Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 03.04.2008
LSG Berlin und Brandenburg: altersrente, beratungspflicht, auskunft, nebenpflicht, hinweispflicht, befragung, versicherungsträger, entstehung, anerkennung, ausnahme
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 03.04.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Potsdam S 10 RJ 356/04
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 27 R 11/05
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 10. November 2004 aufgehoben,
soweit darin die Beklagte zu einer Rentenleistung vor dem 01. Januar 1999 verurteilt worden ist. Im Übrigen wird die
Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten
Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt den früheren Beginn einer Regelaltersrente.
Die 1931 geborene Klägerin bezog von der Beklagten ab dem 1. Juni 1991 eine Altersrente für Frauen. Aufgrund der
Anerkennung weiterer Beitragszeiten stellte die Beklagte mit Bescheid vom 19. April 1993 diese Rente neu fest und
wies die Klägerin in diesem Bescheid u. a. auch darauf hin, sie könne mit Vollendung des 65. Lebensjahres im Jahre
1996 einen Antrag auf Gewährung einer Altersrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres stellen. Ein Hinweis auf
Antragsfristen erfolgte nicht. Weitere Kontakte zwischen den Beteiligten bestanden bis zum Jahre 2003 nicht mit
Ausnahme einer Beratung der Klägerin über eine Geschiedenenwitwenrente im Jahre 1999, die keine Fragen einer
Regelaltersrente zum Gegenstand hatte.
Am 29. Dezember 2003 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Regelaltersrente ab dem 1. Juni 1996. Mit
Bescheid vom 22. Januar 2004 entsprach die Beklagte diesem Antrag ab dem 1. Dezember 2003. Gegen die
Festlegung dieses Rentenbeginns legte die Klägerin am 27. Januar 2004 Widerspruch ein, weil sie der Auffassung
war, die Rente müsse bereits ab dem 1. Juni 1996 gewährt werden. Mit Widerspruchsbescheid vom 22. März 2004
wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit der Begründung zurück, die Klägerin habe erst im Dezember 2003
einen Rentenantrag gestellt, weshalb die Rente auch erst ab diesem Monat gewährt werden könne. Hinweispflichten
seien durch die Beklagte nicht verletzt worden.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Potsdam mit Urteil vom 10. November 2004 die
angefochtenen Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, die Regelaltersrente der Klägerin ab dem 1. Juni 1996
neu festzustellen und auszuzahlen: Die Voraussetzungen einer höheren Rente wegen Alters hätten ab dem 1. Juni
1996 vorgelegen. Es habe auch entgegen der Auffassung der Beklagten keines erneuten Antrages seitens der
Klägerin bedurft, weil die Altersrente für Frauen und die Regelaltersrente als einheitlicher Anspruch anzusehen seien,
und die Klägerin einen solchen Rentenanspruch bereits besessen und eine Rente bezogen habe.
Gegen dieses ihr am 27. Dezember 2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 5. Januar 2005 Berufung zum
Landessozialgericht eingelegt. Sie macht geltend, durch die im Jahre 2004 erfolgte Neuregelung der §§ 33, 89
Sozialgesetzbuch/Sechstes Buch (SGB VI) habe der Gesetzgeber klargestellt, dass die Ansprüche auf Altersrente für
Frauen und auf Regelaltersrente nicht als einheitlicher Anspruch zu werten seien. Die Beklagte habe auch keine
Beratungs- oder Hinweispflichten verletzt, weil sie bereits in ihrem Bescheid aus dem Jahre 1993 die Klägerin
zutreffend informiert habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 10. November 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und sieht im Übrigen Beratungsfehler auf Seiten der Beklagten.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den
Beteiligten gewechselten Schriftsätze mit Anlagen, die Niederschrift zum Termin zur Erörterung des Sachverhalts mit
dem damaligen Berichterstatter vom 29. Juli 2005 sowie die Verwaltungsakten der Beklagten, welche im Termin zur
mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und auch in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Das
angefochtene Urteil war für den Leistungszeitraum vor dem 01. Januar 1999 aufzuheben, die Klage war insoweit
abzuweisen, weil der Klägerin für die Zeit vor dem 01. Januar 1999 kein Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung
einer Regelaltersrente zusteht.
