Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 28.10.2009
LSG Berlin-Brandenburg: verordnung, vertragsarzt, echte rückwirkung, innere medizin, beratung, dosierung, verfügung, regress, ermessensausübung, therapie
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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg 7.
Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 7 KA 119/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 106 SGB 5, § 54 SGG, § 114
VwGO
Leitsatz
1. Eine eingeschränkte Einzelfallprüfung kann auch dann zulässig sein, wenn ein statistischer
Vergleich von Arzneimittelverordnungen (hier: für selektive ß-Blocker) das Aufgreifkriterium
bildet.
2. Beanstanden die Prüfgremien, dass der Vertragsarzt ein bestimmtes Arzneimittel
verordnet hat, obwohl therapeutisch gleichwertige, jedoch preiswertere Arzneimittel zur
Verfügung gestanden hätten, steht ihnen bei der Prüfung der Unwirtschaftlichkeit kein -
gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer - Beurteilungsspielraum zu.
Die Prüfung der Unwirtschaftlichkeit erfolgt wirkstoffbezogen.
3. Über die Rechtsfolge der Unwirtschaftlichkeit treffen die Prüfgremien eine
Ermessensentscheidung, in deren Rahmen in einem ersten Schritt der beanstandeten
Verordnung ein konkret zu bezeichnendes Alternativpräparat (und nicht nur ein Wirkstoff)
gegenüberzustellen und die therapeutische Gleichwertigkeit beider Arzneimittel durch einen
auf den betroffenen Versicherten bezogenen Vergleich möglicher Nebenwirkungen sowie ggf.
pharmakodynamischer und -kinetischer Eigenschaften zu klären ist.
Erweisen sich beide Arzneimittel als therapeutisch gleichwertig, ist in einem zweiten Schritt
anhand eines Wirkstärkenvergleichs zu prüfen, welches Arzneimittel preiswerter ist. Weitere
Umstände des Einzelfalls, wie z.B. Besonderheiten der Dosierung oder der bereits erfolgte
Einsatz weiterer Alternativpräparate, können Berücksichtigung verlangen.
In einem dritten Schritt ist schließlich zu prüfen, ob im Hinblick auf eine als ausreichend
erachtete Beratung von der Festsetzung eines Regresses abzusehen ist oder ob bei der
Entscheidung über die Höhe des Regresses weitere Besonderheiten des Einzelfalls (z.B.
Unsicherheit über die Schadenshöhe, Anfängerpraxis) zu berücksichtigen sind.
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Mai 2006
(betreffend G S) wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um einen Regress wegen der Verordnung des Arzneimittels
Nebilet im Quartal III/03.
Die Klägerin nimmt als Fachärztin für Innere Medizin an der vertragsärztlichen
Versorgung im Bezirk B (Ortsteil B) teil. Sie verordnete ihrer bei der Beigeladenen zu 2)
krankenversicherten, 1947 geborenen Patientin G S (im Folgenden: die Versicherte) zur
Behandlung eines arteriellen Hypertonus mit Tachykardie, inneren Unruhezuständen und
Schlafstörungen am 22. August 2003 das Arzneimittel Nebilet 50 Tbl. (Packungsgröße N
2). Ausweislich der Fachinformation (Stand: März 2001) war dieses Arzneimittel, ein
selektiver β-Rezeptorenblocker, damals zur Behandlung der essenziellen Hypertonie
zugelassen und enthält als Wirkstoff 5 mg Nebivolol (als Nebivololhydrochlorid). Nach
Auffassung des pharmazeutischen Herstellers unterscheidet sich der Wirkmechanismus
von Nebivolol wesentlich von den Wirkmechanismen anderer β-Rezeptorenblocker wie
z.B. Bisoprolol und Metoprolol. Deren Wirkung beschränke sich darauf, dem Anstieg von
Blutdruck und Herzfrequenz entgegen zu wirken, indem sie an die β-1-Rezeptoren
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Blutdruck und Herzfrequenz entgegen zu wirken, indem sie an die β-1-Rezeptoren
anbänden. Der pharmakologische Effekt von Nebivolol gehe darüber hinaus, weil es
gleichzeitig - nach Ziffer 5.1 der o.g. Fachinformation allerdings nur milde -
vasodilatierend (gefäßerweiternd) und somit ebenfalls blutdrucksenkend wirke (vgl.
Beschluss des Senats vom 19. Dezember 2008, Az.: L 9 B 192/08 KR ER, veröffentlicht in
Juris).
Mit am 17. Juni 2004 beim Prüfungsausschuss eingegangenen Schreiben stellte die
Beigeladene zu 2) einen „Antrag auf Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der
Verordnungsweise nach § 106 SGB V und § 25 Abs. 1 der Prüfvereinbarung“ wegen der
o.g. Verordnung der Klägerin. Zur Begründung führte die Beigeladene zu 2) aus:
„Die Auswertung der Verordnungen von Betablockern im 3. Quartal 2003 hat
ergeben, dass in der Arztpraxis mehr als 15 % der Verordnungen auf das kostspielige
Präparat Nebilet (Wirkstoff Nebivolol) entfielen, obwohl preiswertere, therapeutisch
gleichwertige Alternativen zur Verfügung standen.
