Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 25.08.2006

LSG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, aufrechnung, nachzahlung, vollziehung, auszahlung, rechtsschutz, rücknahme, auflage, lfg, rechtswidrigkeit

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
28. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 28 B 1053/07 AS ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 51 SGB 1, § 39 Nr 1 SGB 2, §
43 SGB 2, § 45 SGB 10, § 48
SGB 10
Grundsicherung für Arbeitsuchende - aufschiebende Wirkung
des Widerspruches gegen Erstattungsbescheid und erklärte
Aufrechnung - faktischer Vollzug - Aufhebung der Vollziehung
Tenor
Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 25. August 2006
aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Widerspruch der Antragsteller gegen den
Bescheid vom 6. Juli 2006, soweit darin die Erstattung von Arbeitslosengeld II in Höhe
von 252,45 Euro verlangt und die Aufrechnung erklärt wird, aufschiebende Wirkung hat.
Die Aufhebung der Vollziehung des Bescheides vom 6. Juli 2006 wird angeordnet, soweit
für März 2006 Leistungen in Höhe von 107,41 Euro einbehalten worden sind.
Der Antragsgegner hat den Antragstellern die Kosten des gesamten einstweiligen
Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Die verheirateten, nicht dauernd getrennt lebenden Antragsteller beziehen seit 1. Januar
2005 durchgehend Leistungen vom Antragsgegner, daneben erzielen sie
Nebeneinkommen in wechselnder Höhe. Für die Monate März 2006 bis August 2006 sind
ihnen zunächst Leistungen in Höhe von monatlich 823,65 Euro bewilligt worden, die für
die Zeit vom 1. März 2006 bis zum 31. Juli 2006 auch zur Auszahlung gekommen sind.
Auf entsprechende Einwände zur Anrechnung des Nebeneinkommens hin sind die
Leistungen für den gesamten Bewilligungszeitraum neu festgestellt worden. Für den
Monat August 2006 wurden Leistungen in Höhe von 922,85 Euro bewilligt, die auch zur
Auszahlung gekommen sind. Für den übrigen Zeitraum ergab sich eine Nachzahlung in
Höhe von 669,80 Euro (Bescheid vom 6. Juli 2006; im Folgenden Bewilligungsbescheid).
Mit Schreiben vom 6. Juli 2006 teilte der Antragsgegner den Antragstellern mit, dass
sämtliche Änderungen hinsichtlich des Einkommens der Antragstellerin zu 2) sowie
Änderungen der Miete nachträglich berücksichtigt worden seien. Insgesamt sei es dabei
zu einer Überzahlung in den Monaten 5/05 bis 2/06 in Höhe von 252,45 Euro gekommen.
Durch die Bereinigung des Anrechnungsbetrages im Einkommen der Antragstellerin zu
2) ergebe sich ein Nachzahlungsbetrag in Höhe von 814,84 Euro. Der Antragsgegner
habe den Überzahlungsbetrag von der Nachzahlung einbehalten, so dass ein Betrag in
Höhe von 562,39 Euro nachgezahlt werde. Sollten Einwände gegen diese Verrechnung
erhoben werden, bestehe Gelegenheit sich innerhalb von 14 Tagen nach Zugang des
Schreibens zu äußern. Dem Schreiben waren Berechnungsbögen für den Zeitraum von
Februar 2005 bis Februar 2006 beigefügt.
Am 1. August 2006 sprachen die Antragsteller bei dem Antragsgegner wegen der ihres
Erachtens zu niedrigen Nachzahlung aus dem Bewilligungsbescheid vor. Eine Einigung
konnte bei diesem Gespräch nicht erzielt werden.
Mit ihrem Antrag zum Sozialgericht (SG) Berlin vom 2. August 2006 haben die
Antragsteller geltend gemacht, ihnen die Differenz zum Nachzahlungsbetrag aus dem
Bewilligungsbescheid auszuzahlen. Der Antragsgegner hat dargelegt, dass am 7. Juli
2006 eine Nachzahlung in Höhe von 562,39 für die Zeit vom April 2006 bis zum Juli 2006
angewiesen worden sei. Lediglich für März 2006 sei derzeit noch ein Betrag in Höhe von
107,41 Euro offen, der zusammen mit den Nachzahlungsbeträgen aus den
vorangehenden Bewilligungsabschnitten für die Verrechnung mit den eingetretenen
Überzahlungen offen gelassen worden sei. Der Antrag blieb ohne Erfolg (Beschluss des
SG Berlin vom 25. August 2006).
