Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 15.05.2009

LSG Berlin und Brandenburg: zivilprozessordnung, rückforderung, rechtsnatur, rechtswidrigkeit, mutwilligkeit, behörde, auflage, prozessbeteiligter, verfassungskonform, rechtsstaatsprinzip

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 15.05.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Cottbus S 21 AS 375/08
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 25 B 2122/08 AS PKH
Der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 27. August 2008 wird aufgehoben. Der Klägerin wird für das Verfahren
erster Instanz ab dem 22. Januar 2008 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten bewilligt.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe:
Die nach §§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Beschwerde ist begründet.
Die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe liegen nach den hierfür einschlägigen §§ 73a SGG,
114 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO) vor. Nach § 114 S. 1 ZPO erhält ein Prozessbeteiligter auf Antrag
Prozesskostenhilfe, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der
Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung
hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Nach § 73a Abs. 1 S. 1 SGG gelten die
Vorschriften der ZPO über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe entsprechend für das sozialgerichtliche Verfahren.
Das Sozialgericht hat im angefochtenen Beschluss zu Unrecht eine hinreichende Erfolgsaussicht im vorstehenden
Sinn verneint. Der unbestimmte Rechtsbegriff der hinreichenden Erfolgsaussicht ist nach der ständigen
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) verfassungskonform auszulegen. Art. 3 Abs. 1 des
Grundgesetzes (GG) gebietet in Verbindung mit dem unter anderem in Art. 20 Abs. 3 GG zum Ausdruck gebrachten
Rechtsstaatsprinzip und dem aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG folgenden Gebot effektiven Rechtsschutzes eine
weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des
Rechtsschutzes. Hierbei braucht der Unbemittelte allerdings nur einem solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden,
der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt. Dementsprechend
darf die Prüfung der Erfolgsaussichten jedenfalls nicht dazu führen, über die Vorverlagerung der Rechtsverfolgung
oder -verteidigung ins Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe eben dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens
treten zu lassen (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 28. November 2007 – 1 BvR 68/07,
1BvR 70/07, 1 BvR 71/07 -, rech. bei juris Rn. 8 ff.). Deshalb dürfen insbesondere schwierige, bislang nicht geklärte
Rechts- und Tatfragen im Prozesskostenhilfeverfahren nicht entschieden werden, sondern müssen über die
Gewährung von Prozesskostenhilfe auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung im Hauptsacheverfahren
zugeführt werden können (BVerfG a.a.O. und Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 1993 - 1 BvR
1523/92 -, NJW 1994, 241, 242). Demnach ist ausgehend vom für das Hauptsacheverfahren zugrunde zu legenden
Sachantrag eine hinreichende Erfolgsaussicht bereits dann gegeben, wenn das Gericht den klägerischen
Rechtsstandpunkt aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder für
zumindest vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht gegebenenfalls von der Möglichkeit der Beweisführung
überzeugt ist (vgl. Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG - Kommentar, 9. Auflage 2008, § 73 a Rn. 7a).
Nach diesen Maßstäben ergeben sich vorliegend hinreichende Erfolgsaussichten. Die im angefochtenen, an die
Klägerin gerichteten Änderungsbescheid vom 6. Dezember 2006 enthaltene Teilaufhebung der ursprünglichen
Leistungsbewilligung erscheint nicht ohne weiteres rechtmäßig. Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids
unterliegt zumindest Zweifeln, weil er entgegen § 33 Abs. 1 SGB X schon nicht hinreichend bestimmt sein dürfte.