Damit liegt der Verordnungsanteil mehr als 100 % über dem Durchschnitt, den die
Berliner Ärzte bei den Betablockern erreichten.
Bei Zugrundelegung von mehr als 70 % der GKV-Verordnungen in Berlin im
angesprochenen Quartal hat sich gezeigt, dass bei den drei Betablockern Atenolol,
Metoprolol und Nebivolol insgesamt der Anteil der Nebivolol-Verordnungen 7,4 %
ausmacht.
Nebivolol ist nach der Bewertung im Arzneiverordnungsreport (AVR 2003, S. 359),
nur als Analogpräparat mit dreifach höheren Therapiekosten als Atenolol zu betrachten’.
Für die zusätzlichen vasodilatierenden Eigenschaften dieses langwirkenden
Betablockers wurden signifikante Unterschiede in der blutdrucksenkenden Wirkung und
im peripheren Widerstand nicht nachgewiesen. Eine klinische Überlegenheit gegenüber
vergleichbaren Betablockern, z. B. Atenolol, ist durch Studien nicht belegt.
Auch die von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft im Jahr 1998
veröffentlichten Empfehlungen zur Therapie der arteriellen Hypertonie, welche der
Vertragsarzt zu beachten hat, gaben keinen Hinweis auf besondere Eigenschaften des
Nebivolols.
Die Therapie mit Nebivolol ist in allen Packungsgrößen unwirtschaftlicher als mit den
genannten vergleichbaren Betablockern, die auch als preisgünstige Generika zur
Verfügung stehen.
Daher ist für eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis
entsprechende Therapie die Verordnung von Nebivolol weder notwendig noch
wirtschaftlich. Sie stellt somit einen Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot nach §
12 SGB V dar.
Auf diese Zusammenhänge und die Alternativen haben die Berliner Krankenkassen
gemeinsam mit der KV Berlin in den letzten Jahren mehrmals hingewiesen.
Wir beantragen daher, ein Schadenersatzverpflichtung in Höhe von 161,80 €
festzusetzen. Die Einzelheiten sind aus der Anlage zu entnehmen.“
In ihrer vom Prüfungsausschuss veranlassten Stellungnahme vom 11. Juli 2004 gab die
Klägerin bzgl. der Versicherten zusätzlich zu den bereits genannten Diagnosen an:
„Bezüglich der bekannten Schlafstörungen wurde kein Therapieversuch mit
Metoprolol eingeleitet, da hier wie auch bei verschiedenen anderen β-Blockern durch die
Lipophilie dieser Medikamente diese Schlafstörungen unterhalten und auch Alpträume
ausgelöst werden können. Der Einsatz von Nebivolol erfolgte daraufhin in geringer
Dosierung (1 x ½ Tbl./d) (siehe NW von Metoprolol).
Zum anderen berichtete Frau S bereits unter einem Therapieversuch mit 1 x 1
Nebilet über Kreislaufprobleme und Schwindel.
Hier kann aus eigener Erfahrung mit verschiedensten β-Blockern (so auch
Metoprolol, Atenolol, Bisoprolol) bestätigt werden, dass es häufig zu einer starken
Absenkung der Frequenz, insbesondere während der Nachtphasen kommt. Diese
Bradykardien lösen eine Kreislaufdepression aus und bedingen häufig cerebrale
Minderdurchblutungen. Nebivolol zeigt hier ein moderates Verhalten bezüglich der HF-
Reduktion.
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Schließlich fühlte sich die Patientin unter dem Einsatz von Nebilet gut. Auch die
Resultate vom LZ-EKG waren optimal.“
Mit Beschluss vom 04. Oktober 2004 setzte der Prüfungsausschuss „gemäß § 25 der
Prüfvereinbarung vom 20.06.2003 [….] eine Schadensersatzverpflichtung in Höhe von €
66,52 fest“ und führte zur Begründung u.a. aus: Bei drei Patientinnen der Klägerin, u.a.
der Versicherten, sei Nebilet in der Primärtherapie eingesetzt worden, d.h., die Klägerin
habe, um evtl. Nebenwirkungen zu vermeiden, das Präparat verordnet, ohne vorher
einen Therapieversuch mit einem wirtschaftlicheren Medikament durchzuführen. Dies sei
nicht nachvollziehbar, weil die in den Fachinformationen angegebenen
Kontraindikationen Nebenwirkungen und Anwendungsbeschränkungen für alle β-
Rezeptorenblocker gleichermaßen gälten. Den auf die Versicherte entfallende
Schadensbetrag in Höhe von 22,17 € errechnete der Prüfungsausschuss aus der
Nettodifferenz zwischen Nebilet und dem Referenzwirkstoff Bisoprolol bei der
verordneten Packungsgröße N 2, da dieses Präparat der Wirkungsweise von Nebilet am
nächsten komme.
