Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 12.08.2003
LSG Berlin und Brandenburg: besuch, wohnung, befreiung, nierentransplantation, haus, bluthochdruck, ausstattung, anteil, bedrängnis, rundfunk
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 12.08.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 45 SB 1377/00
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 13 SB 31/02
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2002 wird
zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Die 1929 geborene Klägerin begehrt von dem Beklagten die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" als Voraussetzung
für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht.
Bei der Klägerin waren durch Bescheid vom 18. Juni 1992 ein Grad der Behinderung (GdB) von 90 sowie die
Voraussetzungen der Merkzeichen "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) und "G" (erhebliche Beeinträchtigung der
Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) anerkannt.
Auf den im Juni 1999 gestellten Verschlimmerungsantrag ließ der Beklagte die Klägerin durch den Arzt M
untersuchen. Dieser hielt in dem Gutachten vom 23. November 1999 einen GdB von 100 für angemessen, wobei er
von folgenden Einzelbehinderungen ausging:
a) Nierenschädigung, Nierentransplantation 1977 GdB 50 b) Herzleistungsminderung bei coronaren
Durchblutungsstörungen und Bluthochdruck GdB 50 c) Degenerative WS- und Gelenksveränderungen,
Sprunggelenksfraktur re. 1984, Kniescheibenbruch 1998, Fußfehlstatik, Instabilität re. Knie GdB 60 Osteopathie bei
Hyperparathyreoidismus und langjähriger Cortisonbehandlung d) Schwindelbeschwerden GdB 20
Er führte weiter aus, die Klägerin sei nicht außergewöhnlich gehbehindert; sie könne mit einer Begleitperson am
öffentlichen Leben teilnehmen. Neue Nachteilsausgleiche seien nicht anzuerkennen. Der Beklagte folgte dem in dem
Bescheid vom 13. Januar 2000. Der Widerspruch der Klägerin gegen diesen Bescheid hatte keinen Erfolg
(Widerspruchsbescheid vom 25. Mai 2000).
Das Sozialgericht, bei dem die Klägerin die Zuerkennung der Merkzeichen a.G. (außergewöhnliche Gehbehinderung),
T (Anspruch auf Inanspruchnahme eines Telebusses) und RF begehrte, hat den Internisten und Arzt für Lungen-
/Bronchialheilkunde Dr. B zum medizinischen Sachverständigen ernannt. Der Arzt stellte in seinem Gutachten vom
22. November 2000 folgende Behinderungen fest:
1. Gebrauchsbeeinträchtigung und Instabilität der Seitenbänder des Kniegelenkes des rechten Beines infolge
Durchblutungsstörungen, Nerveneinklemmung mit Schmerzen und Gangunsicherheit bei nicht ständig wegen der
Nebenwirkungen getragenen Knieorthese und Verbundplattenosteosynthese im rechten Unterschenkel (Dezember
1998) nach kompliziertem Bruch des rechten Unterschenkels, einem alten Kniescheibenbruch rechts.
Muskelverschmächtigung und Einschränkung der groben Kraft des rechten Armes nach Oberarmbruch rechts
(Dezember 1998). 2. Transplantatniere links, terminale Insuffizienz der rechten Niere; Blutgerinnungsstörungen infolge
Gefäßwandveränderungen, Neigung zu Entzündung des Harnapparates, übermäßige Harnausscheidung infolge
therapeutischer Hydration (Flüssigkeitszufuhr) durch längerfristige Dauerbehandlung mit immunsuppressiven
Medikamenten (Cortison und Endoxan). 3. Herzleistungsminderung bei coronaren Durchblutungsstörungen und
Bluthochdruck. 4. Schwindelattacken (Störung der Blutdruckregulation).
Er führte weiter aus, aufgrund des Untersuchungsbefundes vom Oktober 2000 könne nicht bestätigt werden, dass
sich die Klägerin wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder großer Anstrengung außerhalb
eines Kraftfahrzeuges bewegen könne. Ihr Gehvermögen sei zweifellos deutlich eingeschränkt. Der Teilnahme am
öffentlichen Personennahverkehr unter Inanspruchnahme einer Begleitperson stehe entgegen, dass sie bei größerem
Verkehrsaufkommen durch das Gedränge nicht in der Lage sei, auszuweichen. Das Risiko einer Unfallgefahr sei
unverhältnismäßig groß. Außerdem bestünden beim Überwinden von Treppenstufen beträchtliche Probleme durch ihre
Leiden. Weitere erhebliche Schwierigkeiten träten infolge der Notwendigkeit der häufigen Harnausscheidung auf, wobei
Zwangssituationen entstehen könnten, die unbedingt vermieden werden sollten. Aus diesen Gründen sei die Klägerin
auch gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Einer Empfehlung des Arztes für Chirurgie und Urologie Dr. B (Stellungnahme vom 11. August 2001) folgend erkannte
der Beklagte durch Bescheid vom 28. August 2001 mit Wirkung ab November 2000 das Vorliegen der
gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "aG" und "T" an. Weitere Merkmale lägen nicht vor.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 16. Januar 2002 abgewiesen. Zur Begründung hat es
ausgeführt, die Voraussetzungen des allein noch strittigen Merkzeichens "RF" lägen nicht vor. Mit Hilfe des
Telebusses und einer Begleitperson sei die Klägerin durchaus in der Lage, ihre Wohnung zu verlassen und z.B.
