Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 06.07.2004

LSG Berlin-Brandenburg: adhs, arzneimittel, behandlung, label, behandelnder arzt, konsens, krankenversicherung, versorgung, psychiatrie, effektivität

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 9.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 9 KR 198/04
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 13 Abs 3 SGB 5, § 31 SGB 5
Leitsatz
Von fachwissenschaftlichen Konsens im Sinne der Off-label-use-Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts kann bereits dann nicht die Rede sein, wenn der Nutzen des
Arzneimittels für die betreffende (neue) Indikation jedenfalls auch beachtlichen Einwendungen
unterliegt; letzteres ist derzeit für die Behandlung der adulten ADHS noch der Fall.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 06.
Juli 2004 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Arzneimittel, welches den Wirkstoff
Methylphenidat enthält, sowie mit Amphetaminkapseln. Methylphenidat-haltige
Arzneimittel wie z. B. Ritalin, Medikinet, Equasym oder AN1 sind in Deutschland bzw.
innerhalb der Europäischen Union (EU) als Ganzer nur zur Behandlung der
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) im Kindes- und Jugendalter
zugelassen, nicht aber bei Erwachsenen.
Die 1960 geborene, ihren 1990 geborenen Sohn allein erziehende Klägerin bezog
zumindest bis zum 30. September 2006eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aufgrund
eines untervollschichtigen Leistungsvermögens für den allgemeinen Arbeitsmarkt. Im
Jahre 1999 stellte ihr behandelnder Arzt, der Zeuge Dr. phil. T (Facharzt für Psychiatrie),
bei ihr eine ADHS sowie eine rezidivierende depressive Störung mit emotionaler
Instabilität fest. Im Einzelnen stellte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen fest: Die
Klägerin konnte sich nur für die Dauer von ca. 15 min konzentrieren, unterlag einem
ständigen Bewegungsdrang und war sehr unruhig; sie neigte zu impulsiven
Wutausbrüchen und zu starken Stimmungsschwankungen sowie einer niedrigen
Stresstoleranz. Ferner litt sie an einer Störung des Schlaf- und Wachrhythmus sowie
sozialen Defiziten, z. B. der Unfähigkeit, eigene und auch fremde Gefühle
wahrzunehmen und einzuordnen. Der Zeuge behandelte die Klägerin in der Folgezeit mit
Psychotherapie (verbunden mit strukturierendem Coaching) sowie methylphenidat-
haltigen Arzneimitteln – zunächst Methylpheni TAD, zuletzt das Retardpräparat Concerta
– und zusätzlich stimmungsstabilisierenden Medikamenten. Im Januar 2003 stellte der
Zeuge die Klägerin mit ihrem Einverständnis auf das in den USA zur Behandlung der
adulten ADHS zugelassene Arzneimittel Strattera (Wirkstoff: Atomoxetin, 40 mg pro die)
um, was nach seinen Angaben zunächst dazu führte, dass die Klägerin – im Unterschied
zu den zuvor verordneten Stimulanzien – ruhiger und weniger impulsiv und darüber
hinaus auch keine Nebenwirkungen auftraten. Nach einigen Wochen entstehende
Antriebsprobleme führten jedoch zu einer ca. 10 Tage dauernden heftigen Depression,
sodass die Klägerin Strattera im April 2003 wieder absetzte.
Mit Schreiben vom 12. Dezember 2002 beantragte die Klägerin unter Beifügung einer
Stellungnahme des Zeugen T die Versorgung mit methylphenidat-haltigen
Medikamenten bzw. Amphetaminsulfat, da dieser sich aufgrund zunehmender
Regressansprüche seitens der Krankenkassen außerstande sehe, diese Medikamente
weiterhin auf sein Risiko auf Kassenrezept zu verschreiben. Diesen Antrag lehnte die
Beklagte mit Bescheid vom 17. Dezember 2002 ab, da die von der Klägerin beantragten
Stimulanzien für das Anwendungsgebiet bei Erwachsenen durch das Bundesinstitut für
Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bisher nicht zugelassen worden seien und die
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Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bisher nicht zugelassen worden seien und die
Voraussetzung für eine Anwendung außerhalb der zugelassenen Indikationen nicht
vorlägen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid
vom 16. Januar 2003 zurück, da die vom Bundessozialgericht (BSG) für den
zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln (Off-Label-Use) aufgestellten
Ausnahmekriterien im Falle der Klägerin nicht vorlägen. Ihr Krankheitsbild stelle keine
lebensbedrohliche Krankheit wie Krebs oder Aids dar und sei auch nicht mit schweren
gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Schmerzen, die innerhalb kurzer Zeit zu einer
drohenden Behinderung oder Pflegebedürftigkeit führten, verbunden.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Auffassung vertreten, sämtliche vom BSG im Rahmen
des Off-Label-Use geforderten Voraussetzungen lägen vor: ihre Lebensqualität sei ohne
die in den letzten Jahren erfolgte konstante Therapie schwerwiegend eingeschränkt, es
gebe keine medikamentöse Alternative und es bestehe in einschlägigen Fachkreisen ein
Konsens über den Nutzen und die Wirksamkeit von methylphenidat-haltigen
Arzneimitteln bei der Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter. Die Klägerin hat sich
hierfür – neben einem von dem Zeugen für die (damalige) Bundesversicherungsanstalt
für Angestellte (BfA) erstellten Befundbericht vom 10. März 2003 und einem für die BfA
erstellten Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. L vom 14. Juli 2003–
auf diverse Veröffentlichungen aus der Fachliteratur sowie die Leitlinien der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) berufen.
