Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 01.03.2006

LSG Berlin und Brandenburg: bahnhof, wohnheim, familie, deckung, eingliederung, umzug, sozialhilfe, angemessenheit, besitz, taxi

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 01.03.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Cottbus S 20 SO 114/05 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 23 B 1083/05 SO ER
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 4. Oktober 2005 wird zurückgewiesen. Die
Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht Potsdam hat die Antragsgegnerin zu Recht im
Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig vom 10. Oktober 2005 bis zu einer
bestandskräftigen oder rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache stationäre Eingliederungshilfe im Wohnheim
"L" in der D Straße in B zu gewähren.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen
Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend
gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. §§ 920
Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung [ZPO]).
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch auf Übernahme der Kosten für ihre stationäre Betreuung in dem
Wohnheim "L" der E gAG in B zu einem täglichen Kostensatz von 126,35 EUR hinreichend glaubhaft gemacht. Dieser
Anspruch folgt aus § 53 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 54 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) i.
V. m. § 55 Abs. 2 Nr. 6 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB
IX).
Die Antragstellerin gehört aufgrund ihrer geistigen Behinderung unstreitig zum Personenkreis des § 53 Abs. 1 Satz 1
SGB XII. Ebenfalls zwischen den Beteiligten unstreitig hat die Antragstellerin einen Anspruch auf stationäre
Eingliederungshilfe. Diese erhält sie seit Jahren von der Antragsgegnerin, zuletzt in der Wohnstätte für geistig und
mehrfach behinderte Menschen des A in R zu einem Tagessatz von 87,75 EUR.
Die Antragstellerin hat auch einen Anspruch auf Übernahme der für ihre stationäre Betreuung in dem Wohnheim "L" in
Höhe von 126,35 EUR täglich anfallenden Kosten. Diesem Anspruch steht insbesondere nicht der so genannte
Mehrkostenvorbehalt des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII entgegen, wonach der Träger der Sozialhilfe in der Regel
Wünschen des Leistungsberechtigten nicht entsprechen soll, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten
verbunden wäre. Denn ein hiernach anzustellender Kostenvergleich setzt immer voraus, dass die zum Vergleich
herangezogene Einrichtung zur Erreichung des Zwecks der Eingliederungshilfe in gleicher Weise geeignet ist wie die
vom Leistungsberechtigten gewählte Einrichtung. Ist die kostengünstigere Einrichtung aufgrund der individuellen Lage
des Hilfeempfängers zur Zweckerreichung weniger geeignet, kann sie auch nicht zum Vergleich herangezogen
werden. § 9 Abs. 2 SGB XII betrifft nur das Wahlrecht des Leistungsberechtigten in Bezug auf die Gestaltung der
Hilfe bei Alternativen zur Bedarfsdeckung (vgl. BVerwG, st. Rspr. zur alten Rechtslage des inhaltsgleichen § 3 Abs. 2
BSHG, BVerwGE 91, 114 ff., E 94, 127 ff., E 97, 53 ff.). Eine zur Deckung des Bedarfs der Antragstellerin
gleichermaßen geeignete Alternative hat aber die Antragsgegnerin auch im Beschwerdeverfahren nicht aufzeigen
können.
Die von der Antragstellerin bis zu ihrem Umzug bewohnte Einrichtung des A in R stellt keine der Antragstellerin
zumutbare Alternative dar, weil schon das zerrüttete Verhältnis zwischen Heimleitung und ihren Betreuerinnen eine
angemessene Betreuung dort nicht mehr erwarten lässt. Hiervon geht mittlerweile wohl auch die Antragsgegnerin aus.
Die von der Antragsgegnerin erstmals im Beschwerdeverfahren benannten Einrichtungen der H in L und E sind für die
Antragstellerin bereits wegen ihrer örtlichen Belegenheit nicht geeignet, so dass dahinstehen kann, ob der
Antragstellerin überhaupt ein erneuter Umzug zuzumuten wäre. Die Einrichtung N Gtal im Ortsteil L bei B befindet sich
weit außerhalb des Stadtkerns von B in 8,5 km Entfernung vom Bahnhof. In dem von der Antragsgegnerin
eingereichten Auszug der Konzeption der Wohnstätte wird explizit als Standortnachteil benannt: " weite Wege zur
Bahnanbindung (RB) ". Wie aus der von der Antragsstellerin zur Glaubhaftmachung in Bezug genommenen
Internetauskunft der Deutschen Bahn AG (http.//Reiseauskunft.bahn.de) ersichtlich, besteht eine Busverbindung vom
Bahnhof B nach L wochentags nur bis 17:05 Uhr, an Wochenenden nicht mehr ab 18:35 Uhr. Das Haus G in E ist ca.