Hierbei handelt es sich um eine Ausprägung des aus Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Rechtsstaatsprinzips, das der
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit dient. Gegenstand, Ziel und Regelungsgehalt der Entscheidung müssen
demgemäß für den Adressaten so eindeutig und vollständig sein, dass er sein Handeln danach ausrichten und die
rechtlichen Konsequenzen der Entscheidung in vollem Umfange abschätzen kann. Dies bedeutet zunächst für
Aufhebungen von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB
II), dass die entsprechenden Bescheide aus einer Vielzahl von Einzelfallregelungen bestehen müssen. Insbesondere
muss ein Aufhebungsbescheid zum Ausdruck bringen, für welches einzelne Mitglied der Bedarfsgemeinschaft
Leistungen für welchen genauen Leistungszeitraum in jeweils welcher Höhe aufgehoben werden. Demgegenüber
erscheint es rechtlich zweifelhaft, den Aufhebungsbetrag für eine Bedarfsgemeinschaft insgesamt und für einen
mehrmonatigen Leistungszeitraum nur der Gesamtsumme nach auszuweisen. Die Behörde dürfte bei einer derart
pauschalen Regelung übersehen, dass der Aufhebungsbescheid aus einer Vielzahl von Einzelfallregelungen bestehen
muss, nämlich nicht nur aus der jeweiligen Neuregelung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den
einzelnen Monat, sondern auch im Hinblick auf jedes einzelne Mitglied der Bedarfsgemeinschaft, das allein
Anspruchinhaber sein kann (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b AS 8/06 R -, rech. bei juris, Rn. 11 f.).
Denn das Aufhebungsrecht ist nur das Spiegelbild des Leistungsanspruches, gegebenenfalls in Verbindung mit einer
hier anknüpfenden Rückforderung nur die Umkehrung des Gläubiger-Schuldner-Rechtsverhältnisses ohne Änderung
der Rechtsnatur des Rechts selbst. Die Angabe der Gesamtsumme hat vor diesem Hintergrund keinen eigenen
Regelungsgehalt, sie erleichtert lediglich die Abwicklung (vgl. etwa Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 3. April 1990
- 8 A 231.88 -, recherchiert bei juris). Hiervon ausgehend spricht vieles dafür, dass auch ein Änderungsbescheid
rechtswidrig ist, wenn der Leistungsträger die bei bestehender Bedarfsgemeinschaft notwendige Individualisierung
nicht vornimmt. Aus dem Verfügungssatz des Bescheides muss hervorgehen, wie sich der geänderte Leistungssatz
für die einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft berechnet. Bei Verletzung dieses Bestimmtheitsgebotes ist der
Änderungsbescheid rechtswidrig ergangen (so Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom
10. Oktober 2007 - L 19 B 122/07 AS ER -, zitiert nach juris Rn. 9).
Der angefochtene Änderungsbescheid dürfte so verstandenen Bestimmtheitsanforderungen nicht genügen. Der
vorliegende Änderungsbescheid, welcher ausschließlich an die Klägerin gerichtet ist und ihr gegenüber in
Bestandskraft erwachsen kann, mithin sie formell beschweren dürfte, weist in seinem Verfügungssatz lediglich die
zuletzt an die Klägerin und ihre Tochter insgesamt auszuzahlenden Leistungen aus, ohne den Minderungsbetrag
auszuweisen und einer konkreten Person zuzuweisen. Hierbei dürfte an der Rechtswidrigkeit auch der unter dem
Verfügungssatz stehende Verweis "Im beigefügten Berechnungsbogen finden Sie die Einzelheiten zur Berechnung
und Änderung der Leistungshöhe." nichts ändern, weil das Bestimmtheitserfordernis vor allem auf den Verfügungssatz
zu beziehen sein dürfte (so etwa Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen a.a.O.).
Für eine Mutwilligkeit im Sinne von §§ 73a SGG, 114 S. 1 ZPO liegt nichts vor.
Da die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin erst mit den Anlagen zu einem am 22. Januar 2008
zu den Gerichtsakten gelangten Schriftsatz gemäß § 118 Abs. 2 S. 1 ZPO glaubhaft gemacht worden sind und mithin
erst ab diesem Zeitpunkt Bewilligungsreife gegeben gewesen ist, ist Prozesskostenhilfe erst ab eben diesem
Zeitpunkt zu bewilligen gewesen.
Angesichts der schwierigen, von einem Laien wie der Klägerin kaum zu erfassenden Rechtslage ist es gemäß §§ 73a
SGG, 121 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) erforderlich, der Klägerin ihren Prozessbevollmächtigten als
Rechtsanwalt beizuordnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a Abs. 1 S. 1 SGG in Verbindung mit §§ 118 Abs. 1 S. 4, 127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist für die Beteiligten unanfechtbar, § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 127 Abs. 2
Satz 1, Abs. 3 ZPO, § 177 SGG.