Mit von der Beklagten nicht angegriffenem Beschluss vom 7. März 2003 verurteilte das
Sozialgericht Berlin die Beklagte, die Klägerin „bis auf weiteres mit einem Medikament
zu versorgen, welches den Wirkstoff Methylphenidat, Fenetyllin, Amfetaminsulfat oder
Amfetaminil enthält.“ Seither erhält die Klägerin auf der Grundlage vertragsärztlicher
Verordnungen des Zeugen ein methylphenidat-haltiges Arzneimittel. Die Beklagte
beabsichtigt nach eigenen Angaben nicht, die Klägerin für die aufgrund der einstweiligen
Anordnung erbrachten Arzneimittel in Anspruch zu nehmen.
Die Beklagte hat nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der
Krankenkassen – MDK – (Herr R) an ihrer Auffassung festgehalten.
Nachdem das Sozialgericht die Befundberichte des Zeugen vom 7. Juli 2003 und die
Stellungnahme des BfArM vom 3. September 2003 veranlasst hatte, wies es mit
Gerichtsbescheid vom 6. Juli 2004 die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, dass die
vom BSG für den Off-Label-Use genannten Voraussetzungen nicht festgestellt werden
konnten. Da die Klägerin die Erteilung einer umfassenden
Schweigepflichtentbindungserklärung verweigert habe, habe das Gericht die bisherigen
Befunde und Diagnosen der behandelnden Ärzte nicht nachvollziehen können.
Gegen diese der Klägerin am 25. August 2004 zugestellte Entscheidung richtet sich die
am 20. September 2004 eingelegte Berufung der Klägerin, mit der sie ihr
erstinstanzliches Vorbringen wiederholt und vertieft. Sie ist insbesondere der
Auffassung, dass Forschungsergebnisse aus publizierten, formal hochwertigen klinischen
Studien vorlägen, die erwarten ließen, dass das Arzneimittel für die beantragte
Medikation in Deutschland zugelassen werden könne. Methylphenidat-haltige
Arzneimittel zur Behandlung der ADHS bei Erwachsenen seien in Norwegen und
Argentinien und seit Mitte 2005 auch in den USA zugelassen. Dort sei darüber hinaus ein
Gemisch aus Amphetamin-Salzen für dieses Indikationsgebiet zugelassen, während das
Arzneimittel Ritalin (IR) in Norwegen für die Behandlung von ADHS bei Kindern und
Erwachsenen zugelassen sei. Darüber hinaus beruft sie sich auf eine Stellungnahme der
Janssen-Cilag GmbH vom 27. Februar 2007, demzufolge für die Erwachsenenindikation
der ADHS eine Phase-III-Studie durchgeführt worden sei, die im Mai 2007 erstmals auf
einem US-ameri–kanischen Kongress vorgestellt werden sollte und die als Grundlage für
ein Zulassungsverfahren bei der Europäischen Arzneimittelagentur (European Medicines
Agency – EMEA) verwendet werden solle.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Berlin vom 06. Juli 2004
sowie des Bescheides der Beklagten vom 17. Dezember 2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 2003 die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für
die Beschaffung der Medikamente Concerta Retard 54 mg, Methylphenidat 20 mg
(Medikinet oder Methylpheni TAD) sowie Amphetaminkapseln 3/6 mg zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat die Stellungnahmen der Janssen-Cilag GmbH vom 27. Februar 2007 und
des BfArM vom 14. September 2007 bzw. vom 31. März 2008 veranlasst und im
Erörterungstermin vom 15. Dezember 2006 durch den damaligen Berichterstatter den
Zeugen zum Beweisthema „Behandlung und Medikation der Klägerin“ vernommen;
wegen der Aussage des Zeugen wird auf die Niederschrift zu diesem Termin verwiesen.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme, wegen des Sach- und Streitstandes im
Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die
Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen
Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage
abgewiesen. Denn die angegriffenen Bescheide erweisen sich als rechtmäßig.
Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin kann von der Beklagten nicht verlangen, mit
einem der im Berufungsantrag genannten Arzneimittel versorgt zu werden.
