Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 15.07.2008

LSG Berlin und Brandenburg: aufschiebende wirkung, treu und glauben, öffentliches interesse, anrechenbares einkommen, selbständige erwerbstätigkeit, zumutbarkeit, eingliederung, vollziehung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 15.07.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 159 AS 3604/08 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 14 B 568/08 AS ER
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Februar 2008
aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 18. Januar 2008 gegen den
Sanktionsbescheid des Antragsgegners vom 2. Januar 2008 wird angeordnet. Aus der Regelleistung bereits
einbehaltene Beträge sind vorerst an den Antragsteller auszuzahlen. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen
Kosten des Antragstellers zu erstatten.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde hat Erfolg. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts, mit dem die Anordnung der
aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs abgelehnt worden ist, kann keinen Bestand haben.
Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen
Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder
teilweise anordnen. Der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch – SGB II - beziehende Antragsteller
hat am 18. Januar 2008 Widerspruch eingelegt gegen den Sanktionsbescheid des Antragsgegners vom 2. Januar
2008, in dem eine Kürzung der dem Antragsteller zustehenden Regelleistung um 30 vom Hundert ausgesprochen
worden ist. Dieser Widerspruch hat nach § 39 SGB II keine aufschiebende Wirkung.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs ist anzuordnen, weil erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
Sanktionsbescheides bestehen, so dass kein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Umsetzung erkennbar ist.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts kommt es für die Frage, inwieweit die Weigerung, eine in einer
Eingliederungsvereinbarung vereinbarte Maßnahme fortzuführen, eine Absenkung der Regelleistungen nach § 31 SGB
II rechtfertigt, durchaus darauf an, ob die Maßnahme zumutbar war. Es kann dahinstehen, ob dem Wortlaut der
Vorschrift des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe c) SGB II eindeutig zu entnehmen ist, ob sich das Adjektiv
"zumutbare" am Beginn der Aufzählung auch auf die "sonstigen Maßnahmen" bezieht. Entscheidend ist, dass auch
wenn es nicht im Gesetz stünde – die Teilnahme an unzumutbaren Maßnahmen nicht verlangt werden kann. Soweit
das Sozialgericht im Anschluss an Sonnhoff in JurisPK-SGB II, 2. Aufl., § 31 Rdnr. 89/90 darauf verweist, dass es
gegen Treu und Glauben verstoße, erst eine Eingliederungsvereinbarung mit einer vereinbarten Maßnahme zu
unterschreiben und dann geltend zu machen, die Maßnahme sei unzumutbar, berücksichtigt es nicht genügend, dass
die Eingliederungsvereinbarung nach dem SGB II zwar formell als Vertrag ausgestaltet ist, es sich in der Sache aber
nicht um einen Vertrag handelt in dem Sinne, dass sich zwei gleichberechtigte Partner gegenüber stehen, sondern
lediglich um eine neue "moderne" Form hoheitlichen Verwaltungshandelns (Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2.
Aufl., § 15 Rdnr. 10). Dementsprechend besteht kein Anlass, die gerichtliche Inhaltskontrolle gegenüber einer durch
Verwaltungsakt zugewiesenen Maßnahme zu lockern. Entsprechend wird in der Kommentarliteratur denn auch die
Auffassung vertreten, dass im Rahmen einer Sanktion nach § 31 SGB II wegen Abbruchs der mit
Eingliederungsvereinbarung vereinbarten Maßnahme die Zumutbarkeit dieser Maßnahme geprüft werden müsse (Berlit
in LPK-SGB II, 2. Aufl., § 31 Rdnr. 46, Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, K § 31 Rdnr. 46). Dem folgt der erkennende
Senat.
Gegen die Zumutbarkeit der in der zwischen den Beteiligten geschlossenen Eingliederungsvereinbarung vorgesehenen
Maßnahme (Teilnahme an dem Maßnahmeprojekt "Coachingcenter für Hilfebedürftige mit Einkommen") bestehen
erhebliche Bedenken. Einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ist die Teilnahme nur an solchen Maßnahmen
zuzumuten, die geeignet sind, seine Eingliederung in das Erwerbsleben zu befördern. Die Maßnahmen müssen
Kenntnisse vermitteln, deren Erwerb für den Arbeitsuchenden in seiner konkreten Situation sinnvoll ist (Rixen in
Spellbrink/Eicher, SGB II, 2. Aufl., § 10 Rdnr. 138). Der Antragsteller hat aber vorgetragen, bisher hätten im Rahmen
des "Maßnahmeprojekts" lediglich zwei allgemeine Gespräche stattgefunden. Diesen Vortrag hat der Antragsgegner
unwidersprochen hingenommen, ebenso wie den weiteren Vortrag des Antragstellers, er sei vom Maßnahmeträger
aufgefordert worden, sich doch selbst Arbeit und Unterlagen mitzubringen, damit er sich während der zu erfüllenden
Zeitvorgabe von 15 Stunden in der Woche sinnvoll beschäftigen könne. Der Senat muss deshalb im Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes von der – nicht bestrittenen – Richtigkeit dieser Angaben ausgehen.
Es liegt auf der Hand, dass eine sinnvolle Eingliederung nicht stattfindet, wenn den Teilnehmern einer Maßnahme
bedeutet wird, sich ihren sonstigen Vorhaben zu widmen, damit sie Vorgaben zur Dauer des Aufenthalts in der
Einrichtung einhalten. Eine Maßnahme, die sich darin erschöpft, den Anschein dafür aufrechtzuerhalten, dass
Kenntnisse vermittelt werden, ist offensichtlich nicht zumutbar. Sie darf vom Arbeitsuchenden ohne Eintritt von
Sanktionen abgebrochen werden. Auf die Frage, ob der Antragsteller einen wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1
Satz 2 SGB II für den Abbruch der Maßnahme hatte, weil er sich vorrangig um seine selbständige Erwerbstätigkeit
kümmern wollte, kommt es deswegen nicht an. Allerdings wäre insoweit durchaus zu berücksichtigen, dass der
Antragsteller mit seiner selbstständigen Erwerbstätigkeit offenbar seit Jahren kein anrechenbares Einkommen erzielt
und deshalb ggf. auch die Teilnahme an einer Maßnahme, die Kenntnisse über die Erzielung von Einkünften durch
selbstständige Erwerbstätigkeit vermittelt, sachdienlich erscheint.
Nach alledem spricht zur Zeit mehr gegen als für die Rechtmäßigkeit des Sanktionsbescheides. Danach war die
aufschiebende Wirkung des gegen ihn erhobenen Widerspruchs und die Aufhebung der bisherigen Vollziehung
anzuordnen. Ggf. ist im Hauptsacheverfahren zu klären, ob und inwieweit die bisher nicht bestrittenen Angaben des
Antragstellers zutreffen.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG, sie berücksichtigt das Ergebnis in der Sache.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).