Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 11.10.2006

LSG Berlin-Brandenburg: aufschiebende wirkung, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, öffentliches interesse, vollziehung, sozialhilfe, vorrang, verwaltungsakt, vollstreckung, rechtsschutz

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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
15. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 15 B 234/06 SO ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 86a SGG, § 86b Abs 1 SGG, §
45 SGB 10, § 57 SGB 12, § 58
SGB 12
Voraussetzungen der sofortigen Vollziehung eines
Verwaltungsaktes
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam
vom 11. Oktober 2006 aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Klage der
Antragstellerin gegen den Bescheid vom 6. April 2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 11. August 2006 und des Schriftsatzes der
Antragsgegnerin vom 16. November 2006 wird wieder hergestellt.
Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen.
Gründe
Die Beschwerde ist im Ergebnis begründet.
Gemäß § 86 b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache
die aufschiebende Wirkung in den Fällen anordnen, in denen Widerspruch und Klage
keine aufschiebende Wirkung haben. Zwar hat die Klage gegen den Bescheid vom 6.
April 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2006 entgegen §
86 a Abs. 1 Satz 1 SGG nur deshalb keine aufschiebende Wirkung, weil die
Antragsgegnerin in dem Widerspruchsbescheid vom 11. August 2006 gemäß § 86 a Abs.
2 Nr. 5 SGG eine sofortige Vollziehung angeordnet hat. Auch in diesem Fall richtet sich
einstweiliger Rechtsschutz aber nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG. In der Vorschrift ist die
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zwar nicht genannt, wohl aber wird sie in
§ 86 b Abs. 1 Satz 3 SGG ausdrücklich erwähnt. Daran zeigt sich, dass der Gesetzgeber
auch bei Anordnungen des Sofortvollzugs durch die Behörde einstweiligen Rechtsschutz
durch Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hat einräumen wollen (so bereits
Landessozialgericht [LSG] Baden-Württemberg, Beschluss vom 6. Februar 2006 – L 13
AL 4566/05 ER-B -, zitiert aus der Rechtsprechungsdatenbank „Juris“).
Nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung in Fällen, in denen die
sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines
Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den
Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung
des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet.
Es kann dahinstehen, ob das formelle Erfordernis, wonach die Antragsgegnerin die
Vollziehungsanordnung erlassen und das besondere öffentliche Interesse an der
sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 6. April 2006 schriftlich begründet hat, nach
Erlass des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2006 durch den Schriftsatz der
Antragsgegnerin vom 16. November 2006 wirksam auch auf die Aufhebung der
Leistungsbewilligung (Verfügungssatz Nr. 1 des Bescheides vom 6. April 2006) erstreckt
werden konnte. Selbst wenn dies zu Gunsten der Antragsgegnerin angenommen wird,
sind die Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht erfüllt.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung stellt eine Ausnahme vom Regelfall des § 86a
Abs. 1 SGG dar. Nach dieser Vorschrift hat der Rechtsbehelf grundsätzlich selbst dann
aufschiebende Wirkung, wenn die angegriffene Verwaltungsentscheidung rechtmäßig ist.
Für die Vollziehungsanordnung ist deshalb ein besonderes öffentliches Interesse
erforderlich, das über jenes Interesse hinaus geht, welches den Verwaltungsakt selbst
rechtfertigt (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts NVwZ
1996, 58, 59 mit weiteren Nachweisen). Das besondere öffentliche Interesse muss
gerade an der sofortigen Vollziehung bestehen. Auch fiskalische Interessen können
dabei ein besonderes öffentliches Interesse begründen, jedoch bei Geldforderungen nur
dann, wenn deren Vollstreckung gefährdet erscheint (s. LSG Baden-Württemberg a.a.O.
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dann, wenn deren Vollstreckung gefährdet erscheint (s. LSG Baden-Württemberg a.a.O.
mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
Die Antragsgegnerin stützt das Vollziehungsinteresse im Wesentlichen darauf, dass bei
Zuwarten auf eine rechtskräftige Entscheidung in der Hauptsache die Vollstreckung der
geltend gemachten Forderung durch Wertverlust von verwertbaren Gegenständen
gefährdet erscheint. Dieses Interesse rechtfertigt die getroffene Anordnung bereits
deshalb nicht, weil die materielle Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 6. April 2006 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2006 nach summarischer
Prüfung wenigstens teilweise noch ungeklärt ist.