4 km vom Bahnhof entfernt. Die letzte Busverbindung von E Bahnhof nach Ortsteil K besteht wochentags um 17:30
Uhr, wobei ungeklärt ist, ob am Heim eine Bushaltestellt besteht oder ob von der Bushaltstelle bis zum Heim ein
Fußweg von 1,5 km zurückgelegt werden muss. Am Wochenende besteht nach Angaben der Antragsgegnerin keine
Busverbindung vom Bahnhof in E bis zum Heim. Der Fußweg betrage ca. 1 Stunde, es solle ein Taxi in Anspruch
genommen werden. Die von der Antragsgegnerin aufgezeigten Alternativen sind daher sowohl von der 77-jährigen
vermögenslosen Antragstellerin, die auf die Nutzung eines Rollators angewiesen ist, als auch von deren
Betreuerinnen, ihren Nichten, die eigenen Angaben zufolge nicht im Besitz eines Kfz sind, nur unter Mühen und nur
sehr eingeschränkt zu erreichen. Das Wohnheim in der D Straße in B ist hingegen mit dem B öffentlichen
Personennahverkehr gut erreichbar. Der Nähe der Einrichtung zu den Wohnorten der Nichten und ihrer Erreichbarkeit
durch diese mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommt aber bei der Beurteilung der "Angemessenheit" der angebotenen
Hilfe für die Antragstellerin eine entscheidende Bedeutung zu. Denn ihre beiden Nichten sind nach Aktenlage die
einzigen Familienangehörigen und wohl überhaupt die einzigen Personen, die sich regelmäßig um die Antragstellerin
kümmern, diese besuchen und zu Besuchen der Familie abholen und somit zu ihrer Eingliederung und Teilhabe an der
Gemeinschaft beitragen. Zu berücksichtigen ist hierbei ferner, worauf bereits das Sozialgericht zutreffend hingewiesen
hat, dass Leistungen der Sozialhilfe die besonderen Verhältnisse in der Familie des Leistungsberechtigten
berücksichtigen und zum Zusammenhalt der Familie beitragen sollen (vgl. § 16 SGB XII), wobei von einem weiten
Familienbegriff auszugehen ist (Schoenfeld in Grube/Wahrendorf , SGB XII, Komm., 2005, § 16 Rdnr. 14 m. w. N.).
Aus den genannten Gründen steht auch der Umstand, dass die Antragsgegnerin mit dem Einrichtungsträger des
Wohnheims "L" in B keine Vereinbarung im Sinne vom § 75 Abs. 3 SGB XII geschlossen hat (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 2
SGB XII) einem Anspruch der Antragstellerin nicht entgegen. § 75 Abs. 3 SGB XII setzt nämlich das Vorhandensein
einer Alternative zur Deckung des sozialhilferechtlichen Bedarfs voraus. Dies folgt zum einen aus der systematischen
Stellung der Vorschrift, die einschränkend nur die Übernahme der Kosten der Hilfe in einer Einrichtung eines anderen
Trägers regelt und folglich die Pflicht zur Hilfeleistung des Sozialhilfeträgers selbst in einer eigenen Einrichtung
unberührt lässt. Zum anderen ergibt sich aus dem sozialhilferechtlichen Bedarfsdeckungsgrundsatz, dass der
Sozialhilfeträger, wenn ihm eine solche Einrichtung zur Hilfeleistung im konkreten Fall nicht zur Verfügung steht, die
von einem anderen Träger geltend gemachten Unterbringungskosten unabhängig davon übernehmen muss, ob den
Grundsätzen des § 75 Abs. 3 SGB XII Rechnung getragen ist (BVerwGE 97, 53 ff. zur gleich lautenden Vorschrift des
alten Rechts, § 93 Abs. 2 BSHG).
Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ihr war es nicht zuzumuten, bis zu einem
bestands- oder gar rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens in der für ihre Eingliederung allem Anschein nach
ungeeigneten Einrichtung in R zu verbleiben, zumal der ihr in der Einrichtung der E gAG zugesagte Platz nach ihren
nach allgemeiner Lebenserfahrung ohne weiteres glaubhaften Angaben nicht längerfristig freigehalten werden konnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).