II.
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II.
Die statthafte und zulässige Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz [SGG])
hiergegen, der das Sozialgericht (SG) Berlin nicht abgeholfen hat (§ 174 SGG), ist im
Wesentlichen begründet.
Da in Rechte beider Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft faktisch – durch die bereits
vollzogene Aufrechnung - eingegriffen worden ist, bestehen keine Bedenken gegen die
Zulässigkeit des Antrags der Antragstellerin zu 2), auch wenn der Bescheid vom 6. Juli
2006 nur dem Antragsteller zu 1) gegenüber ergangen ist, denn sie ist durch die
angegriffenen Maßnahmen ebenfalls beschwert.
Einstweiliger Rechtsschutz richtet sich im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung des
SG nicht nach § 86b Abs. 2 SGG. Bei zutreffender Auslegung des Vorbringens der
Antragsteller machen diese nicht geltend, dass ihnen für die Zeit vom 1. März 2006 bis
zum 31. Juli 2006 höhere Leistungen zustehen, als im Bewilligungsbescheid zuerkannt
worden sind (Leistungen für August 2006 waren ohnehin nie im Streit), so dass der
Anwendungsbereich einer Regelungsanordnung von vornherein nicht eröffnet ist. Sie
wenden sich mit ihrem Begehren, die im Bewilligungsbescheid festgestellte Nachzahlung
vollständig ausgezahlt zu erhalten, und ihrem Vortrag, die Leistungen für die Zeit vom
Februar 2005 bis Februar 2006 seien zu niedrig berechnet worden, vielmehr ersichtlich
gegen die am 6. Juli 2006 ergangene Entscheidung des Antragsgegners, die für die Zeit
vom 1. Mai 2005 bis zum 28. Februar 2006 bewilligten Leistungen teilweise (in Höhe von
252, 45 Euro) aufzuheben, eine entsprechende Erstattung festzusetzen und diese
Erstattungsforderung schließlich mit der im Zeitraum vom 1. Mai 2005 bis zum 31. Juli
2006 entstandenen Forderung der Antragsteller aufzurechnen (nicht zu „verrechnen“).
Alle drei Entscheidungen hat der Antragsgegner im Schreiben vom 6. Juli 2006 nicht
lediglich angekündigt, wie sich aus der eingeräumten Anhörungsfrist von 2 Wochen
ergeben könnte. Aus Sicht des Empfängers handelt es sich vielmehr um abschließende
Entscheidungen, gerade weil durch Erklärung der Aufrechnung die Vollziehung
unmittelbar eingeleitet worden ist.
Der (mündlich bei der Vorsprache am 1. August 2006 erklärte) Widerspruch der
Antragsteller hat nach § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG bereits kraft Gesetzes aufschiebende
Wirkung, soweit sich die Antragsteller gegen die Erstattung der überzahlten Leistungen
und gegen die Vollziehung der Erstattung durch Aufrechnung wenden. Die
aufschiebende Wirkung ist weder hinsichtlich der – offenbar auf § 50 Abs. 1
Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) gestützten - Erstattungsforderung noch
hinsichtlich der erklärten Aufrechnung (vgl. § 43 Sozialgesetzbuch Zweites Buch [SGB II]
und § 51 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil [SGB I]) nach § 39 Nr. 1 SGB II im Sinne von
§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG ausgeschlossen.