Gegen diese Entscheidung erhoben sowohl die Klägerin als auch die Beigeladene zu 1)
Widerspruch. Die Klägerin brachte im Widerspruchsverfahren vor, wegen der bei der
Versicherten bestehenden erheblichen Verträglichkeitsproblemen mit Wirkstoffen der β-
Blocker habe ein Wirkstoff gewählt werden müssen, der neben der β-Blockade über einen
zweiten Wirkmechanismus verfüge. Nebivolol sei der einzige Wirkstoff, der neben der
Blockade von β-Rezeptoren über einen zweiten Mechanismus (Stimulation der
endothelialen NO-Freisetzung) verfüge und darüber eine nachhaltige Vasodilatation und
Blutdrucksenkung bewirke. Somit sei die Verordnung von Nebivolol bei der Versicherten
alternativlos gewesen, der vom Prüfungsausschuss geforderte Therapieversuch mit
Bisoprolol hätte einen Behandlungsfehler dargestellt.
Mit Beschluss vom 02. Juni 2005 wies der Beklagte den Widerspruch der Beigeladenen zu
1) zurück, da diese nicht Beteiligte an dem nach § 25 Prüfvereinbarung (PV)
durchgeführten Verfahren sei und mangels Verletzung eigener Rechte auch nicht hätte
beteiligt werden müssen. Zugleich änderte der Beklagte auf den Widerspruch der
Klägerin den Beschluss des Prüfungsausschusses vom 4. Oktober 2004 insoweit ab, als
eine Ersatzverpflichtung in Höhe von 44,34 € festgesetzt werde. Während sich bezüglich
der Patientin I S. die medizinische Notwendigkeit der Verordnung von Nebilet aus dem
Gesamtkrankheitsbild ergebe, seien für die Versicherte sowie eine weitere Patientin
weitere sich auf den Einsatz des beanstandenden Präparates Nebilet beziehende
Diagnosen bzw. Informationen auch nach Hinzuziehung der jeweiligen
Behandlungsscheine nicht zu entnehmen.
Im Klageverfahren hat die Klägerin geltend gemacht, dass dem Rechtsstreit
grundsätzliche Bedeutung zukomme. Die Besonderheit liege darin, dass hier nicht die
antragstellende Krankenkasse nach interner Prüfung zu der Überzeugung gelangt sei,
eine unwirtschaftliche Verordnung habe im Einzelfall vorgelegen. Stattdessen nutzten
nach der früheren BKK Berlin (heute: City BKK) nun auch 3 Ersatzkassen das Verfahren
der Überprüfung der Wirtschaftlichkeit im Einzelfall, um ohne konkrete Informationen
zum Einzelfall sämtliche Verordnungen bestimmter Fertigarzneimittel unter Regress zu
stellen. Durch die Einleitung dieser Regressverfahren seien die Ärzte trotz der
vergleichsweise geringen Regressdrohung gezwungen, ihre Verordnungsweise im
Einzelfall darzulegen. Da sämtliche Nebivolol-Verordnungen unter Regressdrohung
gestellt würden, käme auf die betroffenen Vertragsärzte regelmäßig ein enormer
Arbeitsaufwand zu. Da die mit dem umfangreichen Prüfverfahren einhergehenden
Kosten in keinem Verhältnis zum möglichen Regressbetrag stünden, erkläre sich die
Vorgehensweise der Krankenkassen allein so, dass durch Verursachung von Mehrarbeit
bei den Ärzten von der Verordnung von Nebivolol abgeschreckt werden solle. Es gehe
also weniger um die Überprüfung einer Unwirtschaftlichkeit im Einzelfall als vielmehr um
einen Verdrängung so genannter Analogpräparate (noch unter Patentschutz stehende
Arzneimittel mit „analogen“ Wirkungen wie die älteren Präparate derselben
Medikamentenklasse). Durch eine neuerliche Antragswelle der Krankenkassen im
Sommer 2005 habe sich die Bedeutung der Angelegenheit dramatisch verschärft.
