Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 19.11.2010

LSG Berlin-Brandenburg: ex nunc, freiwillige versicherung, dringlichkeit, krankenversicherung, unmittelbarkeit, mitgliedschaft, bulgarien, versicherungspflicht, zivilprozessordnung, zustand

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 1.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 1 KR 368/10 B ER, L
1 KR 370/10 B PKH
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86b Abs 2 S 1 SGG, § 6 Abs 3a
SGB 5, § 5 Abs 1 Nr 2a SGB 5, §
5 Abs 1 Nr 13 SGB 5, § 5 Abs 5a
SGB 5
Pflichtversicherung; Unmittelbarkeit; vorläufiger
Krankenversicherungsschutz
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. November 2010 wird
abgeändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung
verpflichtet, der Antragsstellerin ab sofort bis 28. Februar 2011 vorläufig
Krankenversicherungsschutz zu gewähren und ihr unverzüglich eine
Krankenversicherungskarte auszuhändigen. Im Übrigen wird die
Beschwerde zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat die der Antragstellerin entstandenen
außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
Der Antragstellerin wird für erst- und das zweitinstanzlichen Verfahren
Prozesskostenhilfe bewilligt und ihre Bevollmächtigte Rechtsanwältin H
beigeordnet.
Gründe
I.
Die 1947 geborene Antragstellerin, welche die deutsche und die bulgarische
Staatsangehörigkeit hat, begehrt von der Antragsgegnerin, ihr vorläufig
Krankenversicherungsschutz zu gewähren.
Sie lebte von 1999 bis Ende 2009 in Bulgarien und war dort – nach ihren Angaben -
weder privat noch gesetzlich krankenversichert. Ihr stand nach ihren Angaben dem
Grunde nach staatliche Unterstützung im Krankheitsfall zu. Bis Ende 1998 war sie in
Deutschland privat krankenversichert gewesen.
Sie erhält seit 4. Januar 2010 Arbeitslosengeld II, zuletzt mit Bescheid des JobCenter N
vom 27. Juli 2010 bis 28. Februar 2011.
Die Antragsgegnerin lehnte die beantragte Mitgliedschaft bei ihr mit Bescheid vom 11.
März 2010 ab, gegen den Widerspruch erhoben ist.
Die Antragsstellerin stellte daraufhin bei der D Krankenversicherung AG eine förmliche
Anfrage nach Versicherungsschutz im Basistarif. Diese lehnte jedoch den
Vertragsabschluss ab.
Am 15. November 2011 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Berlin (SG) den Erlass
einer einstweiligen Anordnung beantragt. Das SG hat den Antrag ablehnt.
II.
Die Beschwerde ist begründet.
Gemäß § 86 b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine
einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile
notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Hierfür sind grundsätzlich das
Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes
erforderlich. Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten
materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird, die erforderliche
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materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird, die erforderliche
Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund
und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu
machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).
Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch
auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt
werden. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und
unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das
Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte nur an
den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt
ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im
Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden
(ständige Rechtsprechung des Senats, siehe auch Bundesverfassungsgericht, Beschluss
vom 12. Mai 2005 -1 BvR 596/05-).
Ganz allgemein ist ein Zuwarten umso eher unzumutbar, je größer die Erfolgschancen in
der Sache einzuschätzen sind (ständige Rechtsprechung des Senats, z. B. Beschluss
vom 23.10.2008 - L 1 B 346/08 KR ER – juris, Beschluss vom 04.06.2010 – L 1 KR 138/10
BER).
Hier bestehen - soweit stattzugeben war - ein Anordnungsanspruch und ein
Anordnungsgrund. Es ist der Antragstellerin angesichts der bestehenden hohen
Erfolgschancen in der Sache nicht zuzumuten, das Hauptsacheverfahren abzuwarten.
Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren alleine möglichen und gebotenen
summarischen Prüfung liegt ein Anordnungsanspruch vor.
Nach den glaubhaft gemachten Behauptungen der Antragstellerin liegen die
Voraussetzungen für eine gesetzliche Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a
Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) vor:
Die Antragsstellerin ist nicht familienversichert und erhält normale SGB II-Leistungen.
