Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 14.09.2005

LSG Berlin-Brandenburg: besondere härte, ausbildung, härtefall, asylbewerber, immatrikulation, universität, student, arbeitsunfähigkeit, zivilprozessordnung, erwerbstätigkeit

1
2
3
4
5
6
7
8
Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
23. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 23 B 1008/05 AY ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 2 Abs 1 AsylbLG, § 22 Abs 1 S
1 SGB 12, § 22 Abs 1 S 2 SGB
12, § 8 BAföG
(Asylbewerberleistung - Sozialhilfe nach längerer
Aufenthaltsdauer - Student - Anwendung des
Leistungsausschlusses nach § 22 Abs 1 S 1 SGB 12 - abstrakte
Förderungsfähigkeit nach BAföG - besonderer Härtefall)
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 14. September 2005 wird aufgehoben.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 01. September 2005 wird
zurückgewiesen.
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter
Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten bewilligt.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt für den
Antragsteller.
Der 1963 geborene Antragsteller, ein Staatsangehöriger K, reiste 1987 nach
Deutschland ein, um in B an der T Universität Maschinenbau zu studieren. Nach Ablauf
seiner Aufenthaltserlaubnis und vergeblichen Abschiebungsversuchen stellte er einen
Asylantrag, über den noch nicht rechtskräftig entschieden ist. Gemäß einer Auflage zu
seiner Aufenthaltsgestattung ist er verpflichtet, in einer Gemeinschaftsunterkunft in P zu
wohnen. Ihm ist nicht erlaubt, während des Asylverfahrens einem Studium oder einer
Erwerbstätigkeit nachzugehen und nach B zu reisen. Der Antragsteller ist noch immer –
inzwischen im 29. Semester - als Student der T Universität B immatrikuliert.
Die Antragsgegnerin gewährte dem Antragsteller Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz, zuletzt laufende Hilfe zum Lebensunterhalt analog
Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) für den August 2005. Mit Bescheid vom 10.
August 2005 lehnte die Antragsgegnerin es ab, dem Antragsteller vom 01. September
2005 an Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren, weil er noch immer an der T Universität
studiere und diese Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
(BAföG) dem Grunde nach förderungsfähig sei und damit entsprechend § 22 Abs. 1 SGB
XII der Anspruch auf Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen sei. Gegen diese Ablehnung
legte der Antragsteller mit Schreiben vom 26. August 2005 Widerspruch ein.
Am 01. September 2005 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Potsdam beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihm
bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens Hilfe zum Lebensunterhalt analog SGB
XII zu zahlen.
Die Antragsgegnerin hat unter Aufrechterhaltung ihrer Rechtsauffassung aus dem
Widerspruchsbescheid beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Mit Beschluss vom 14. September 2005 hat das Sozialgericht Potsdam die
Antragsgegnerin verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für den Zeitraum vom 01.
September 2005 bis zum 31. Oktober 2005 Hilfe zum Lebensunterhalt analog SGB XII zu
gewähren. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, der Anspruchsausschluss
entsprechend § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII greife nicht, weil der Antragsteller einem
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
entsprechend § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII greife nicht, weil der Antragsteller einem
öffentlich-rechtlichen Verbot zu studieren unterliege und mithin nur pro forma Student
sei. Dieses Studium sei nicht dem Grunde nach förderungsfähig, denn dies setze voraus,
dass die Förderung prinzipiell möglich sei. Das öffentlich-rechtliche Studierverbot stehe
einer Förderungsfähigkeit dem Grunde nach aber entgegen.
Gegen den am 15. September 2005 zugestellten Beschluss hat die Antragsgegnerin am
05. Oktober 2005 Beschwerde eingelegt. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII betreffe die
abstrakte Förderungsfähigkeit einer Ausbildung nach dem BAföG oder dem
Sozialgesetzbuch Drittes Buch - SGB III -, unabhängig von im konkreten Fall fehlenden
Voraussetzungen nach den einschlägigen gesetzlichen Regelungen. Studierende an
staatlichen Hochschulen seien stets dem Grunde nach BAföG berechtigt, sofern sie sich
in einem Vollstudiengang befinden, es sei denn, es liege eine Beurlaubung vor.
