Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 29.07.2008

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Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 29.07.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 130 AS 8004/08 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 14 B 818/08 AS ER
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 13. März 2008 geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 4. März
2008 bis zum 31. Mai 2008 Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes unter Zugrundelegung des vollen
Regelsatzes von 347,- Euro monatlich sowie Leistungen für Unterkunft und Heizung zu gewähren. Die Beschwerde im
Übrigen wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.
Gründe:
Zu Unrecht hat das Sozialgericht abgelehnt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur Gewährung
höherer Leistungen zu verpflichten. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG – sind einstweilige
Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn
eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen
Anordnung kommt vorliegend für Leistungszeiträume vom 4. März 2008 (Tag des Eingangs des Antrags auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung bei dem Sozialgericht) bis zum 31. Mai 2008 (Ende des Bewilligungszeitraumes nach
dem Bescheid des Antragsgegners vom 8. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. April
2008) in Betracht. Für diesen Zeitraum ist davon auszugehen, dass Anordnungsanspruch und –grund vorliegen.
Für die Höhe der an Berechtigte im Sinne des § 7 des Sozialgesetzbuchs, Zweites Buch – SGB II – zu erbringenden
Leistungen bestimmt § 20 Abs. 2 SGB II (in der bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung), dass der Regelsatz für
Alleinstehende 347,- Euro beträgt. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind Leistungen für Unterkunft und Heizung in
Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zu erbringen, soweit diese angemessen sind.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) müssen sich die Gerichte schützend und
fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen, wenn die vollständige Aufklärung des Sach- und Rechtslage in
einem Eilverfahren über die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht möglich ist
(BVerfG, Beschluss v. 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 - ). Vorliegend ist zumindest glaubhaft gemacht, dass die
Ansprüche der Antragstellerin nicht durch die §§ 20, 22 Abs. 2 a SGB II beschränkt werden. Nach diesen Vorschriften
erhalten Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und ohne Zusicherung des kommunalen
Trägers umgezogen sind, bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres 80 vom Hundert der Regelleistung und keine
Leistungen für Unterkunft und Heizung. Jedenfalls nach summarischer Prüfung ist indessen davon auszugehen, dass
diese Vorschriften hier nicht anzuwenden sind, weil die Antragstellerin, die im streitigen Zeitraum ihr 19. Lebensjahr
vollendet hat und zum 1. August 2007 aus der Wohnung ihres Vaters ausgezogen war, so zu stellen ist, als sei ihr
eine Zusicherung über die Übernahme der Kosten erteilt worden.
Darauf, dass tatsächlich keine Zusicherung vorliegt, kann es nicht entscheidend ankommen, weil die Erteilung nach
den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs fingiert werden kann (Lang/Link in Eicher/Spellbrink,
SGB II, 2. Aufl. § 22 Rdnr. 80q) und hier zu fingieren sein dürfte. Die Antragstellerin ist – jedenfalls einstweilen - so zu
behandeln, als hätte sie rechtzeitig vor dem Auszug eine Zusicherung beantragt. Durch die Vorlage eines Schreibens
an die Agentur für Arbeit Berlin Süd vom 18. April 2007 mit Telefonvermerk der Sozialpädagogin ist glaubhaft
gemacht, dass die Antragstellerin, die bis zum 23. November 2007 an einer berufsvorbereitenden Maßnahme (mit
Berufsausbildungsbeihilfe nach den §§ 59ff des Sozialgesetzbuchs, Drittes Buch) teilnahm, sich vor dem Auszug bei
der Agentur für Arbeit erkundigt hatte, ob und unter welchen Voraussetzungen sie eine eigene Wohnung beziehen
kann. Die ihr erteilte Auskunft, dass sie keine Genehmigung brauche, war zumindest unvollständig und daher falsch.
Denn die Frage der Antragstellerin zielte erkennbar auf die Möglichkeit einer Übernahme der anfallenden Mietkosten
ab. Dafür war allein der um 120 Euro erhöhte Förderungssatz der (von der Agentur für Arbeit gewährten)
Berufsausbildungsbeihilfe nicht ausreichend, weil ersichtlich war, dass davon nur im Ausnahmefall eine Wohnung
finanziert werden kann. Deswegen hätte die Antragstellerin bereits zum damaligen Zeitraum darauf hingewiesen
werden müssen, dass weitere Leistungen bis zur Höhe des tatsächlichen Bedarfs über § 22 Abs. 7 SGB II gewährt
werden können und dass dafür die vorherige Zustimmung des örtlich zuständigen kommunalen Trägers zum Umzug
erforderlich ist. Die Antragstellerin stand nicht im Leistungsbezug des Antragsgegners. Sie durfte deshalb davon
ausgehen, dass die für sie "zuständige" Behörde ihr ordnungsgemäße und umfassende Auskunft erteilt.