Gemäß §§ 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes
Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen
Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach
§ 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind, und auf Versorgung mit
Verbandmitteln, Harn- und Blutteststreifen. Diese Voraussetzungen liegen im Falle der
Klägerin nicht vor.
1. Um vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung erfasst zu sein,
bedarf ein Fertigarzneimittel zur Anwendung bei einem Versicherten grundsätzlich der
arzneimittelrechtlichen Zulassung für das Indikationsgebiet, in dem es eingesetzt wird.
Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz
1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen
Krankenversicherung nach § 27 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V umfasst,
wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz [AMG])
arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (ständige Rechtsprechung, vgl. hierzu und zum
Folgenden Urteil des Senats vom 4. Juli 2007, L 9 KR 52/05, m.w.N. zur Rspr. des BSG,
zitiert nach juris). Die Arzneimittel Concerta, Medikinet und Methylpheni TAD sind zwar
im Sinne der Krankenversicherung verordnungsfähige Arzneimittel, jedoch beschränkt
sich ihre Zulassung auf die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen mit der Diagnose
ADHS. Es hat weder in Deutschland noch innerhalb der Europäischen Union insgesamt
die erforderliche Arzneimittelzulassung für das Indikationsgebiet ADS/ADHS im
Erwachsenenalter, für das es von der Klägerin eingesetzt wird. Ausnahmsweise ist unter
engen Voraussetzungen die Verordnung eines Arzneimittels zwar auch außerhalb des
nach den Bestimmungen des AMG vorgegebenen Zulassungsbereichs möglich, jedoch
bestimmt § 29 Abs. 3 Nr. 3 AMG, dass die Erweiterung des Anwendungsbereiches eines
Arzneimittels einer erneuten Zulassung bedarf, an der es bei den von der Klägerin
begehrten Arzneimitteln derzeit mangelt.
Die Klägerin kann die begehrten Arzneimittel auch nicht nach den Grundsätzen des so
genannten Off-Label-Use beanspruchen. Nach der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts, der der Senat nach eigener Prüfung folgt, kann - abgesehen von
Fällen einer extrem seltenen Erkrankung (diese liegt hier nicht vor) - die Verordnung
eines Arzneimittels in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet
grundsätzlich in Betracht kommen, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden
(lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden)
Erkrankung geht (erste Voraussetzung), wenn keine andere Therapie verfügbar ist
(zweite Voraussetzung) und wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht
besteht, dass mit dem betreffenden Arzneimittel ein Behandlungserfolg (kurativ oder
palliativ) erzielt werden kann (dritte Voraussetzung).
Der Senat kann offen lassen, ob die Klägerin an einer schwerwiegenden Erkrankung in
diesem Sinne leidet. Offen bleiben kann auch, ob eine andere Therapie verfügbar ist.
Denn jedenfalls fehlt es an der genannten dritten Voraussetzung für einen Off-Label-Use
zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Von einer „begründeten
Erfolgsaussicht“ kann dann ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse
vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation
zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder die
Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer
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Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer
kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard und Placebo)
veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen
klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines
Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über
Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsbereich
zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in
den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem
vorgenannten Sinne besteht. Von fachwissenschaftlichem Konsens in diesem Sinne
kann bereits dann nicht die Rede sein, wenn der Nutzen des Arzneimittels für die
betreffende (neue) Indikation jedenfalls auch beachtlichen Einwendungen unterliegt.
Der Senat hat nicht ermittelt, ob die pharmazeutischen Hersteller von Concerta,
Medikinet und Methylpheni TAD einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung für die
Indikation „ADHS im Erwachsenenalter“ gestellt haben; auch die Klägerin hat dies nicht
behauptet. Denn fest steht jedenfalls, dass zum jetzigen Zeitpunkt keine Ergebnisse
einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard und Placebo)
veröffentlicht worden sind, die eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive bzw.
klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen.