1. Zwar hat das Sozialgericht in der angefochtenen Entscheidung im Ergebnis zu Recht einen früheren Beginn der
Regelaltersrente der Klägerin bejaht. Dieser folgt allerdings entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nicht aus der
Vorschrift des § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI, denn diese Vorschrift sieht in der Tat für den vorliegenden Fall nur den von
der Beklagten zugrunde gelegten Beginn der Regelaltersrente am 01. Dezember 2003 vor, weil die Klägerin erst im
Dezember 2003 einen Antrag auf Gewährung von Regelaltersrente gestellt hat und die Vorschrift des § 99 Abs. 1 Satz
2 SGB VI für diesen Fall einen Rentenbeginn mit dem ersten Tag des Monats der Antragstellung vorsieht.
Für den Beginn der Regelaltersrente war auch eine erneute – gesonderte – Antragstellung erforderlich, obwohl die
Klägerin bereits zuvor eine Altersrente für Frauen gemäß § 33 Abs. 2 Nr. 6 SGB VI bezog. Denn für jede gesonderte
Art einer Rente wegen Alters ist – um einen Anspruch auf Rentenbezug auszulösen – eine gesonderte Antragstellung
erforderlich. Dies folgt jedenfalls aus der rückwirkend zum 01. Januar 1992 vorgenommenen Klarstellung des
Bundesgesetzgebers durch Gesetz vom 21. 07. 2004 (BGBl. I S. 1791). Denn durch dieses Gesetz hat der
Bundesgesetzgeber die §§ 33 und 89 SGB VI in der Weise geändert, dass nunmehr – jeweils im Plural – von Renten
wegen Alters (in § 33 SGB VI) und von Ansprüchen auf Rente (in § 89 SGB VI) die Rede ist und hierdurch zugleich
klargestellt wird, dass die unterschiedlichen Renten bzw. Rentenansprüche wegen Alters als gesonderte Rechte und
Ansprüche zu sehen sind, die auch nur aufgrund jeweils gesonderter Anträge zur Entstehung gelangen.
2. Ein früherer Rentenbeginn als der von der Beklagten zugrunde gelegte 01. Dezember 2003 folgt jedoch aus dem
richterrechtlichen Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches. Der von der Rechtsprechung entwickelte
sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes
gerichtet, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder konkreten
Sozialrechtsverhältnisses der Versicherten gegenüber erwachsenden Haupt- oder Nebenpflichten, insbesondere zur
Auskunft und Beratung, ordnungsgemäß wahrgenommen hätte (BSG, Urteil vom 22. 10. 1996, 13 RJ 23/95, SozR 3-
2600 § 115 Nr. 1). Als derartige Pflicht, deren Verletzung grundsätzlich geeignet ist, einen sozialrechtlichen
Herstellungsanspruch zu begründen, kommt auch die aus § 115 Abs. 6 Satz 1 SGB VI resultierende Hinweispflicht in
Betracht (BSG aaO). Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten
Fällen darauf hinweisen, dass sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen. Ein solcher Hinweis des
Versicherungsträgers muss auch eine Mitteilung der Frist des § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI umfassen, da bei
Unkenntnis und Nichtbeachtung dieser Frist der endgültige Verlust des Anspruchs auf Rente für den zurückliegenden
Zeitraum droht (BSG aaO).
Diese Beratungspflicht hat die Beklagte vorliegend verletzt. In ihrem schriftlichen Hinweis in dem Bescheid vom 19.