Anhaltspunkte für das Vorliegen eines besonderen Härtefalls im Sinne von § 22 Abs. 1
Satz 2 SGB XII seien nicht erkennbar. Der Antragsteller habe es in der Hand, die
Voraussetzungen für die Gewährung der Leistungen in entsprechender Anwendung des
SGB XII zu schaffen, indem er sich exmatrikuliere oder sich zumindest beurlauben lasse.
Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 14. September 2005 aufzuheben und
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 01. September 2005
zurückzuweisen.
Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen und ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner
Prozessbevollmächtigten zu gewähren.
Er hält den Beschluss des Sozialgerichts für zutreffend. Aufgrund des ihm auferlegten
Studienverbotes liege keine dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung vor. Da
wegen des Studienverbots nicht davon ausgegangen werden könne, dass er die Hilfe
zum Lebensunterhalt beantragt habe, um ein Studium durchführen und zu einem
Abschluss bringen zu können, würde es sich bei der Leistungsgewährung auch nicht um
eine versteckte Ausbildungsförderung auf zweiter Ebene handeln. Im Übrigen sei der
Ablehnungsbescheid ermessensfehlerhaft ergangen, weil die Antragsgegnerin nicht
geprüft habe, ob er wegen des ihm auferlegten Arbeitsverbots als Härtefall einzustufen
sei. Die Antragsgegnerin hätte sich auch mit der Frage befassen müssen, ob er
aufgrund seiner psychischen Erkrankung überhaupt als arbeitsfähig einzustufen sei.
Wäre dies nicht der Fall, wäre eine Kausalität zwischen Ausbildung und Hilfebedürftigkeit
nicht gegeben.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin verwiesen, die
vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht Potsdam hat die
Antragsgegnerin zu Unrecht im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu
Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt an den Antragsteller verpflichtet.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur
Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der
geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b
Abs. 2 Satz 3 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Maßgebend ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung.
Der Antragsteller hat schon einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Einem
Anspruch des Antragstellers auf Leistungen zum Lebensunterhalt in analoger
Anwendung der Vorschriften des SGB XII gemäß § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG) steht § 22 Abs. 1 SGB XII entgegen. Nach dieser Vorschrift haben
Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des BAföG dem Grunde nach
förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Eine Ausbildung ist
dann dem Grunde nach förderungsfähig, wenn sie abstrakt, d. h. unabhängig von in der
Person des Auszubildenden liegenden Ausschlussgründen, förderungsfähig ist.
Entscheidend ist allein, dass das Bundesausbildungsförderungsgesetz eine Ausbildung
20
21
22
23
24
Entscheidend ist allein, dass das Bundesausbildungsförderungsgesetz eine Ausbildung
als förderungsfähig erklärt (BVerwG FEVS 44, 138 m. w. N. zu § 26 BSHG). Bei dem
Hochschulstudium Maschinenbau handelt es sich um eine unter die Regelungen des
Bundesausbildungsförderungsgesetzes fallende dem Grunde nach förderungsfähige
Ausbildung. Darauf, dass die Aufnahme dieser Ausbildung dem Antragsteller
ausländerrechtlich verboten und er sowohl, weil er als Asylbewerber nicht unter den
begünstigten Personenkreis des § 8 BAföG fällt, als auch, weil er die maßgebliche
Förderungshöchstdauer überschritten hat, nicht gefördert werden könnte, kommt es
nicht an. Die Anwendung des § 22 Abs. 1 SGB XII wäre auch nicht ausgeschlossen, wenn
im Falle des Antragstellers lediglich eine „pro-forma-Immatrikulation“ vorläge. Denn ob §
22 SGB XII greift, ist allein nach den objektiven Verhältnissen (Immatrikulation) zu
beurteilen (OVG Lüneburg FEVS 48, 468 zu § 26 BSHG). An der Grundvoraussetzung für
eine Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz, dem Besuch einer
Ausbildungsstätte, fehlt es während des Bestehens der formalen Immatrikulation nur,
wenn und solange der Auszubildende von der Ausbildungsstätte beurlaubt ist (BVerwG,
Beschluss vom 25. August 1999 - 5 B 153/99 - juris).