Lediglich für den Beginn des Aufhebungszeitraums (ab August 2005) ergeben sich –
anders als die Antragstellerin meint – kaum Zweifel daran, dass die Antragsgegnerin die
Bewilligung von Pflegegeld und von Hilfen zur Gesundheit zu Recht nach § 45 Abs. 2 Satz
3 Nr. 2 und 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) aufgehoben hat. Nach Lage der
Akten hat es die Antragstellerin grob fahrlässig unterlassen, der Antragsgegnerin den
Zufluss der Rentennachzahlungen von insgesamt 24.290,96 € im August 2005 bekannt
zu geben. Am 12. Mai 2005 hatte die Antragsgegnerin bei der Vorsprache ihres
Bevollmächtigten Herrn S lediglich erfahren, dass die Antragstellerin eine
Rentennachzahlung von über 40.000,00 € zu erwarten hatte. Nach der von der
Antragsgegnerin gefertigten Gesprächsnotiz war bei dieser Gelegenheit erörtert worden,
dass erst andere Ämter „wegen der Sozialhilfe der vergangenen Jahre“ darauf
zurückgreifen würden. Herrn S ist nach der Gesprächsnotiz ausdrücklich der Hinweis
gegeben worden, dass die Antragstellerin sich melden solle, wenn die tatsächliche
Auszahlungssumme bekannt wird. Es gibt nach den Akten keinen Anhaltspunkt dafür,
dass die Antragstellerin oder ein von ihr Bevollmächtigter der Antragsgegnerin vor dem
15. Februar 2006 mitgeteilt hätte, welcher Betrag der Träger der Rentenversicherung
dann tatsächlich ausgezahlt hat und wann.
Die Antragstellerin hatte sich gegenüber der Antragsgegnerin am 15. Februar 2006
dahingehend eingelassen, dass sie „dachte, dass das Sozialamt nicht darüber informiert
werden muss, weil mir nichts davon bekannt war, Krankenhilfe zurückzahlen zu müssen.
Bei der Rentennachzahlung ging es immer um Rückforderung laufender Hilfe zum
Lebensunterhalt. Für mich war das erledigt und die Schuldentilgung hatte aus meiner
Sicht Vorrang“. Indessen hatte sie langjährig Sozialhilfe bezogen und jeweils Anträge
ausfüllen müssen, in denen sie nach ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen
gefragt worden war. Sie hatte auch Bescheide bekommen, in denen sie ausdrücklich auf
ihre Mitteilungspflichten hingewiesen worden war (siehe beispielhaft die Rückseite des
Bewilligungsbescheides für Pflegegeld vom 15. Oktober 2004). Schon deshalb musste ihr
klar sein, dass Sozialhilfeleistungen prinzipiell einkommens- und vermögensabhängig
sind. Von der Antragstellerin wird nicht gefordert, dass sie selbst Überlegungen dazu
anstellt, ob Einkommen oder Vermögen Auswirkungen auf Ansprüche der Sozialhilfe hat.
Das zu prüfen ist Aufgabe der Antragsgegnerin. Deshalb war die Antragstellerin auch
dann nicht von ihren Mitteilungspflichten entbunden, wenn sie der Meinung war, dass die
Schuldentilgung aus ihrer Sicht Vorrang hatte. Dass sie aus der Rentennachzahlung
Schulden aus ihrem früheren Konkursverfahren getilgt hat, ist nach Aktenlage im
Übrigen nicht erkennbar.
Gleichwohl kann sich der Bescheid vom 6. April 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 11. August 2005 wenigstens teilweise als rechtswidrig
darstellen. Denn unstreitig hat die Antragstellerin von dem Geldvermögen in den
Monaten August bis Dezember 2005 Ausgaben von über 21.000,00 € getätigt. Selbst
wenn sie dadurch eine sozialhilferechtliche Bedürftigkeit selbst herbeigeführt haben
sollte, so würde dies Ansprüche nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII)
nicht von vornherein ausschließen, sondern lediglich einen Anspruch der
Antragsgegnerin auf Kostenersatz nach § 103 SGB XII auslösen. Eine auf § 45 SGB X
gestützte Aufhebung der ergangenen Leistungsbewilligungen kommt dann nicht in
Betracht.
Ob und falls ja welche der von der Antragstellerin erworbenen Vermögensgegenstände
einzusetzendes Vermögen darstellen (und zu welchem Zeitpunkt), ist zwischen den
Beteiligten streitig und im Rahmen des Hauptsacheverfahrens abschließend zu klären.
So lange aber nicht geklärt ist, in welchem Umfang sich die von der Antragsgegnerin
aufgestellte Forderung als rechtmäßig erweist, kann jedenfalls kein besonderes Interesse
an der Vollziehung der angefochtenen Bescheide bestehen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens beruht auf § 193 SGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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