Kaufhäuser oder Restaurants aufzusuchen. Derartige Besuche würden von ihr selbst nicht bestritten. Wenn sie aber in
der Lage sei, zu diesen Zwecken das Haus zu verlassen, dann könne sie auch eine Vielzahl geeigneter öffentlicher
Veranstaltungen besuchen. Es gebe im Land Berlin ein Fülle von Veranstaltungen, die speziell für Senioren oder für
behinderte Menschen angeboten würden oder die keine lange Anwesenheit erforderten oder zu denen man jederzeit
kommen bzw. die man jederzeit verlassen könne.
Gegen den am 28. Februar 2002 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 25. März 2002 Berufung
eingelegt. Sie beruft sich auf das Gutachten von Dr. B, der dargelegt habe, dass sie an öffentlichen Veranstaltungen
nicht mehr teilnehmen könne. Sie könne aufgrund ihres Gesundheitszustandes keine Verabredungen im Voraus
treffen und müsse öffentliche Menschenansammlungen meiden. Der Zustand habe sich zudem verschlechtert. Sie
leide ständig unter Schmerzen im rechten Knöchel, im linken Knie und der Brust- und Lendenwirbelsäule.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2002 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten
vom 13. Januar 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25. Mai 2000 sowie den Bescheid vom 28.
August 2001 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr das Merkzeichen "RF" zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat einen Befundbericht der behandelnden Ärztin F vom 3. August 2002 eingeholt. Dazu hat sich u.a. am 4.
September 2002 erneut Dr. B geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Akte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Sie hat keinen Anspruch auf die Feststellung, dass die
gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des begehrten Nachteilsausgleichs, die Befreiung von der
Rundfunkgebührenpflicht, vorliegen (vgl. § 69 Abs. 4 des Neunten Buchs des Sozialgesetzbuches - SGB IX -). Die
Klägerin gehört insbesondere nicht zu dem - hier allein in Betracht kommenden - Personenkreis des § 1 Abs. 1 Nr. 3
der "Verordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht" vom 2. Januar 1992
(GVBl. für Berlin S. 3). Hiernach sind Behinderte von der Rundfunkgebührenpflicht zu befreien, wenn sie nicht nur
vorübergehend um mindestens 80 vom Hundert in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert sind und wegen ihres Leidens an
öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen können. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
- BSG -, der der erkennende Senat gefolgt ist, sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer,
künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher und unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die
länger als 30 Minuten dauern, also nicht nur Ereignisse kultureller Art, sondern auch Sport, Volksfeste, Messen,
Märkte und Gottesdienste (vgl. BSG SozR 3870 § 3 Nr. 15, 24, 25, SozR 3-3870 § 4 Nr. 2, 17 und BSG Breith. 1994,
S. 230). Die Rechtsprechung hat die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen nur dann bejaht, wenn
der Schwerbehinderte in einem derartigen Maße eingeschränkt ist, dass er praktisch von der Teilnahme am
öffentlichen Gemeinschaftsleben ausgeschlossen und an das Haus gebunden ist (vgl. BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 3,
15). Mit dieser sehr engen Auslegung soll gewährleistet werden, dass der auch aus anderen Gründen zweifelhafte
Nachteilsausgleich "RF" (vgl. insbesondere BSG in Breith. a.a.O. und das unveröffentlichte Urteil zum Az. 9 RVs 3/93
vom 16. März 1994, worin die Auffassung vertreten wird, dass es wegen der nahezu vollständigen Ausstattung aller
Haushalte in Deutschland mit Rundfunk- und Fernsehgeräten zunehmen zweifelhaft erscheint, dass durch den
Nachteilsausgleich "RF" tatsächlich ein behinderungsbedingter Mehraufwand ausgeglichen wird) nur Personengruppen
zugute kommt, die den im Landesrecht ausdrücklich genannten Schwerbehinderten (Blinde und Hörgeschädigte) und
den aus wirtschaftlicher Bedrängnis sozial Benachteiligten vergleichbar sind.