Der Bescheid des Beklagten sei aus mehreren Gründen rechtswidrig. Zum einen sei die
vom Beklagten in Bezug genommene Prüfvereinbarung vom 20. Juni 2003 erst im
August 2003 im KV-Blatt veröffentlicht worden und könne daher nur Sachverhalte
erfassen, die sich nach dem August 2003 ereignet hätten. Soweit § 28 Abs. 1 Satz 1 der
PV vom 20. Juni 2003 das Inkrafttreten dieser Vereinbarung zum 01. Oktober 2002
anordne, liege eine verfassungswidrige echte Rückwirkung vor, da in einen
abgeschlossenen Sachverhalt eingegriffen werde. Der Antrag der Beigeladenen zu 2)
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abgeschlossenen Sachverhalt eingegriffen werde. Der Antrag der Beigeladenen zu 2)
hätte daher als rechtsmissbräuchlich zurückgewiesen werden müssen. Darüber hinaus
beeinträchtige die Einleitung eines Wirtschaftlichkeitsprüfverfahrens den betroffenen
Vertragsarzt in seiner Berufsfreiheit, weil er unabhängig vom Ausgang des Verfahrens
jedenfalls durch seine Mitwirkungspflichten belastet werde. Aber auch sämtliche
Vertragsärzte sowie die Versicherten würden durch die Auslösung von
kostenverursachenden Prüfverfahren finanziell belastet und damit ebenfalls in ihren
Grundrechten beeinträchtigt. Ohne konkrete Anhaltspunkte, quasi „ins Blaue hinein“
gestellte Prüfanträge seien unzulässig. Die Möglichkeit, evtl. einzelne unwirtschaftliche
Verordnungen dadurch herauszufiltern, dass sämtliche Arzneimittelverordnungen dem
Pauschalverdacht der Unwirtschaftlichkeit unterworfen werden, sei kein von § 106
Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) verfolgtes Ziel. Auch wenn konkrete
Anhaltspunkte fehlten, könne die Unwirtschaftlichkeit bei der Verordnungsweise durch
andere nach § 106 SGB V vorgesehene Instrumentarien, insbesondere die
Richtgrößenprüfung, geprüft werden. Entgegen der Darstellung der Beigeladenen zu 2)
entfielen von den gesamten β-Blocker-Verordnungen der Klägerin im Quartal III/03 nur
10,9 % auf Nebilet. Dieses Arzneimittel überschreite damit den von der Beigeladenen zu
2) behaupteten Durchschnittsanteil der Nebivolol-Verordnungen an den β-Blocker-
Verordnungen in Höhe von 7,4 % nur um 40 %, was für eine auf die Behandlung von
Herz-Kreislauf-Erkrankungen spezialisierte Fachärztin eher wenig erscheine. Schließlich
sei die Mitwirkung von Herrn W S als Vertreter der Krankenkassen an der Entscheidung
des Beklagten gemäß § 3 Abs. 3 PV i.V.m. § 17 Abs. 2, § 16 Abs. 4 Sozialgesetzbuch
Zehntes Buch (SGB X) verfahrensfehlerhaft, weil Herr S gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 SGB X
nicht geeignet gewesen sei, an der Entscheidung mitzuwirken. Da Herr S an der
Erarbeitung des Konzepts zum flächendeckenden Angriff auf Analogpräparate
maßgeblich beteiligt gewesen sei, liege ein Grund vor, der geeignet sei, Misstrauen
gegen eine unparteiische Amtsausübung zu rechtfertigen. Er habe die standardisierten
Formulierungen in den Anträgen der BKK Berlin, denen sich einzelne andere
Krankenkassen für spätere Quartale angeschlossen hätten, ausgearbeitet und
zahlreiche Widerspruchsbegründungen in durch Anträge der BKK Berlin eingeleiteten
Prüfverfahren verfasst. Der Prüfantrag vom 17. Juni 2004 verstoße jedoch auch gegen
die in § 25 Abs. 2 Satz 2 PV geregelte Bagatellgrenze von 50,00 € je
Arzneimittelverordnung. Der Prüfantrag sei ferner unbegründet, weil die Auffassung, vor
dem Einsatz eines teureren Arzneimittels sei ein Therapieversuch mit einem billigeren
Arzneimittel durchzuführen, rechtlich nicht haltbar sei. Sei das teurere Präparat aus
medizinischen Gründen notwendig, die die Preisdifferenz überwögen, so sei die
Verordnung wirtschaftlich, ohne dass es eines vorhergehenden Therapieversuchs mit
einem billigeren Präparat bedürfe. Die im Widerspruchsverfahren vorgelegte
Ausarbeitung der abstrakten Unterschiede zwischen Nebivolol und Atenolol belege, dass
in Einzelfällen eine Verordnung von Nebivolol statt Atenolol wirtschaftlich, weil
medizinisch notwendig sein könne. Vor dem Hintergrund von § 106 Abs. 5 Satz 2 SGB V,
wonach gezielte Beratungen weiteren Maßnahmen in der Regel vorangehen sollten, sei
die angegriffene Entscheidung auch ermessensfehlerhaft. Die Verordnung von sieben
unterschiedlichen β-Blockern im streitigen Quartal III/03 belege, dass die Klägerin eine
patientenindividuelle Auswahl treffe. Außerdem lasse sich den Frühwarndaten für das
Quartal III/03 entnehmen, dass die Klägerin die Arzneimittelrichtgröße um über 73 %
unterschreite, was die kostenbewusste und wirtschaftliche Verordnungsweise der
Klägerin verdeutliche.
Mit Urteil vom 31. Mai 2006 hob das Sozialgericht den Bescheid des Beklagten vom 02.
Juni 2005 auf und führte zur Begründung aus, eine Einzelfallprüfung bezüglich der
Verordnung zugunsten der Versicherten habe mangels Anhaltspunkten für eine
Unwirtschaftlichkeit sowie wegen Unterschreitens der Bagatellgrenze nicht durchgeführt
werden dürfen.
Gegen dieses ihm am 31. Oktober 2006 zugestellte Urteil richtet sich die am 15.