Der Antragsteller kann auch die Ausnahmevorschrift des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII nicht
für sich in Anspruch nehmen. Nach dieser Vorschrift kann in besonderen Härtefällen Hilfe
zum Lebensunterhalt geleistet werden. Ein besonderer Härtefall ist aber auch unter
Berücksichtigung des den Antragsteller als Asylbewerber treffenden Arbeitsverbotes
nicht erkennbar. Ob eine besondere Härte gegeben und ein Ermessen des
Leistungsträgers überhaupt eröffnet ist, unterliegt der vollen gerichtlichen Nachprüfung.
Ein besonderer Härtefall liegt nach der zu § 26 Satz 2 BSHG ergangenen
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur dann vor, wenn die Folgen des
Anspruchsausschlusses nach Satz 1 der Vorschrift über das Maß hinausgehen, das
regelmäßig mit der Versagung von Hilfe zum Lebensunterhalt für eine Ausbildung
verbunden ist, und auch mit Rücksicht auf den Gesetzeszweck, die Sozialhilfe von den
finanziellen Lasten einer Ausbildungsförderung freizuhalten, als übermäßig hart
erscheinen (BVerwGE 94, 224). Ein danach erforderlicher atypischer Fall liegt jedoch
nicht vor. Vielmehr entspricht der Ausschluss von Sozialleistungen für die Ausbildung der
bewussten gesetzlichen Wertung, dass Asylbewerbern auf dem Gebiet der
Ausbildungsförderung nicht dieselben Rechte wie Deutschen oder anerkannten
Asylberechtigten gewährt werden. Die Beschränkung der Ausbildungsförderung auf den
Personenkreis des § 8 BAföG, also zwar auf anerkannte Asylberechtigte, nicht aber auf
Asylbewerber, denen regelmäßig eine Erwerbstätigkeit ausländerrechtlich untersagt ist,
stellt eine bewusste gesetzgeberische Entscheidung dar, die nicht über die Anwendung
des § 22 Abs 1 Satz 2 SGB XII auf diese Fälle unterlaufen werden darf (vgl. OVG Saarlouis
FEVS 38, 116 m.w.N.).
Eine besondere Härte könnte sich allenfalls aus zusätzlichen Gesichtspunkten ergeben.
Solche hat der Antragsteller aber nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Insbesondere
hat er eine von seiner Prozessbevollmächtigten als Frage aufgeworfene
Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht im Ansatz glaubhaft
gemacht. Den Verwaltungsvorgängen lässt sich insoweit lediglich entnehmen, dass der
Antragsteller nach Einschätzung seines Hausarztes, eines Facharztes für
Allgemeinmedizin, an einer depressiven Entwicklung leide, die durch die Art seiner
Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft und die dortigen Mitbewohner
verursacht werde. Der Antragsteller sei daher Ende März 2005 zur Weiterbehandlung an
die Psychiatrie/Neurologie überwiesen worden. Eine Arbeitsunfähigkeit des Antragstellers
ist hiermit weder vorgetragen noch gar glaubhaft gemacht.
Dem Antragsteller ist für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen (§
73 a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -, § 114 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Dabei kommt es auf die Erfolgsaussichten seiner Rechtsverfolgung nicht an, da er in
erster Instanz obsiegt und der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat (§ 119 Abs. 1 Satz
2 ZPO).
Die Kostenentscheidung findet ihre Grundlage in § 193 SGG.
Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum