Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 19.08.2009

LSG Berlin und Brandenburg: rahmenfrist, arbeitslosigkeit, ortsabwesenheit, abfindung, beratung, verfügung, umrechnung, beendigung, auskunft, ersetzung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 19.08.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 57 AL 2200/08
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 18 AL 16/09
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. November 2008 aufgehoben. Die
Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Verfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird
nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Dauer von 450 Kalendertagen ab 8. Januar 2008.
Der 1956 geborene Kläger war zuletzt vom 1. April 1971 bis 31. Dezember 2006 als Fernmeldemonteur bei der D
Aktiengesellschaft (AG) versicherungspflichtig beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete zum 31. Dezember 2006
gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von 225.000,- EUR. Am 8. Januar 2008 (Dienstag) meldete sich der Kläger
arbeitslos; laut den vorliegenden Aktenvermerken hatte er zuvor am 12. September 2006 (persönlich), am 5. Oktober
2006 (persönlich), am 2. April 2007 (telefonisch), am 2. Juli 2007 (telefonisch), am 31. Juli 2007 (telefonisch) und am
2. August 2007 (telefonisch) Kontakt mit der Sachbearbeitung der Beklagten. Vom 19. Januar 2008 bis 29. Februar
2008 war er mit Genehmigung der Beklagten wegen Urlaubs ortsabwesend.
Mit Bescheid vom 22. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2008 lehnte die
Beklagte den Alg-Antrag des Klägers ab mit der Begründung, dass dieser innerhalb der Rahmenfrist von zwei Jahren
vom 1. März 2006 bis 29. Februar 2008 nicht mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis
gestanden habe. Da der Kläger nach seinen eigenen Angaben im ersten Jahr seiner Beschäftigungslosigkeit nicht
habe arbeiten wollen, habe für die Zeit vom 1. Januar 2007 bis zur - wegen einer Ortsabwesenheit des Klägers auf den
1. März 2008 - verschobenen Arbeitslosmeldung mangels Verfügbarkeit keine Arbeitslosigkeit vorgelegen. Die
zwischenzeitlich erfolgten persönlichen Meldungen im Jahr 2007 könnten nicht als Arbeitslosmeldungen dienen.
Den Überprüfungsantrag des Klägers vom März 2008 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11. März 2008 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2008 ab. Bei der Erteilung des Bescheides vom 22. Januar 2008
sei weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. Januar 2008 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2008 und des Bescheides vom 11. März 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 3. April 2008 verurteilt, dem Kläger für die Zeit ab 1. Januar 2008 Alg zu gewähren. Zur
Begründung ist ausgeführt: Die zulässige Klage sei begründet. Die Ablehnung des Antrages auf Alg für die Zeit ab 1.
Januar 2008 sei rechtswidrig, da der Kläger innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist die Anwartschaftszeit von 12
Versicherungspflichtmonaten erfüllt habe. Da der Kläger gegen den Ablehnungsbescheid vom 22. Januar 2008 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2008 rechtzeitig innerhalb der einmonatigen Klagefrist durch
Einreichung seines Überprüfungsantrages vom 3. März 2008 Klage erhoben habe, gehe der ebenfalls ablehnende
Überprüfungsbescheid vom 11. März 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2008 ins Leere
und könne daher ebenfalls keinen Bestand haben. Der Kläger habe gegen die Beklagte für die Zeit ab 1. Januar 2008
Anspruch auf Alg. Er sei im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches hinsichtlich der am 8. Januar 2008
verspätet erfolgten Arbeitslosmeldung so zu stellen, wie er bei ordnungsgemäßer Beratung durch die Beklagte
gestanden hätte. Die Beklagte wäre von sich aus verpflichtet gewesen, den Kläger darauf hinzuweisen, dass im
Hinblick auf die Erfüllung der Anwartschaftszeit eine Arbeitslosmeldung spätestens am 2. Januar 2008 notwendig
gewesen sei. Nach § 123 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (SGB III) habe die Anwartschaftszeit erfüllt,
wer in der Rahmenfrist mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden habe. Die
Rahmenfrist betrage zwei Jahre und beginne mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den
Anspruch auf Alg (§ 124 Abs. 1 SGB III). Der Kläger habe diese Anwartschaftszeit bei einer Arbeitslosmeldung nur
dann erfüllen können, wenn er sich bis spätestens am 2. Januar 2008 bei der Beklagten arbeitslos gemeldet hätte. Die
Beklagte sei verpflichtet gewesen, den Kläger hierüber zu informieren und auf eine rechtzeitige Antragstellung
hinzuwirken. Vorliegend sei durch pflichtwidriges Verhalten der Beklagten eine verspätete Antragstellung erfolgt. Die
weiteren Anspruchsvoraussetzungen für den Anspruch auf Alg, nämlich das Vorliegen von Arbeitslosigkeit und die
Arbeitslosmeldung, seien hier erfüllt. Der Kläger könne somit Alg ab 1. Januar 2008 unter Berücksichtigung von 12
Monaten Versicherungspflichtzeit von der Beklagten beanspruchen.
Mit der Berufung wendet sich die Beklagte gegen dieses Urteil. Sie trägt vor: Entgegen der Auffassung des SG könne
eine frühere Arbeitslosmeldung des Klägers, d. h. eine Arbeitslosmeldung vor dem 8. Januar 2008, nicht im Wege des
sozialrechtlichen Herstellungsanspruches fingiert werden. Es handele sich hierbei um ein tatsächliches Verhalten des
Arbeitslosen, das insoweit nicht ersetzt werden könne. Ausgehend von der Arbeitslosmeldung des Klägers am 8.
Januar 2008 habe dieser die Anwartschaftszeit innerhalb der Rahmenfrist von zwei Jahren vor dem 8. Januar 2008
nicht erfüllt, so dass kein Alg-Anspruch bestehen könne.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. November 2008 aufzuheben und Klage abzuweisen.
Der Kläger, der sein Klagebegehren dahingehend konkretisiert hat, dass er die Gewährung von Alg (erst) für die Zeit
ab 8. Januar 2008 für die Dauer von 450 Kalendertagen (= 15 Monate) begehrt, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung insoweit für zutreffend.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze Bezug genommen.
Die Leistungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten, in deren Rahmen nach der entsprechenden Klarstellung des Klagebegehrens im Termin
zur mündlichen Verhandlung nur noch über die statthafte kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage auf
Gewährung von Alg für die Zeit ab 8. Januar 2008 für die Dauer von 450 Kalendertagen (= 15 Monate) zu entscheiden
war, ist begründet. Soweit das SG die Beklagte zur Zahlung von Alg für die Zeit vom 1. Januar 2008 bis 7. Januar
2008 verurteilt hat, ist das angefochtene Urteil durch die Beschränkung des Klagebegehrens gegenstandslos
geworden.
Hinsichtlich der vom SG verlautbarten Aufhebung des Alg-Ablehnungsbescheides vom 22. Januar 2008 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2008 war das angefochtene Urteil schon deshalb aufzuheben, weil der
Kläger mit seinem Schreiben an die Beklagte vom 3. März 2008 ersichtlich darum gebeten hatte, nach "§ 44-SGB X"
die Alg-Ablehnung "zu überprüfen", nicht aber eine Klage hatte einreichen wollen. Das SG hätte daher bei seiner der
Klage stattgebenden Entscheidung den Bescheid vom 22. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 6. Februar 2008 nicht selbst aufheben dürfen, sondern die Beklagte zur Aufhebung dieser Bescheide verpflichten
müssen.
Der Kläger hat im Übrigen gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Alg für die Zeit ab 8. Januar 2008. Anspruch auf
Alg haben Arbeitnehmer bei Arbeitslosigkeit, die arbeitslos sind, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet
und die Anwartschaftszeit erfüllt haben (§ 118 Abs. 1 SGB III in der vorliegend anwendbaren Fassung des Gesetzes
vom 23. Dezember 2003 – BGBl. I S. 2848). Arbeitslos ist gemäß § 119 Abs. 1 SGB III ein Arbeitnehmer, der nicht in
einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit), sich bemüht, seine Beschäftigungslosigkeit zu
beenden (Eigenbemühungen) und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht
(Verfügbarkeit). Der Kläger hat sich am 8. Januar 2008 persönlich arbeitslos gemeldet. Ungeachtet dessen, ob der
Kläger in der Zeit ab 8. Januar 2008 für die Dauer des geltend gemachten Alg-Anspruchs von 450 Kalendertagen
arbeitslos iSv § 119 Abs. 1 SGB III war, was jedenfalls für die Zeit der urlaubsbedingten Ortsabwesenheit vom 19.
Januar 2008 bis 29. Februar 2008 schon mangels Verfügbarkeit i.S.v. § 119 Abs. 5 SGB III nicht der Fall gewesen
sein dürfte, fehlt es aber an einer Erfüllung der Anwartschaftszeit.
Gemäß § 123 Satz 1 SGB III hat die Anwartschaftszeit erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in
einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat. Der Kläger stand in der Rahmenfrist von zwei Jahren (§ 124 Abs.
1 SGB III in der ab 1. Januar 2004 geltenden und vorliegend – vgl. § 434j Abs. Abs. 3 SGB III – anwendbaren
Fassung) , die mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg beginnt und
vorliegend den Zeitraum vom 7. Januar 2008 bis zum 8. Januar 2006 bzw. – sollte auf den Zeitpunkt der Beendigung
der urlaubsbedingten Ortsabwesenheit abzustellen sein, was vorliegend keiner abschließenden Klärung bedarf - den
Zeitraum vom 29. Februar 2008 bis 1. März 2006 umfasst (vgl. § 124 Abs. 1 SGB III), nicht mindestens 12 Monate in
einem Versicherungspflichtverhältnis (vgl. § 123 Satz 1 SGB III). Im ersten Fall hat der Kläger nur 358 Kalendertage
von erforderlichen (vgl. zur Umrechnung von Monaten in Kalendertage § 339 Satz 2 SGB III) 360 Kalendertagen, im
zweiten Fall gar nur 306 Kalendertage von erforderlichen 360 Kalendertagen in einem Versicherungspflichtverhältnis
i.S. der §§ 24 ff. SGB III gestanden.
