaftlichen Situation führt. Sie ist durch die Berechnung des Festbetrages
nicht gehindert, das Arzneimittel zu einem höheren Betrag zu verkaufen, weil die Antragsgegnerin zu 2) mit der
Berechnung des Festbetrages in der angegebenen Höhe lediglich den Anteil festgestellt hat, den die gesetzlichen
Krankenkassen für das Arzneimittel tragen müssen (§ 31 Abs. 2 und 3 SGB V). Deshalb wirkt die Beschränkung des
Sachleistungsanspruchs des Versicherten auf den festgesetzten Festpreis nach § 12 Abs. 2 SGB V für die
Antragstellerin bei wirtschaftlicher Betrachtung ganz ähnlich wie die völlige Aufhebung der Kostentragung durch die
gesetzliche Krankenversicherung -GKV- wirken würde (so im Ergebnis auch Knispel, a.a.O. S. 383). Denn die
Entscheidung des Vertragsarztes und des Versicherten über den Erwerb des Arzneimittels der Antragstellerin ist u.a.
davon abhängig, ob sie die Zuzahlung des über dem Festpreis liegenden Entgelts für hinnehmbar halten oder nicht.
Derselben Entscheidung wären Vertragsarzt und Versicherter als Nachfrager nach dem Produkt der Antragstellerin
auch ausgesetzt, wenn der Versicherte den Kaufpreis vollständig selbst bezahlen müsste. Auch dann stünden sich -
je nach Verwendung unterschiedlicher Dopaminagonisten - unterschiedlich teure Medikamente auf dem Markt
gegenüber, so dass sich der Versicherte für den Kauf des Produkts der Antragstellerin trotz des höheren Preises nur
aufgrund zusätzlicher marktlicher oder medizinischer Faktoren entscheiden würde. Die Absatzmöglichkeiten für die
Antragstellerin hingen in beiden Fällen allein vom Verhalten der Nachfrager (Arzt und Versicherter, vgl. BGH, Urteil
vom 14. März 2000 - KZR 15/98 - S. 8 UA sowie BT-Drucksache 11/2237, 173) ab und würde staatlich nicht mehr in
der Weise beeinflusst, dass dafür die Höhe des Kaufpreises für die Beschaffung ohne bzw. von untergeordneter
Bedeutung bliebe, wie dies für staatlich gelenkte Wirtschaftsbereiche mit einem unbeschränkten
Beschaffungsanspruch des Berechtigten typisch ist. Es erscheint deshalb bei der im vorliegenden Verfahren nur
möglichen summarischen Prüfung durchaus überzeugend, dass die Einführung von Festbeträgen für Medikamente in
die GKV eine Annäherung an „normale“ Marktverhältnisse und das Wirksamwerden von Marktmechanismen schafft
(Knispel a.a.O. S. 383). Vor diesem Hintergrund erscheint der von der Antragstellerin befürchtete Umsatzverlust nicht
als Folge der Festbetragsfestsetzung, sondern des unternehmerischen Risikos auf einem teilweise liberalisierten
Markt. Dass sich ein Anspruch auf Fortsetzung der bisherigen Marktlenkung im Rahmen der GKV durch weitgehenden
Ausschluss des Preises auf die Beschaffungsentscheidung des Arztes und des Versicherten für die Antragstellerin
weder aus Artikel 12, 14 noch 3 GG ergibt, bedarf keiner weiteren Begründung.
Darüber hinaus hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss zu Recht darauf hingewiesen, dass der
Festbetrag für Ibuprofen-haltige Arzneimittel der Antragstellerin bereits am 13. Februar 1998 - d.h. mehr als
zweieinhalb Jahre vor der Einführung des von ihr vertriebenen Produkts auf dem Markt - bekannt gegeben worden ist.
Der Antragstellerin hätte deshalb ausreichend Zeit gehabt, die Absatzchancen ihres Arzneimittels bei der zu
erwartenden Einbeziehung ihres Produkts in die Festbetragsfestsetzung zu überprüfen und durch entsprechende
Anfragen bei den Antragsgegnern und durch den von ihr erst am 24. November 2000 gestellten Antrag auf eine für sie
günstigere Gruppenbildung beim Bundesausschuss für Ärzte und Krankenkassen zu reagieren. Da sie jedoch
entsprechende Bemühungen erst nach Einführung ihres Medikaments auf dem Markt ergriffen hat, kann sie nicht
erwarten, dass die Bindung an den Festbetrag vor einer rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren
ausgesetzt wird.
Denn anders als die Antragstellerin würde die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die
Festbetragsfestsetzung die Antragsgegner erheblich treffen. Diese haben glaubhaft gemacht, dass durch die
Festbetragsfestsetzung zur Zeit jährlich etwa 3,2 Milliarden DM eingespart werden. Im Falle ihres Erfolges in der
Hauptsache nach einer Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes müssten aus den jährlich anfallenden rund 800 Mio.
Arzneimittelverordnungen diejenigen herausgefunden werden, die Arzneimittel der hier streitigen Gruppe betreffen.
Dies muss bei der vorliegenden Abwägung dazu führen, dass die Interessen der Antragstellerin bei ihrem Obsiegen
gegenüber den damit zwangsläufig einhergehenden Nachteilen für die Antragsgegner nicht entscheidend ins Gewicht
fallen können. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes musste deshalb erfolglos bleiben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 4 Satz 2 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).