November 2006 eingelegte, vom Sozialgericht zugelassene Berufung des Beklagten, zu
dessen Begründung er ausführt: Das Sozialgericht habe die Frage der Zulässigkeit eines
Antrages mit dessen Begründetheit verknüpft. Auch seine Ausführungen zur so
genannten Bagatellgrenze seien rechtsirrig. Sowohl § 24 Abs. 3 PV als auch § 25 Abs. 2
PV knüpften an § 51 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) an. Dort heiße es, dass der
Schadensbetrag pro Vertragsarzt, Krankenkasse und Quartal über der Bagatellgrenze
liegen müsse. Als Alternativmedikament werde Bisoprolol-ratiopharm 10 benannt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Mai 2006 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Dass § 24 Abs. 3 und § 25 Abs. 2 PV
an § 51 BMV-Ä anknüpften, sei sowohl wegen der andersartigen Formulierung als auch
der unterschiedlichen Höhe der Bagatellgrenze (25,26 € nach § 51 BMV-Ä) sehr
unwahrscheinlich.
Die Beigeladenen stellen keine Anträge und äußern sich nicht zur Sache.
Mit Beschluss vom 31. Juli 2007 hat der Senat das Verfahren vom ursprünglich auch die
Patientin C P betreffenden Rechtsstreit L 7 KA 131/06 abgetrennt und unter dem
hiesigen Aktenzeichen fortgeführt.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens
der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die
Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Sozialgericht
den Bescheid des Beklagten vom 2. Juni 2005 aufgehoben, denn dieser erweist sich als
rechtswidrig.
I.
Einer Entscheidung des Senats steht nicht entgegen, dass das Sozialgericht Berlin im
Rechtsstreit S 79 KA 260/05 mit rechtskräftigem Urteil ebenfalls vom 31. Mai 2006 auf
eine Klage der hiesigen Beigeladenen zu 1) hin den (auch im hiesigen Rechtsstreit)
angegriffenen Bescheid des Beklagten vom 2. Juni 2005 aufgehoben hat. Obwohl der
Antrag der dortigen Klägerin auf vollständige Aufhebung dieses Bescheids gerichtet war
und der Urteilstenor eine nur eingeschränkte Aufhebung des Bescheids nicht erkennen
lässt, ist aufgrund einer sachgerechten Auslegung des Urteils und des dortigen
klägerischen Vorbringens davon auszugehen, dass eine Aufhebung des Bescheids vom
2. Juni 2005 nur insoweit erfolgen sollte, als dieser die dortige Klägerin durch
Zurückweisung ihres Widerspruchs wegen Unzulässigkeit beschwerte.
II.
Rechtsgrundlage des Bescheids vom 2. Juni 2005 sind § 106 Abs. 2 und 3 SGB V in der
vom 1. Januar 2004 bis zum 7. November 2006 geltenden, hier maßgeblichen Fassung
(alte Fassung - a.F.) i.V.m. § 25 („Prüfung in besonderen Fällen“) der zwischen der
Beigeladenen zu 2) und den (Landes-)Verbänden der Krankenkassen im Land Berlin
abgeschlossenen Prüfvereinbarung (PV) vom 20. Juni 2003.
Nach § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung geprüft durch
1. arztbezogene Prüfung ärztlich verordneter Leistungen bei Überschreitung der
Richtgrößenvolumina nach § 84 SGB V (Auffälligkeitsprüfung),
2. arztbezogene Prüfung ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen auf der
Grundlage von arztbezogenen und versichertenbezogenen Stichproben, die mindestens
2 vom Hundert der Ärzte je Quartal umfassen (Zufälligkeitsprüfung).
Die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen können
gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen über die in Satz 1
vorgesehenen Prüfungen hinaus Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter
Leistungen nach Durchschnittswerten oder andere arztbezogene Prüfungsarten
vereinbaren (§ 106 Abs. 2 Satz 4, 1. Halbsatz SGB V). Nach Abs. 3 Sätze 1 und 3 dieser
Vorschrift vereinbaren die in Absatz 2 Satz 4 genannten Vertragspartner Inhalt und
Durchführung u.a. der Prüfung der Wirtschaftlichkeit nach Absatz 2 gemeinsam und
einheitlich. In den Verträgen ist auch festzulegen, unter welchen Voraussetzungen
Einzelfallprüfungen durchgeführt und pauschale Honorarkürzungen vorgenommen
werden; festzulegen ist ferner, dass der Prüfungsausschuss auf Antrag der
Kassenärztlichen Vereinigung, der Krankenkasse oder ihres Verbandes
Einzelfallprüfungen durchführt.
Hierauf gestützt vereinbarten die o.g. Vertragspartner auf Landesebene in § 25 PV
folgendes:
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„1. Auf Antrag der Krankenkassen bzw. ihrer Verbände oder der KV Berlin prüfen die
Prüfgremien auch, ob der Vertragsarzt in Einzelfällen
a) unwirtschaftliche Behandlungsleistungen abgerechnet oder veranlasst hat,
b) unwirtschaftliche Verordnungen von Leistungen vorgenommen hat.