Der kommunale Träger muss sich das Fehlverhalten der Agentur für Arbeit zurechnen lassen. Nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann sich ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch auch aus der
einer anderen Behörde anzulastenden fehlerhaften Beratung ergeben, wenn diese andere Behörde vom Gesetzgeber
im Sinne einer Funktionseinheit arbeitsteilig in das vom in Anspruch genommenen Sozialleistungsträger zu führende
Verfahren eingebunden ist (BSG, Urt. v. 13. Dezember 1984 – Az 11 RA 68/83 - ; Urt. v. 24. Juli 1985 – 10 RKg 18/84
-; Urt. v. 26. Januar 2000 – B 13 RJ 37/98 -). Die letztere Voraussetzung ist hier deswegen erfüllt, weil § 22 Abs. 7
SGB II die Vorstellung des Gesetzgebers zu entnehmen ist, dass eine angemessene soziale Sicherung der nach dem
SGB III zu fördernden Auszubildenden mit eigener Wohnung nur im Zusammenwirken des kommunalen Trägers mit
der Bundesagentur für Arbeit erfolgen kann.
Es erscheint auch überwiegend wahrscheinlich, dass der kommunale Träger zur Erteilung einer Zusicherung
verpflichtet gewesen wäre. Viel spricht dafür, dass die Antragstellerin aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht
auf die Wohnung ihres Vaters verwiesen werden konnte. Für einen solchen Grund reichen gestörte Beziehungen
zwischen Eltern und Kind bzw. zerrüttete Familienverhältnisse aus, die durch ständigen Streit gekennzeichnet sind
(Lang/Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. § 22 Rdnr. 80q). Der Vortrag der Antragstellerin, sie habe im Haushalt
ihres Vaters aggressive Wohnverhältnisse vorgefunden und sei oft beschimpft worden, ist daher – seinen
Wahrheitsgehalt unterstellt - jedenfalls vor dem Hintergrund einer bestehenden psychischen Erkrankung, die auf
erhöhte Empfindlichkeit schließen lässt, geeignet, einen schwerwiegenden sozialen Grund für den Auszug zu belegen.
Für den Wahrheitsgehalt des Vortrages spricht, dass psychische Auffälligkeiten der Antragstellerin durch den Bericht
des S-Krankenhauses vom 10. Oktober 2006 dokumentiert sind und sich die Antragstellerin von Januar 2007 bis Mai
2008 in psychotherapeutischer Behandlung befunden hat. Die behandelnden Psychotherapeuten haben zudem den
Umzug in eine eigene Wohnung befürwortet, da er der Angstbewältigung und der Selbstständigkeitsentwicklung
gedient habe. Auch sind die belastenden Wohnverhältnisse schon vor dem Auszug angegeben worden, was dagegen
spricht, dass sie nur als nachträgliche Rechtfertigung vorgeschoben werden. Damit sind die Voraussetzungen für die
Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hinreichend glaubhaft gemacht. Gegebenenfalls ist eine weitergehende
Sachaufklärung im Hauptsacheverfahren zu betreiben (auch, ob bei dem Vater überhaupt ausreichender Wohnraum,
auf den die Antragstellerin verwiesen werden kann, zur Verfügung steht). Die Agentur für Arbeit hat das Bestehen
belastender Wohnverhältnisse und psychischer Störungen nicht geklärt. Der Antragsgegner muss jedenfalls zunächst
die Folgen zumindest unvollständiger Sachaufklärung und Auskünfte einer Stelle, deren Verhalten er sich zurechnen
lassen muss, tragen.
Der Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass das Existenzminimum betroffen ist.
Nach alledem war der Beschluss des Sozialgerichts zu ändern und der Antragsgegner zur Gewährung höherer
Leistungen zu verpflichten. Keinen Erfolg konnte die Beschwerde indessen haben, soweit die Antragstellerin noch
Leistungen bereits ab dem 1. Dezember 2007 begehrt. Da eine einstweilige Anordnung der Abwendung einer
gegenwärtigen Notlage dient, kann sie in der Regel nicht für Zeiträume erlassen werden, die vor dem Eingang des
Antrags beim Gericht liegen. Für das Vorliegen eines Ausnahmefalles sind Anhaltspunkte nicht vorhanden. Für die
Zeit ab dem 4. März 2008 bis zum Ende des Bewilligungszeitraumes hat der Antragsgegner indessen jedenfalls
vorläufig Leistungen unter Zugrundelegung des vollen Regelsatzes (unter Berücksichtigung anzurechnenden
Einkommens) und die Kosten der Unterkunft zu erbringen. Dem Antragsgegner wird im Übrigen empfohlen darauf
hinzuwirken, dass seine Träger mit dem SGB II vertraut gemacht werden und ausreichende Auskünfte erteilen.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG, sie berücksichtigt das Ergebnis in der Sache.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).