Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 28.02.2005

LSG Berlin und Brandenburg: zuwendung, arbeitsentgelt, tarifvertrag, erfüllung, verschulden, belohnung, auszahlung, altersrente, behandlung, aufteilung

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 28.02.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 63 AL 1344/03
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 16 AL 51/03
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 11. August 2003 aufgehoben.
Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 25. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
14. Februar 2003 verurteilt, der Klägerin weiteres Insolvenzgeld in Höhe von 9/12 des Nettobetrages der jährlichen
Zuwendung für das Jahr 2001 zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im
gesamten Verfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Höhe von Insolvenzgeld (Insg).
Die 1951 geborene Klägerin war seit dem 10. April 1989 als Sekretärin/Sachbearbeiterin bei der G-N N GmbH in B (G-
N) versicherungspflichtig beschäftigt. Mit Beschluss vom 17. Januar 2002 eröffnete das Amtsgericht (AG) C das
Insolvenzverfahren über das Vermögen der G-N.
Die Klägerin hatte nach dem auf Grund ausdrücklicher arbeitsvertraglicher Regelung anwendbaren
Bundesmanteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Arbeiterwohlfahrt (BMT-AW II) in jedem
Kalenderjahr Anspruch auf eine Zuwendung. Diese stand nach § 46 Abs. 1 BMT-AW II Arbeitnehmern zu, die am 1.
Dezember im Arbeitsverhältnis standen und nicht für den gesamten Monat Dezember ohne Lohnfortzahlung zur
Ausübung einer entgeltlichen Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit beurlaubt waren, seit dem 1. Oktober
ununterbrochen als Arbeitnehmer im Dienst der AW gestanden hatten oder im laufenden Kalenderjahr insgesamt
sechs Monate bei der AW im Arbeitsverhältnis gestanden hatten oder standen und nicht in der Zeit bis einschließlich
31. März des folgenden Kalenderjahres aus ihrem Verschulden oder auf eigenen Wunsch ausschieden. Die Höhe der
Zuwendung wurde in einem gesonderten Tarifvertrag über eine Zuwendung für Angestellte vom 12. Oktober 1973 in
der Fassung des Tarifvertrages vom 29. Oktober 2001 zur Änderung von Zuwendungstarifverträgen und des
Tarifvertrages zur weiteren Anpassung des Tarifrechts an den Euro vom 30. Oktober 2001 geregelt. Für den Fall, dass
der Arbeitnehmer nicht während des gesamten Kalenderjahres Bezüge von der AW erhalten hatte, verminderte sich
die Zuwendung um ein Zwölftel für jeden Monat, für den der Arbeitnehmer weder Bezüge aus einem der in § 46 BMT-
AW II genannten Rechtsverhältnisse zur AW noch während eines dieser Rechtsverhältnisse Mutterschaftsgeld nach §
13 Mutterschutzgesetz bzw. Erziehungsurlaub nach § 16 Bundeserziehungsgeldgesetz erhalten hatte (§ 47 Abs. 3
Satz 1 BMT-AW II). Die Zuwendung sollte spätestens zwischen dem 15. November und 15. Dezember gezahlt werden
(§ 47 Abs. 7 BMT-AW II).
Auf Antrag der Klägerin bewilligte die Beklagte nach Vorlage der Insg-Bescheinigung der Arbeitgeberin mit Bescheid
vom 25. Juli 2002 Insg für den Zeitraum vom 17. Oktober 2001 bis zum 16. Januar 2002 in Höhe von insgesamt
4.551,50 Euro; dabei berücksichtigte sie für den Monat November 2001 die kalenderjährliche tarifliche Zuwendung in
Höhe von drei Zwölfteln des Nettozahlbetrages (jährliche Zuwendung für 2001 netto = 1.668,34 DM = 853,01 Euro).
Der Widerspruch der Klägerin, mit dem diese die Zahlung von weiterem Insg in Höhe der vollen jährlichen Zuwendung
begehrte, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2003).
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf Gewährung von weiterem Insg unter Berücksichtigung der vollen tariflichen
Zuwendung für 2001 gerichtete Klage mit Gerichtsbescheid vom 11. August 2003 abgewiesen. Zur Begründung ist
ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf höheres Insg. Denn die Beklagte
habe insbesondere die streitige Einmalzahlung zutreffend nur im Umfang von drei Zwölfteln berücksichtigt. Entgegen
der Auffassung der Klägerin sehe § 47 Abs. 3 BMT-AW II eine anteilige Staffelung der Einmalzahlung vor, die keine
Einschränkung auf die in der Klagebegründung genannten Fälle enthalte. Die Zuwendung vermindere sich vielmehr in
allen Fällen, in denen der Arbeitnehmer nicht während des gesamten Kalenderjahres Bezüge von der AW aus einem
der in § 46 genannten Rechtsverhältnisse erhalten habe.
Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie trägt vor: Entgegen der Auffassung des SG sei den
tariflichen Regelungen nicht zu entnehmen, dass eine anteilige Staffelung in allen Fällen vorzunehmen sei, in denen
der Arbeitnehmer nicht während des gesamten Kalenderjahres Bezüge von der AW erhalten habe. So bekomme ein
Arbeitnehmer, der vor dem Stichtag (1. Dezember) ausgeschieden sei, gar keine Zuwendung, da er die
Betriebstreuevoraussetzung des § 46 BMT-AW II nicht erfülle. Der Tarifvertrag sehe daher die Möglichkeit einer
anteiligen Kürzung der Zuwendung im Falle eines vorzeitigen Ausscheidens von Arbeitnehmern vor dem Stichtag
nicht vor.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 11. August 2003 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung
des Bescheides vom 25. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 2003 zu verurteilen,
ihr weiteres Insolvenzgeld in Höhe von neun Zwölfteln des Nettobetrages der jährlichen Zuwendung für 2001 zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend und trägt ergänzend vor: Es handele sich unstreitig um
eine Sondervergütung mit Mischcharakter. Diese Vergütungen seien stets nur in Höhe ihres auf den Insg-Zeitraum
entfallenden Anteils zu berücksichtigen, sofern die zu Grunde liegende arbeitsrechtliche Regelung ausdrücklich eine
anteilige Zahlung vorsehe. Eine solche ergebe sich aus § 47 Abs. 3 des maßgeblichen Tarifvertrages.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die vorbereitenden Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen
Bezug genommen.
Die Leistungs- und Insg-Akte der Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist begründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von zusätzlichem Insg in Höhe von neun Zwölfteln
des Nettobetrages der jährlichen Zuwendung für 2001.
Anspruch auf Insg haben nach § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (SGB III)
Arbeitnehmer, wenn sie bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers
(Insolvenzereignis) für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt
haben. Nach § 183 Abs. 1 Satz 2 SGB III gehören zu den Ansprüchen auf Arbeitsentgelt alle Ansprüche auf Bezüge
aus dem Arbeitsverhältnis, somit auch Ansprüche auf eine kalenderjährliche Zuwendung. Der Anspruch der Klägerin
auf diese Zuwendung ergibt sich unmittelbar auf Grund ausdrücklicher arbeitsvertraglicher Einbeziehung in dem
Arbeitsvertrag mit der G-N vom 9. April 1990. Die Klägerin hat auch einen Anspruch darauf, dass die tarifliche
Sonderzahlung gemäß § 46 Abs. 1 BMT-AW II, die gemäß § 47 Abs. 7 dieses Tarifvertrages zwischen dem 15.
November und 15. Dezember zu zahlen war, in voller Höhe beim Insg berücksichtigt wird, weil sie in den letzten drei
Monaten des Arbeitsverhältnisses vor dem Insolvenzereignis ungeschmälert an die Klägerin hätte ausgezahlt werden
müssen.
Bei der von der Arbeitgeberin der Klägerin auf Grund tariflicher Regelung zu zahlenden Sonderleistung handelt es sich
um eine Leistung, die kalenderjährlich ausgezahlt wurde, also um eine Jahressonderzahlung. Derartige Zahlungen
werden in der Regel für geleistete Arbeit und zur Belohnung für die Betriebstreue erbracht; sie stellen regelmäßig
Zahlungen mit Mischcharakter dar, wovon auch die Beklagte zu Recht ausgeht. Dass der Sonderzuwendung auch
Entgeltcharakter beizumessen ist, gibt aber für die zu entscheidende Frage, ob die Sonderzuwendung bei der Zahlung
von Insg nur anteilig anzusetzen ist, nicht den Ausschlag. Denn bei der zu Zwecken des Insg erforderlichen zeitlichen
Zuordnung einer Jahressonderzahlung ist unter Berücksichtigung des arbeitsrechtlichen Entstehungsgrunds und der
Zweckbestimmung der Leistung zu differenzieren. Arbeitsvertragliche Vereinbarungen bzw. Regelungen, die für den
Arbeitnehmer auch bei vorherigem Ausscheiden einen zeitanteiligen Anspruch vorsehen, begründen einen Insg-
Anspruch in Höhe des auf den Insg-Zeitraum entfallenden Anteils. Lässt sich die Jahressondervergütung - wie hier -
dagegen nicht einzelnen Monaten zurechnen, so ist sie in voller Höhe beim Insg zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil
vom 2. November 2000 - B 11 AL 87/99 R = SozR 3-4100 § 141b Nr. 21 m.w.N.).