2. Die Anträge sind zu begründen und haben die Höhe der als unwirtschaftlich
abgerechnet bzw. veranlasst vermuteten Kosten anzugeben. Anträge sind nur zulässig,
wenn die durch die Begründung geltend gemachte Unwirtschaftlichkeit mindestens
50,00 € beträgt. Die Anträge sind innerhalb einer Frist von 9 Monaten nach Ablauf des
Quartals zu stellen, in dem der vom Antrag erfasste Sachverhalt aufgetreten ist.
3. Hält das Prüfgremium den Antrag für ganz oder teilweise begründet, setzt es den
vom Vertragsarzt zu leisteten Erstattungsbetrag fest.“
Der Bescheid des Beklagten erweist sich als rechtswidrig. Zwar liegen die
tatbestandlichen Voraussetzungen für eine auf § 25 Nr. 1 b PV gestützte
Erstattungsforderung des Beklagten vor. Der Beklagte hat jedoch das ihm zustehende
Ermessen nicht ausgeübt.
1. Zutreffend hat der Beklagte den angefochtenen Bescheid allerdings auf § 25 PV
gestützt. Diese Vereinbarung wurde unstreitig in dem von der Beigeladenen zu 1)
herausgegebenen Mitteilungsblatt (KV-Blatt) des Monats August 2003 veröffentlicht und
den Vertragsärzten bekannt gegeben. Da dieses Mitteilungsblatt jeweils am Ersten des
Monats erscheint (vgl. www.kvberlin.de/40presse/30KVBlatt/Mediadaten 2007.pdf), war
der Klägerin bei ihrer Verordnung am 22. August 2003 (nicht - wie das Sozialgericht
angenommen hat - am 20. Oktober 2003) diese Regelung bekannt. Eine Rückwirkung
liegt somit nicht vor.
2. Nach dem dem Senat bekannten Sachverhalt ist die Durchführung einer -
eingeschränkten, d.h. die von der Klägerin angegebenen Diagnosen als zutreffend
unterstellenden (BSG, Urteil vom 21. Juni 1995, Az.: 6 RKa 43/94 = BSGE 77, 53) -
Einzelfallprüfung durch den Beklagten nicht zu beanstanden. Einzelfallprüfungen sind
insbesondere dann sachgerecht - und ihre Auswahl daher rechtmäßig -, wenn das
individuelle Vorgehen eines Arztes in einem bestimmten Behandlungsfall hinsichtlich des
Behandlungs- und Verordnungsumfangs am Maßstab des Wirtschaftlichkeitsgebots
überprüft werden soll (BSG, Urteile vom 5. November 2008, Az.: B 6 KA 63/07 R und B 6
KA 64/07 R, und vom 6. Mai 2009, Az.: B 6 KA 3/08 R, aller veröffentlicht in Juris). Zwar
könnte das von der Beklagten zu 2) gewählte Aufgreifkriterium - der statistische
Vergleich der Verordnung von β-Blockern - eine Prüfung nach Durchschnittswerten nahe
legen. Die u.U. vorrangige statistische Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten
(BSG, Urteil vom 28. Juni 2000, Az.: B 6 KA 36/98, veröffentlicht in Juris m.w.N.) hätte
allerdings vorausgesetzt, dass die beim geprüften Arzt zugrunde gelegte Fallzahl
mindestens 20 % der durchschnittlichen Fallzahl je Arzt (BSG a.a.O. m.w.N.) innerhalb
einer aus mindestens sieben Kollegen bestehenden Vergleichsgruppe (BSG, Urteil vom
23. Februar 2005, Az.: B 6 KA 72/03, veröffentlicht in Juris) beträgt. Dies war anhand der
dem Senat mitgeteilten Daten nicht zu beurteilen. Eine als Alternative ebenfalls in
Betracht kommende Richtgrößenprüfung hätte sämtliche Arzneimittelverordnungen der
Klägerin innerhalb eines Jahres zum Gegenstand gehabt, jedoch die quartalsbezogene
Prüfung, ob die Verordnung bestimmter Arzneimittel bzw. Wirkstoffe wirtschaftlich
erfolgte, gerade nicht ermöglicht.
3. Die streitgegenständliche Verordnung vom 22. August 2003 war unwirtschaftlich i.S.v.
§ 25 PV.
Grundsätzlich gilt das Wirtschaftlichkeitsprinzip in der Gesetzlichen Krankenversicherung
auch im Verhältnis zweier therapeutisch gleichwertiger, aber unterschiedlich teurer
Arzneimittel. Dies zählt als sog. Minimalprinzip schon seit der Einführung von § 368 p
Reichsversicherungsordnung zum 01. Januar 2005 zu den Kernbestandteilen des
Wirtschaftlichkeitsgebots im engeren Sinne (BSG, Urteil vom 31. Mai 2007, Az.: B 6 KA
13/05 R - „Clopidogrel“ -, veröffentlicht in Juris) und ist vom Vertragsarzt bei der Auswahl
der Präparate zu beachten (BSG, Beschluss vom 31. Mai 2006, Az.: B 6 KA 68/05 B;
Urteil vom 20. Oktober 2004, Az.: B 6 KA 41/03 R, beide veröffentlicht in Juris).