Sie war auch nicht unmittelbar vor dem SGB II-Bezug ab dem 4. Januar 2010 privat
krankenversichert. Unmittelbarkeit setzt nach dem Wortlaut einen direkten zeitlichen
Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt des (noch) Bestehens eines privatrechtlichen
Krankenversicherungsvertrages und dem SGB II-Bezug voraus (ebenso: LSG Berlin-
Brandenburg, Beschluss vom 6.05.2010 – L 9 KR 102/10 BER- und vom 21.05.2010 – L 9
KR 33/10 BER). Daran fehlt es hier. Die frühere Versicherung bei der D endete hier vor
1999.
Die Tatbestandsvoraussetzung der Unmittelbarkeit bezieht sich auch auf die zweite
Ausschlussfallgruppe des § 5 Abs. 5a SGB V:
Die Pflichtversicherung für bislang weder gesetzlich und privat Versicherte ist nur
ausgeschlossen, wenn die näheren Voraussetzungen unmittelbar vor dem SGB II-Bezug
vorgelegen haben (ebenso ausführlich und zutreffend SG Berlin, Urteil vom 13.09.2010 -
S 166 KR 527/10 juris mit Bezug auf LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 21.05.2010).
Neben der Systematik innerhalb des Absatzes und dem Normzweck kann dies aus § 5
Abs. 1 Nr. 13 SGB V hergeleitet werden. Dort ist ausdrücklich der Fall einer Zäsur
normiert zwischen der früheren Versicherung und dem aktuellen Zeitpunkt: Das Gesetz
verwendet für die Anknüpfung an einen früheren Zustand die Formulierung „zuletzt“.
Die Antragstellerin war vor dem 4. Januar 2010 weder gesetzlich noch privat
krankenversichert. Das Bestehen eines (steuerfinanzierten) Gesundheitssystems eines
anderen Staates ist etwas anderes als eine inländische Versicherung, bei der den
Leistungen im Leistungsfalle Beitragspflichten des Versicherten gegenüberstehen.
Die Antragstellerin war weiter weder hauptberuflich erwerbstätig (§ 5 Abs. 5a S. 1, Alt. 2,
Abs. 5 SGB V) noch versicherungsfrei (§§ 5 Abs. 5a S. 1, Alt. 2, 6 Abs. 1 und 2 SGB V).
Sie war ferner auch nicht versicherungsfrei nach § 6 Abs. 3a S. 1 SGB V, obwohl sie am
4. Januar 2010 bereits älter als 54 Jahre war und in den letzten fünf Jahren zuvor auch
nicht gesetzlich versichert gewesen ist. S. 2 des § 6 Abs. 3a SGB V („weitere
Voraussetzung ist, dass diese Personen mindestens die Hälfte dieser Zeit
versicherungsfrei, von der Versicherungspflicht befreit oder nach § 5 Abs. 5 nicht
versicherungspflichtig waren“) ist nämlich nicht erfüllt: Versicherungsfreiheit nach § 6
SGB V von einer eigentlich bestehenden Versicherungspflicht war nicht gegeben, weil die
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SGB V von einer eigentlich bestehenden Versicherungspflicht war nicht gegeben, weil die
Antragstellerin in Bulgarien von vornherein nicht versicherungspflichtig sein konnte, § 3
Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Sozialgesetzbuch 4. Buch (ebenso Hauck/Noftz-Noftz SGB V § 6
Rdnr. 124: Zweck des S. 2 sei gerade, unter anderem jene Personen nicht von der
gesetzlichen Krankenversicherung auszuschließen, die lange im Ausland gelebt hätten).
Sie war ferner nicht von der Versicherungspflicht befreit (§ 8 SGB V). Auch § 5 Abs. 5
SGB V (siehe oben) und § 6 Abs. 3a S. 3 SGB V sind nicht einschlägig.
Die Antragsgegnerin ist ferner bereits darauf hingewiesen worden, dass bei
Unterstellung ihrer Rechtsauffassung, § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V sei nicht einschlägig, eine
Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 lit. b SGB V vorläge:
Die Auffang-Pflichtmitgliedschaft nach § 5 Nr. 13 SGB V besteht nicht nur, wenn
„zuletzt“ eine gesetzliche Krankenversicherung bestand (lit. a) sondern auch, wenn der
Betroffene „bisher“ weder gesetzlich noch privat versichert gewesen ist (lit. b), es sei
denn, dass eine der vom Gesetz aufgezählten Ausschlussfallgruppen vorliegt.