Hierfür spricht schon der Wortlaut von § 39 Nr. 1 SGB II, wonach nur bei
Verwaltungsakten, die über "Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende"
entscheiden, die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage
ausgeschlossen sein soll. Über "Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende" wird
jedoch nur entschieden, wenn Leistungen bewilligt, abgelehnt, entzogen oder
herabgesetzt werden. Als Umkehr vorausgegangener Bewilligungen handelt es sich
zudem auch bei der Rücknahme bzw. Aufhebung von Leistungsbewilligungen für die
Vergangenheit nach §§ 45, 48 SGB X um Verwaltungsakte, in denen wie bei der
Bewilligung selbst über Leistungen der Grundsicherung entschieden wird (vgl. Beschluss
des Senats vom 6. Juni 2007 - L 28 B 731/07 AS ER, juris RdNr.4). Dagegen fehlt der
rechtliche Bezug zu den im SGB II normierten Leistungen (Ansprüchen), wenn nach
erfolgter Aufhebung bzw. Rücknahme einer konkreten Leistungsbewilligung die
Rückzahlung der geleisteten Geldbeträge vom Empfänger nach § 50 SGB X verlangt
wird. Mit dem Wirksamwerden der Aufhebung der bewilligenden Entscheidung verlieren
die ausgezahlten Geldleistungen ihre rechtliche Zuordnung zu einem bestimmten
Rechtsgrund, der den Empfänger bis dahin zum Behalten der Leistungen berechtigt hat,
sie werden zur rechtsgrundlosen Bereicherung und stellen gerade keine Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende mehr dar (vgl. etwa Landessozialgericht Berlin-
Brandenburg vom 12. Juli 2006 - L 10 B 345/06 AS ER, juris RdNr. 6). Ebenso greift die
Aufrechnung nicht in den Bestand des rechtsbegründenden Bewilligungsbescheides ein.
Der Anspruch als solcher wird durch die Aufrechnung weder entzogen noch gemindert,
sondern setzt diesen sogar voraus, weil durch die Aufrechnung der Anspruch des
Hilfebedürftigen auf die SGB II Leistung erfüllt wird. Durch die Aufrechnung bleibt dieser
Anspruch selbst unberührt. Soweit die entgegenstehende Auffassung (vgl. Hengelhaupt
in Hauck/Noftz, SGB II - Std.: 13. Erg-Lfg. V/07 -, § 39 RdNr. 45) u. a. damit begründet
wird, dass die sofortige Vollziehbarkeit eine abschreckende Wirkung auf unrechtmäßiges
Verhalten habe, ist ein solche Auslegung nach Auffassung des Senates weder mit der
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Verhalten habe, ist ein solche Auslegung nach Auffassung des Senates weder mit der
Systematik des § 39 SGB II vereinbar noch nach dem Sinn und Zweck des § 86 a SGG
geboten (vgl bereits Entscheidung des Senats vom 14. Mai 2007 - L 28 B 653/07 AS ER;
zitiert nach www.Sozialgerichtsbarkeit.de).
Hat der Widerspruch der Antragsteller im Hinblick auf die verlangte Erstattung und die
angeordnete Aufrechnung insoweit bereits aufschiebende Wirkung, besteht grundsätzlich
kein Rechtsschutzbedürfnis für die begehrte Anordnung. Im vorliegenden Fall besteht
allerdings die Besonderheit, dass der Antragsgegner – sofern er überhaupt erkannt hat,
dass ein Widerspruch gegen den als Schreiben bezeichneten Bescheid vom 6. Juli 2007
vorliegt - offensichtlich die Auffassung vertritt, dass dieser keine aufschiebende Wirkung
habe. Denn er hat jedenfalls nicht von der ihm insoweit gegebenen Möglichkeit Gebrauch
gemacht, die sofortige Vollziehung des § 86 a Abs. 2 Nr. 5 SGG anzuordnen, sondern er
hat trotz des gegen den Bescheid erhobenen Widerspruchs diesen faktisch vollzogen. In
derartigen Fällen, in denen ein Verwaltungsakt trotz (möglicherweise) eingetretener
aufschiebender Wirkung, faktisch vollzogen wird oder Streit über die aufschiebende
Wirkung besteht, gewährleistet das Gericht einstweiligen Rechtsschutz im Wege der
Feststellung, dass der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat (Schoch in
Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO - Std.: 13. Erg.-Lfg./April 2006 -, § 80 RdNr.
241, Kopp/Schenke, VwGO, 14. Auflage 2005, § 80 RdNr. 181 und Keller in Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, § 86 b RdNrn. 9 b und 12).