Im Rahmen der Prüfung, ob die Verordnung eines Arzneimittels unwirtschaftlich war, ist
dem Beschwerdeausschuss kein Beurteilungsspielraum eingeräumt. Zwar besteht für
die Prüfgremien bei einer statistischen Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten
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die Prüfgremien bei einer statistischen Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten
(BSG, Urteil vom 27. Juni 2007, Az.: B 6 KA 27/06 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.) oder
einer Richtgrößenprüfung (BSG, Urteil vom 2. November 2005, Az.: B 6 KA 63/04 R,
veröffentlicht in Juris, m.w.N.) ein eingeschränkter Beurteilungsspielraum. Bei einem
Einzelverordnungsregress kann die Frage der Unwirtschaftlichkeit jedoch regelmäßig nur
bejaht oder verneint werden (BSG, Urteile vom 5. November 2008 und vom 6. Mai 2009,
a.a.O.)
Unwirtschaftlich ist eine Arzneimittelverordnung schon dann, wenn anstelle des
verordneten Wirkstoffes ein preiswerterer, therapeutisch generell gleichwertiger Wirkstoff
zur Verfügung steht. Der Senat stellt insofern bewusst auf den abstrakten, d.h. losgelöst
von der betroffenen Versicherten vorgenommenen Vergleich von Wirkstoffen ab. Zwar
könnte auch bereits auf dieser ersten Prüfungsstufe ein Vergleich konkreter Arzneimittel
vorgenommen werden. Dem steht jedoch zum einen entgegen, dass hierfür in der
Entscheidung des Beschwerdeausschusses ein konkretes Alternativpräparat benannt
werden müsste. Sollte sich dieses im Laufe des Gerichtsverfahrens - z.B. wegen
Kontraindikationen oder Nebenwirkungen im Hinblick auf weitere Erkrankungen der
konkreten Versicherten - als ungeeignet herausstellen, hätten die Gerichte der
Sozialgerichtsbarkeit wegen des fehlenden Beurteilungsspielraums bei der Prüfung der
Unwirtschaftlichkeit selbst zu ermitteln, welches der generell in Betracht kommenden
Alternativpräparate im konkreten Fall vorzugswürdig gewesen wäre. Der Umstand, dass
gegenwärtig allein 107 bisoprolol-haltige, 164 metoprolol-haltige und 85 atenolol-haltige
Arzneimittel (recherchiert über das vom Deutschen Institut für medizinische
Dokumentation und Information - DIMDI - unter www.pharmnet-bund.de zur Verfügung
gestellt Arzneimittelinformationssystem) zugelassen sind - die weiteren 9 in der
Untergruppe C07AB („Beta-Adrenorezeptor-Antagonisten, selektiv“) des ATC-Codes
aufgeführten Wirkstoffe seien an dieser Stelle unberücksichtigt -, belegt, dass die
Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hiermit überfordert wären.
Gegen einen Arzneimittelvergleich schon auf dieser ersten Prüfungsstufe spricht zum
anderen, dass dieser sinnvoll nur unter Berücksichtigung des gesamten
Gesundheitszustands sowie ggf. weiterer Lebensumstände (Berufstätigkeit etc.) der
konkret betroffenen Versicherten durchgeführt werden kann. Die Berücksichtigung aller
Umstände des Einzelfalls findet jedoch nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom
28. April 1999, Az.: B 6 KA 63/98 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.) typischerweise erst im
Rahmen der Ermessensausübung statt.
Die Unwirtschaftlichkeit im vorliegenden Fall ergibt sich daraus, dass anstelle des
teureren Wirkstoffs Nebivolol der - wohl aufgrund einer Festbetragsfestsetzung -
preiswertere Wirkstoff Bisoprolol zur Verfügung steht und letzterer ausweislich der
Fachinformation (Stand: Januar 2002) ebenfalls zur Behandlung der arteriellen
Hypertonie zugelassen ist. Soweit im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung die
Feststellung eines Mehraufwandes gefordert wird, besteht dieser zumindest in der
Differenz zwischen dem packungsgrößenbezogenen Nettopreis (d.h. nach Abzug von
Apothekenrabatt und Eigenanteil der Versicherten) von Nebilet und dem teuersten
Arzneimittel aus der Gruppe der selektiven β-Rezeptorenblocker.
4. Die vom Beklagten aufgrund der festgestellten Unwirtschaftlichkeit verfügte
Rechtsfolge, die Festsetzung einer Ersatzverpflichtung i.H.v. 22,17 €, steht wegen
fehlender Ermessensausübung mit geltendem Recht nicht in Einklang.
a.) Grundsätzlich ist im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen gemäß § 106 SGB V
Ermessen hinsichtlich der Höhe des Regresses auszuüben (BSG a.a.O.;Clemens in
Schlegel/Voelzke/Engelmann , juris PraxisKommentar SGB V, 2008, § 106 RdNr
145-147 m.w.N.)Bei der Festlegung der Regresshöhe als Reaktion auf die festgestellte
Unwirtschaftlichkeit steht den Prüfgremien regelmäßig ein Ermessensspielraum zu, der
die Möglichkeit einer ganzen Bandbreite denkbarer vertretbarer Entscheidungen
eröffnet. Gemäß § 54 Abs 2 Satz 2 SGG ist eine derartige Ermessensentscheidung von
den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nur daraufhin zu überprüfen, ob die Behörde die
gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten und vom Ermessen in einer dem
Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Ein Gericht darf
sein Kürzungsermessen dagegen nicht an die Stelle desjenigen der Prüfgremien setzen
(BSG, Urteil vom 21. Mai 2003, Az.: B 6 KA 32/02 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.)