Im Übrigen sind auch keine außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnenen
Erkenntnisse veröffentlicht, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem
neuen Anwendungsbereich zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen
zulassen. Insbesondere kann nach bisheriger Datenlage nicht davon ausgegangen
werden, dass derzeit in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen
voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (ebenso jüngst LSG
Hamburg, Beschluss vom 14. August 2008, L 1 B 258/08 ER KR; SG Düsseldorf, Urteil
vom 5. März 2008, S 2 KA 84/07; zitiert jeweils nach juris). So hat etwa die Autorin
Miriam Alexandra Maier in einer aktuellen, vom Senat ins Verfahren eingeführten
Dissertation zum Thema „Die Behandlung der adulten ADHS mit Methylphenidat versus
Atomoxetin: systematische Review“ (2007) die Effektivität beider genannten
Medikamente zur Behandlung der adulten ADHS untersucht (http://tobias-lib.ub.uni-
tuebingen.de/volltexte/2007/3053/pdf/Doktorarbeit_ENDVERSION_27032007). Sie hat
hierbei zahlreiche Studien zu Methylphenidat ausgewertet und festgestellt, dass die
Studien „Mängel wie kurze Dauer, kleine Stichproben, fehlende Intention-To-Treat
Analyse, uneinheitliche Ausschlusskriterien und ebensolche Messung der Response“
aufwiesen. Die Ergebnisse der Studien seien „weit gestreut und teilweise konträr“. Das
größte Problem bei der Auswertung habe die uneinheitliche Messung der Response auf
die Medikation dargestellt. Die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse der
Methylphenidatstudien habe auch andere Reviewer vor Probleme gestellt. Es hätten sich
zwar Hinweise auf die Effektivität der Behandlung der adulten ADHS finden lassen, wobei
die Effektivität von Atomoxetin besser untersucht sei, wenn man die methodischen
Mängel der Studien zu Methylphenidat in Rechnung stelle. Es müsse unter
Berücksichtigung der Vorteile des Atomoxetins eine Ablösung des Methylphenidats als
Standardmedikation für die adulte ADHS in Erwägung gezogen werden (vgl. die
Zusammenfassung auf S. 55-58 der Arbeit).
Die genannte Arbeit ist im vorliegenden Zusammenhang von besonderer Bedeutung,
weil sie in der Auseinandersetzung um die Indikation von Methylphenidat zur Behandlung
der ADHS im Erwachsenenalter keine Partei ergreift, sondern sich als „Studie über
Studien“ begreift und analysiert, dass die Studienlage uneinheitlich bis widersprüchlich
sei. Gerade deshalb ist die Studie der Autorin Maier, die keine erkennbaren
methodischen Mängel enthält, für den Senat von besonderem Gewicht und gerade
deshalb sieht der Senat es als erwiesen an, dass ein fachwissenschaftlicher Konsens
über den Nutzen von Methylphenidat für die Behandlung der adulten ADHS jedenfalls
derzeit nicht besteht; es gibt beachtliche Stimmen, die für einen solchen Nutzen
sprechen, doch eben auch nennenswerte Gegenstimmen.
Auch sonst ist keine gesicherte Datenlage ersichtlich, die den Rückschluss auf einen
Behandlungserfolg mit methylphenidathaltigen Medikamenten zur Behandlung der
adulten ADHS zuließen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat am 20. Dezember
2005 beschlossen, insoweit gemäß § 35 b Abs. 3 SGB V eine Expertengruppe (Off-Label
im Fachbereich Neurologie/Psychiatrie) einzusetzen und diese mit der Erstellung von
Bewertungen zur Anwendung von Arzneimitteln außerhalb des zugelassenen
Indikationsbereichs, u.a. für Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter, beauftragt.
Wie sich aus dem von der Klägerin eingereichten, an sie gerichteten Schreiben des
Bundesministeriums für Gesundheit vom 7. März 2007 ergibt, stellte diese beim
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte gebildete Expertengruppe die
Bearbeitung des Auftrags zurück, „um eine parallele Bearbeitung dieser Fragestellung
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Bearbeitung des Auftrags zurück, „um eine parallele Bearbeitung dieser Fragestellung
durch Unternehmen und die Expertengruppe zu vermeiden.“ Die Zurückstellung basiert
somit auf sachgerechten, nicht zu beanstandenden Erwägungen.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Verfassungsrechts.
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass die Regelungen des
Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung zur Arzneimittelversorgung
insbesondere dann einer verfassungskonformen Auslegung bedürfen, wenn Versicherte
an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung leiden, bei
der die Anwendung der üblichen Standardbehandlung aus medizinischen Gründen
ausscheidet und andere Behandlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen
(Beschluss vom 6. Dezember 2005, 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, S. 25 =
). Diese auf den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Sozialstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beruhenden Grundsätze sind auf den
vorliegenden Fall jedoch nicht übertragbar, da die Erkrankung der Klägerin trotz ihrer
spürbaren Ausprägung nicht mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich
verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden kann oder etwa mit einer akut
drohenden Erblindung eines Auges zu vergleichen wäre (vgl. hierzu Bundessozialgericht,
Urteil vom 19. Oktober 2004, B 1 KR 27/02 R, zitiert nach juris).
2. Das gleiche gilt im Wesentlichen auch für die von der Klägerin begehrten
Amphetaminkapseln. Derzeit ist kein amphetamin-haltiges Arzneimittel für die
Behandlung der adulten ADHS zugelassen. Dass einen Off-Label-Use rechtfertigende
Studien für diese Indikation vorliegen, ist weder von der Klägerin vorgebracht worden
noch sonst ersichtlich.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und
entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreites.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht
vorliegen.
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