Der Senat vermag den vorliegenden ärztlichen Äußerungen nicht zu entnehmen, dass die Klägerin die geschilderten
Voraussetzungen erfüllt. Dabei verkennt er nicht, dass sie besonders schwer behindert ist. Dies folgt bereits aus den
ihr zuerkannten Merkzeichen und dem GdB von 100. Mit dem Sozialgericht ist jedoch davon auszugehen, dass die
Behinderungen ebenfalls insoweit ausgeglichen werden, dass sie einen ins Gewicht fallenden Anteil an
Veranstaltungen des öffentlichen Lebens besuchen kann. Durch die Benutzung eines Rollstuhles wird das außerhalb
der Wohnung nicht mehr bestehende Gehvermögen ausgeglichen, durch das Merkzeichen "B" eine Begleitung zur
Bedienung des Rollstuhles, durch die Berechtigung zur Benutzung des Telebusses können ihre Schwierigkeiten im
öffentlichen Personennahverkehr vermieden werden. Dass die Klägerin auch bei Inanspruchnahme dieser Hilfen
praktisch an die Wohnung gebunden ist, kann nicht festgestellt werden. Soweit Dr. B dies ausführt, ist seine
Beurteilung nicht schlüssig, weil er als Schilderung der Klägerin angegeben hat, diese sitze beim Einkaufen im
Rollstuhl, alle Handreichungen erfolgten durch den Ehemann. Beim Besuch von Restaurants könnten Probleme
entstehen, sofern Stufen zum Aufsuchen der Räumlichkeiten oder der Toiletten zu überwinden seien. Bei dem Besuch
von Örtlichkeiten mit stärkerem Publikumsverkehr (z.B. Kaufhaus) käme es zu Platzangst mit Engegefühl und
Atembeschwerden, so dass ärztlicherseits der Einsatz von Nitrosprays empfohlen werde. Ein weiteres Problem liege
in der vermehrten Flüssigkeitsaufnahme wegen der Nierenerkrankung. Die wiederholte Flüssigkeitsaufnahme (2 bis 3
Liter pro Tag) führe zu der Notwendigkeit häufigerer Harnentleerung, die im 1 1/2- bis höchstens 2-stündigen Abstand
erforderlich sei. Aus diesem Grunde müsse auf Toilettennähe bei allen Unternehmungen geachtet werden. Besonders
günstig seien die Voraussetzungen hier im Britzer Garten, der sich in Wohnnähe befinde. Danach ist festzustellen,
dass der Klägerin der Besuch größerer Veranstaltungen durchaus nicht mehr möglich sein wird, wie auch von der
behandelnden Ärztin F in dem Befundbericht vom 3. August 2002 ("Unruhe, Phobien") angegeben. Damit ist ihr aber
nur ein Segment aus dem Kreis möglicher Veranstaltungen verschlossen. Bereits das Sozialgericht hat auf die
Vielzahl von Veranstaltungen hingewiesen, die für Senioren und behinderte Menschen angeboten werden und die eine
längere Anwesenheit nicht erfordern. Diese Veranstaltungen finden zur Geselligkeit (Kaffeetafel) sowie auf kulturellem,
religiösem oder wissenschaftlichem Gebiet statt und sind mit keinem größeren Publikumsandrang verbunden. Soweit
die Klägerin vorträgt, sie müsse nach einer 1979 durchgeführten Nierentransplantation täglich mindestens drei Liter
Flüssigkeit zu sich nehmen und deshalb alle 1 1/2- bis 2 Stunden die Toiletten aufsuchen, ist darauf hinzuweisen,
dass nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 17) bei Harninkontinenz die
Benutzung von Windelhosen zumutbar ist. Im Übrigen ist es für den Behinderten auch zumutbar, durch die vorherige
Steuerung der Flüssigkeitszufuhr den Harndrang zu beeinflussen. Dies hält der Urologe Dr. B auch im Hinblick auf die
Nierenerkrankung der Klägerin für möglich und zumutbar. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass lediglich
Behinderte, die eine Veranstaltung nur bis zu 30 Minuten besuchen können, zum berechtigten Personenkreis gehören
können. Diese Zeit überschreitet die Klägerin auch nach eigenen Angaben mit erforderlichen Toilettenbesuchen nach
1 1/2 bis 2 Stunden erheblich.
Soweit die Ärztin F auf die Schmerzen der Klägerin hinweist und meint, sie könne deshalb keine öffentlichen
Veranstaltungen besuchen, ist darauf hinzuweisen, dass die Schmerzen bei Benutzung eines Rollstuhles und der
anderen möglichen Hilfen offenkundig nicht auf einer körperlichen Anstrengung beruhen, also nicht für den Besuch
von Veranstaltungen typisch sind, also im häuslichen Bereich ebenso auftreten können. Es kann daher davon
ausgegangen werden, dass der Besuch geeigneter Veranstaltungen eine ablenkende Wirkung hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Ziffern 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.