Die vorliegend heranzuziehenden Regelungen , insbesondere § 46 Abs. 1 und § 47 Abs. 3 Satz 1 BMT-AW II,
ergeben, dass sich die tarifliche Zuwendung nicht anteilig den einzelnen Monaten des Jahres zuordnen lässt. Dem
anspruchsberechtigten Arbeitnehmer und somit auch der Klägerin stand der Anspruch bei Erfüllung der
Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 BMT-AW II (ungekündigtes Arbeitsverhältnis am 1. Dezember, ununterbrochene
Betriebszugehörigkeit seit dem 1. Oktober oder Betriebszugehörigkeit von insgesamt sechs Monaten im laufenden
Kalenderjahr und kein Ausscheiden bis einschließlich 31. März des folgenden Kalenderjahres aus eigenem
Verschulden oder auf eigenen Wunsch) uneingeschränkt zu. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat dies für die hier
einschlägige Vorschrift des § 46 BMT-AW II im Falle einer vom 4. Februar bis zum 31. Dezember eines Jahres
befristet beschäftigten Arbeitnehmerin bereits entschieden (Urteil vom 23. November 1983 -5 AZR 474/81- nicht
veröffentlicht). Die Klägerin hat somit die jährliche tarifliche Zuwendung nicht zeitanteilig erarbeitet, weil sie
grundsätzlich im jeweiligen Fälligkeitszeitpunkt (15. November bis 15. Dezember eines Jahres) ungekürzt und
unabhängig von der Betriebsdauer im Laufe des Kalenderjahres auszuzahlen ist, wenn ihre sonstigen
Voraussetzungen vorliegen (vgl. zu einem gleichlautenden Tarifvertrag BSG, Urteil vom 18. März 2004 -B 11 AL 57/03
R- nicht veröffentlicht). Dies erhellt auch daraus, dass Arbeitnehmer, die beispielsweise wegen des Bezugs einer
Erwerbsminderungsrente oder einer vorzeitigen Altersrente vor dem Stichtag (1. Dezember) ausgeschieden waren,
ebenfalls grundsätzlich Anspruch auf die volle Zuwendung hatten (§ 46 Abs. 2 BMT-AW II). Als Ausnahmeregelung ist
demgegenüber die Bestimmung des § 47 Abs. 3 BMT-AW II anzusehen, wonach in den Fällen, in denen Arbeitnehmer
nicht während des gesamten Kalenderjahres Bezüge von der AW aus einem der in § 46 genannten Rechtsverhältnisse
erhalten hatten, eine anteilige Zuwendung erhalten sollten. Diese Bestimmung ändert nichts an dem Grundgedanken,
dass im Regelfall bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 BMT-AW II ein Anspruch auf Zahlung der
tariflichen Zuwendung in voller Höhe ohne Aufteilung nach der Dauer der Arbeitsleistung im Kalenderjahr besteht. Die
Ausnahmeregelung in § 47 Abs. 3 BMT-AW II rechtfertigt sich allein daraus, dass der Unterschied zwischen einem
der dort aufgeführten Tatbestände und einem nichtruhenden Arbeitsverhältnis so gewichtig ist, dass eine
unterschiedliche Behandlung nicht nur beim eigentlichen Arbeitsentgelt, sondern auch bei der Gewährung zusätzlicher
Leistungen gerechtfertigt ist (vgl. BAG, Urteil vom 22. Oktober 1997 -10 AZR 44/97- nicht veröffentlicht).
Die Klägerin hatte somit einen Anspruch auf Auszahlung der vollen tariflichen Zuwendung für das Jahr 2001 zwischen
dem 15. November und 15. Dezember 2001 (§ 47 Abs. 7 BMT-AW II). Dieser Zeitraum liegt vollständig innerhalb des
Insg-Zeitraumes vom 17. Oktober 2001 bis zum 16. Januar 2002. Da die Beklagte bislang lediglich drei Zwölftel der
jährlichen Zuwendung für 2001 beim Insg berücksichtigt hat, hat die Klägerin einen Anspruch auf Zahlung von
zusätzlichem Insg in Höhe von neun Zwölfteln des Nettobetrages der jährlichen Zuwendung für das Jahr 2001 (vgl. zur
Maßgeblichkeit der Nettobeträge § 185 Abs. 1 SGB III).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.