Soweit der Antragsgegner den Bescheid vom 6. Juli 2006 bereits vollzogen hat, war nach
§ 86b Abs. 1 Satz 2 SGG die Aufhebung der Vollziehung anzuordnen. Diese bedeutet
Rückgängigmachung der erfolgten Vollziehungshandlungen bzw. deren unmittelbaren
Folgen (Keller, a. a. O., § 86 b RdNr. 10). Dabei entscheidet das Gericht aufgrund einer
Interessenabwägung, bei der das Verhalten der Behörde und in erster Linie die
Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen sind (Keller, a. a. O., §
86 b RdNrn. 10 ff.). Mit ihrem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes haben
die Antragsteller allerdings ausdrücklich nur für die Zeit vom 1. März 2006 bis zum 31.
Juli 2006 die Auszahlung von weiteren, ihnen in diesem Zeitraum zustehenden
Leistungen, mithin die Beseitigung der bezogen auf diesen Zeitraum eingetretenen
Vollzugsfolgen verlangt. Dem Senat ist es verwehrt, über ihr insoweit ausdrücklich
erklärtes Begehren hinauszugehen.
Vorliegend bestehen ernsthafte Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheides
vom 6. Juli 2006. Zunächst ist allein der Antragsteller zu 1) Adressat des Bescheides, mit
dem die Beklagte den gesamten Erstattungsbetrag gegen diesen geltend gemacht hat.
Der Bescheid ist damit schon deshalb (teilweise) rechtswidrig, weil (und soweit) er den
Antragsteller zu 1) über das Maß dessen belastet, das er selbst zu Unrecht erhalten
haben mag. Im Übrigen fehlt es an einer ausreichenden Begründung des Bescheides (§
35 SGB X). Es bleibt sowohl unklar, woraus sich die Rechtswidrigkeit der ursprünglichen
Bewilligung der Leistung in der Zeit von Mai 2005 bis Februar 2006 ergeben soll
(tatsächlich ist wohl lediglich im Dezember 2005 durch eine Betriebskostenrückzahlung
weiteres Einkommen zugeflossen), ob und inwieweit die Voraussetzungen für eine
rückwirkende Korrektur einer rechtswidrig begünstigenden Regelung nach §§ 45, 48 SGB
X in Verbindung mit §§ 41, 330 SGB III vorliegen, als auch wie sich der
Rückforderungsbetrag errechnet und aus welchen Leistungszeiträumen er sich ergibt.
Eine in diesem Sinne ausreichende Begründung ist bis heute nicht nachgeschoben
worden (vgl. dazu § 41 SGB X), so dass sich eine eingehende Prüfung durch den Senat
im vorliegenden Verfahren erübrigt. Gegenüber der Antragstellerin zu 2) ist die faktisch
erfolgte Aufrechnung im übrigen schon deshalb rechtswidrig, weil ihr gegenüber weder
eine Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung ergangen ist noch ihr gegenüber die
Aufrechnung durch einseitige Erklärung des Antragsgegners wirksam erklärt ist. Dass
eine Bevollmächtigung des Antragstellers zu 1) im Verwaltungsverfahren insoweit nicht
über § 38 SGB II unterstellt werden kann, entspricht mittlerweile auch dem Verständnis
der Bundesagentur für Arbeit in ihren Arbeitshinweisen zum SGB II.
Allerdings hat der Senat darauf hinzuweisen, dass eine Folgenbeseitigung für den
Leistungszeitraum vom 1. März 2006 bis zum 1. Juli 2006 nur zu einer Auszahlung
weiterer Leistungen in Höhe von 107,41 Euro führt. Die im Bewilligungsbescheid vom 6.
Juli 2006 ausgewiesene Nachzahlung im Übrigen (nämlich weitere 562,39 Euro) haben
die Antragsteller mit der Überweisung vom 7. Juli 2006 unzweifelhaft erhalten. Der
Antragsgegner wird wegen der Leistungszeiträume für davor liegende Zeiten von Amts
wegen zu prüfen haben, ob und inwieweit er angesichts der offenbaren Rechtswidrigkeit
des angegriffenen Bescheides die für den Zeitraum vom 1. Mai 2005 bis 28. Februar
2006 einbehaltenen Nachzahlungsbeträge in Höhe von 145,08 Euro auszahlt. Es ist nicht
ersichtlich – und nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens -, dass den
Antragstellern darüber hinaus für diesen Zeitraum weitere Zahlungen zustehen könnten.
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Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).
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