Die fehlende Erfüllung der Anwartschaftszeit lässt sich auch nicht auf der Grundlage des sozialrechtlichen
Herstellungsanspruchs dadurch ersetzen, dass eine subjektive und objektive Verfügbarkeit sowie eine persönliche
Arbeitslosmeldung des Klägers für einen Zeitpunkt vor dem 8. Januar 2008 fingiert werden mit der Folge, dass die
Anwartschaftszeit dann erfüllt wäre. Dabei bedarf es keiner Beurteilung, ob die Beklagte - wie das SG gemeint hat -
eine ihr auf Grund Gesetzes oder eines bestehenden Sozialrechtsverhältnisses dem Kläger gegenüber obliegende
Pflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung (vgl. §§ 14, 15 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB I), verletzt
und ihm dadurch einen Nachteil zugefügt hat (vgl. BSG SozR 3-4100 § 249e Nr. 4; BSG SozR 3-2600 § 58 Nr 2; BSG
SozR 4-2600 § 58 Nr. 3; BSG, Urteil vom 31. Januar 2006 - B 11a AL 15/05 R - juris). Es kann daher auch
dahinstehen, ob die erforderliche Kausalität zwischen einem etwaigen Beratungsfehler und der Nichterfüllung der
Anwartschaftszeit durch den Kläger festgestellt werden könnte.
Denn selbst bei einem unterstellten objektiven Fehlverhalten der Beklagten kommt eine Korrektur im Wege des
Herstellungsanspruchs jedenfalls deshalb nicht in Frage, weil ein entsprechender Nachteilsausgleich auf ein
gesetzwidriges Verhalten der Beklagten hinauslaufen würde (vgl. BSG SozR 4-4300 § 137 Nr. 1). Die in den §§ 118,
119 SGB III geregelten tatsächlichen Anforderungen an die Arbeitslosigkeit, nämlich die objektive und subjektive
Verfügbarkeit, können in gesetzeskonformer Weise ebenso wenig fingiert werden wie die – hier vor dem 8. Januar
2008 ebenfalls fehlende - persönliche Arbeitslosmeldung (vgl. BSG, Urteil vom 31. Januar 2006 - B 11a AL 15/05 R -;
BSG, Beschluss vom 7. Mai 2009 – B 11 AL 72/08 B - juris - m.w.N.; für die Arbeitslosmeldung vgl. BSG SozR 3-
4100 § 134 Nr. 14; BSG SozR 4100 § 103 Nr. 36; BSG SozR 2200 § 381 Nr. 44; BSG SozR 3-4100 § 110 Nr. 2). Eine
Ersetzung von tatsächlichen Umständen, denen gestaltende Entscheidungen des Klägers zu Grunde lagen, ist im
Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht möglich. Es sind auch ungeachtet dessen, dass es insoweit
an einer Verfügbarkeit des Klägers als weiteres Tatbestandsmerkmal ohnehin fehlen würde, keine Anhaltspunkte dafür
ersichtlich, dass der Kläger sich vor dem 8. Januar 2008 bei der Beklagten persönlich arbeitslos gemeldet (vgl. § 122
Abs. 1 SGB III) hat. Zwar sind an eine Arbeitslosmeldung als Tatsachenerklärung keine übertriebenen Anforderungen
zu stellen. Sie liegt vor, wenn der Arbeitslose in der zuständigen Arbeitsagentur erscheint und jedenfalls sinngemäß
zum Ausdruck bringt, er sei arbeitslos (vgl. BSG, Urteil vom 19. Januar 2005 - B 11a/11 AL 41/04 R - juris). Bei der
vor dem 8. Januar 2008 letzten persönlichen Vorsprache des Klägers bei der zuständigen Agentur am 5. Oktober
2006 konnte der Kläger aber schon deshalb keine Arbeitslosmeldung zum 8. Januar 2008 erklären, weil diese nur
zulässig ist, wenn die Arbeitslosigkeit eingetreten ist oder innerhalb der nächsten drei Monate zu erwarten ist (vgl. §
122 Abs. 1 Satz 2 SGB III). Dies war am 5. Oktober 2006 ersichtlich nicht der Fall, zumal der Kläger wegen der
erhaltenen Abfindung – was zwischen den Beteiligten im Übrigen unstreitig ist – nicht bereit war, sich im Jahr 2007
dem Arbeitsmarkt und damit den Vermittlungsbemühungen der Beklagten zur Verfügung zu stellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.