April 1993 hat die Beklagte die Klägerin lediglich darauf hingewiesen, dass sie eine Regelaltersrente ab Vollendung
des 65. Lebensjahres erhalten könne, wenn sie diese beantrage. Es fehlte jedoch der erforderliche Hinweis auf die
Frist des § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI und den bei Nichtbeachtung dieser Frist drohenden endgültigen
Anspruchsverlust für die Vergangenheit.
Auch die weiteren Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches sind vorliegend erfüllt. So oblag die
verletzte Beratungspflicht der Beklagten auch gerade gegenüber der Klägerin, und die verletzte Beratungspflicht war
gezielt darauf gerichtet, die Klägerin gerade vor den eingetretenen Nachteilen des Anspruchsverlustes für die
Vergangenheit zu bewahren (Schutzzweckzusammenhang). Schließlich war die Pflichtverletzung auch ursächlich im
Rechtssinne für den eingetretenen Nachteil der Klägerin, denn sie hat – zumindest gleichwertig neben anderen
Bedingungen – den Nachteil des teilweisen Anspruchsverlusts bewirkt. Denn für den Senat steht nach eingehender
Befragung der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 03. April 2008 zweifelsfrei fest, dass die Klägerin
bei rechtzeitiger und vollständiger Beratung durch die Beklagte in jedem Falle einen neuen, gesonderten Antrag auf
Gewährung einer Regelaltersrente gestellt und dadurch den frühest möglichen Rentenbeginn (01. Juni 1996)
herbeigeführt hätte, denn die Klägerin hätte bei zutreffender Beratung die Bedeutung der rechtzeitigen und
gesonderten Antragstellung zweifelsfrei erkannt und rechtzeitig den für sie ausschließlich günstige Rechtsfolgen
auslösenden Rentenantrag gestellt.
Indessen kann trotz des hier gegebenen sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs die Regelaltersrente nicht vor dem
01. Januar 1999 verlangt werden, obwohl die Klägerin bereits im Mai 1996 das fünfundsechzigste Lebensjahr vollendet
hatte. Denn auch dann, wenn aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine Leistung rückwirkend
verlangt werden kann, gilt in entsprechender Anwendung des § 44 Abs. 4 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X)
eine Ausschlussfrist von vier Jahren zum Beginn des Kalenderjahres (BSG Urteil vom 27. März 2007, B 13 R 58/06
R, SozR 4-1300 § 44 Nr. 9). Dies folgt daraus, dass der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, der die Verletzung
einer Nebenpflicht eines Leistungsträgers – zum Beispiel auf Beratung – mit für den Leistungsträger nachteiligen
Rechtsfolgen belegt, nicht weiter reichen kann als der Anspruch nach § 44 Abs. 1 SGB X als Rechtsfolge der
Verletzung einer Hauptpflicht. Wäre § 44 SGB X auf den vorliegenden Fall unmittelbar anwendbar, so würden
Leistungen nach § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X beginnend ab dem Monat der Antragstellung rückwirkend für vier Jahre
bis zum Beginn des Kalenderjahres erbracht. Dies bedeutet für den vorliegenden Fall der entsprechenden Anwendung
des § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X, dass Leistungen – ausgehend von einer Antragstellung im Jahre 2003 – rückwirkend
bis zum 01. Januar 1999 zu erbringen und für die Zeit davor ausgeschlossen sind.
3. Im Übrigen war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass
für die Zeit ab dem 01. Januar 1999 die vom Sozialgericht der Sache nach ausgesprochene Leistungsverurteilung im
Ergebnis zu Recht erfolgt ist.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie berücksichtigt im Wege der
pflichtgemäßen Ausübung richterlichen Ermessens einerseits, dass die Klägerin mit dem deutlich überwiegenden Teil
ihres Begehrens erfolgreich geblieben ist, und andererseits, dass die Beklagte das Vorliegen eines sozialrechtlichen
Herstellungsanspruches schlechthin verneint hat.
Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil ein Grund hierfür nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.