Die Formulierung „zuletzt“ verwendet die Norm – anders als bei Absatz 5a für
„unmittelbar“-nur für die Zuordnung unter lit. a) zur gesetzlichen Krankenversicherung,
nicht für die zweite Alternative unter lit. b). §§ 5 Abs. 5 und 6 Abs. 1 oder 2 SGB V sind
nicht einschlägig (siehe oben). Die Antragstellerin war auch nicht in Bulgarien
hauptberuflich selbstständig tätig.
Entgegen der Behauptung der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 17. Dezember 2010
hat sie eine solche Mitgliedschaft auch angezeigt. Ausweislich des
Verwaltungsvorganges der Antragsgegnerin Bl. 8 hat sie ihre Angaben auf einem
Formular „zur Pflichtversicherung nach § 5 Absatz 1 Nummer 13 SGB V“ eingetragen.
Es besteht ferner die für den Erlass einer einstweiligen Regelung mit Wirkung ab sofort
notwendige Dringlichkeit (Anordnungsgrund). Die Antragstellerin muss sich nicht erst auf
ein bereits bestehendes Bedürfnis nach ärztlichen Leistungen, Krankenhausbehandlung
o. ä. verweisen lassen (ebenso bereits für vorläufige freiwillige Versicherung: Beschlüsse
des Senats vom 10.12.2007 – L 1 B 516/07 KRER- und vom 07.01.2008 – L 1 B 336/07
KRER; für vorläufige Bewilligung von Krankenversicherungsleistungen ebenso mittlerweile
Beschluss des 9. Senats im Hause vom 12.05.2010 – L 9 KR 102 BER). Bereits das
Bestehen einer Absicherung im Krankheitsfall gehört zu den Grundbedürfnissen des
Existenzminimums. Die Antragstellerin hat sich vergeblich um eine private Versicherung
bemüht.
Da regelmäßiges Erfordernis für eine Behandlung die Vorlage einer gültigen
Versicherungskarte ist, besteht ein Anspruch auf Aushändigung einer solchen.
Dies gilt ungeachtet des Umstandes, dass damit im Außenverhältnis vorläufig ein einem
normal Versicherten gleichstehender faktischer Zustand besteht. Im täglichen
Massengeschäft der Antragsgegnerin kommt es – wie auch der vorliegende Fall zeigt -
nicht selten vor, dass sie – etwa aufgrund der Anmeldung durch ein JobCenter oder einen
Arbeitgeber- „Kunden“ vorläufig als Mitglieder behandelt und erst Wochen bis Monate
später prüft, ob die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft vorliegen.
Hinsichtlich sämtlicher Ansprüche für die Vergangenheit bis zum heutigen Zeitpunkt
fehlt es an einer Eilbedürftigkeit. Die vorläufigen Leistungen sind nur ex nunc zu
gewähren, da regelmäßig nur für die Befriedigung des gegenwärtigen und zukünftigen
Bedarfes die besondere Dringlichkeit einer vorläufigen Entscheidung gegeben ist
(ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z. B. Beschluss vom 23.10.2008 – L 1 B
346/08 KRER - juris. Für eine rückwirkende Gewährung fehlt es hier an einer
entsprechenden konkreten Begründung. Es besteht auch keine Dringlichkeit für eine
vorläufige Regelung über den Zeitraum des bewilligten SGB II-Bezuges hinaus.
Die Beschwerde war deshalb zumindest klarstellend im Übrigen zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus entsprechender Anwendung von § 193 SGG. Die
Antragstellerin hat ganz überwiegend obsiegt.
Ihr ist Prozesskostenhilfe nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Satz 1,
115, 119 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) zu gewähren. Sie ist ausweislich der
eingereichten Unterlagen bedürftig gemäß § 73 a SGG i.V.m § 114 ZPO. Die Gewährung
von Prozesskostenhilfe ist nach den genannten Vorschriften davon abhängig, dass die
beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg
hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll jedoch nicht
dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische
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dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische
Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des
Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Prozesskostenhilfe darf nur verweigert werden,
wenn die Klage völlig aussichtslos ist oder ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht
schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine Entfernte ist (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 13. Juli 2005 - 1 BvR 175/05 - NJW 2005, 3849 mit Bezug u. a. auf
BVerfGE 81, 347, 357f). Die Erfolgschancen des Eilantrages zur Gänze sind hier nicht nur
ganz entfernt gewesen.
Die Hinzuziehung eines bevollmächtigten Rechtsanwaltes erscheint in diesem Einzelfall
geboten (§ 121 Abs. 2 ZPO).
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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