Im Rahmen der Ermessensausübung hat der Beschwerdeausschuss zunächst dem
beanstandeten Arzneimittel ein konkretes Alternativpräparat gegenüber zu stellen
(hierzu unter aa), um ausgehend hiervon den (maximalen) Schadensbetrag zu
bestimmen (hierzu unter bb). In einem weiteren Schritt hat er sodann zu prüfen, in
welcher konkreten Höhe ein Regress festgesetzt werden soll oder ob ggf. im Hinblick auf
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welcher konkreten Höhe ein Regress festgesetzt werden soll oder ob ggf. im Hinblick auf
eine vorrangige Beratung von einem Regress abzusehen ist (hierzu unter cc).
aa.) Soll wegen der Verordnung eines teureren Arzneimittels ein Regress festgelegt
werden, weil eine preiswertere, therapeutisch gleichwertige Alternative zur Verfügung
steht, setzt dies zwingend einen Vergleich des beanstandeten mit einem anderen nach
Wirkstärke und Darreichungsform konkretisierten Arzneimittel voraus, welches vom
Beschwerdeausschuss in seiner Entscheidung zu benennen ist. Erst auf der Grundlage
einer solchen Konkretisierung sind die Fragen nach der therapeutischen Gleichwertigkeit
und - darauf aufbauend - dem Kostenvergleich möglich. Denn nur wenn - typischerweise
zunächst anhand der arzneimittelrechtlichen Fachinformation nach § 11 a
Arzneimittelgesetz - feststeht, für welche Anwendungsgebiete das Alternativpräparat
zugelassen ist und welche Kontraindikationen, Warnhinweise, Neben- und
Wechselwirkungen bestehen, ist zu beurteilen, ob dieses Alternativpräparat aus
medizinischer Sicht bei der konkreten Versicherten unter Berücksichtigung ihres
Gesundheitszustands sowie ggf. weiterer Lebensumstände (Berufstätigkeit etc.) hätte
zum Einsatz kommen können. An dieser Stelle kommt der gerichtlich nur eingeschränkt
überprüfbare Entscheidungsspielraum zum Tragen, der in der Rechtssprechung des BSG
(Urteil vom 28. Juni 2000, a.a.O.) den Prüfgremien nach § 106 Abs. 4 SGB V als
paritätisch und fachkundig besetzten Einrichtungen zugestanden wird. In diesem
Zusammenhang sind die zwischen den Beteiligten und dem Senat in der mündlichen
Verhandlung erörterten Fragen zu klären, ob im Hinblick auf bestimmte Nebenwirkungen
(im Falle von Bisoprolol-ratiopharm 10 können Schlafstörungen auftreten) ggf.
bestehende Begleiterkrankungen (die Versicherte litt nach Angaben der Klägerin bereits
unter Schlafstörungen) ein Ausschlusskriterium darstellen und welche Bedeutung der
Häufigkeit dieser Nebenwirkungen sowie den pharmakodynamischen und -kinetischen
Eigenschaften der zu vergleichenden Arzneimittel zukommen.
bb.) Hat ein Vergleich des beanstandeten Arzneimittels mit einem oder mehreren
Alternativpräparaten ergeben, dass diese als therapeutisch gleichwertig anzusehen sind,
ist in einem weiteren Schritt zu ermitteln, ob zumindest eines dieser Alternativpräparate
preiswerter ist. Hierfür ist zunächst ein Wirkstärkenvergleich anhand der definierten
Tagesdosis (defined daily dose - DDD) vorzunehmen. Letzter ergibt sich aus der ATC-
DDD, dem anatomisch-therapeutisch-chemischen Klassifikationssystem (ATC-Code) -
einer von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) offiziell herausgegebenen
internationalen Klassifikation für Arzneistoffe -, das vom DIMDI seit dem 01. Januar 2004
in einer jährlich aktualisierten amtlichen Fassung mit definierten Tagesdosen gemäß §
73 Abs. 8 Satz 5 SGB V herausgegeben wird. Auf der Grundlage der DDD sind für die
verglichenen Arzneimittel diejenigen Mengen zu ermitteln, die zur gleichen Wirkung bei
der konkreten Versicherten führen (bei gleicher DDD je Verabreichungseinheit - z.B.
Tablette - sind die Kosten gleicher Packungsgrößen gegenüberzustellen). Zu prüfen ist
sodann, ob Besonderheiten der Dosierung Abweichungen bei den ansonsten
wirkungsgleichen Mengen der zu vergleichenden Arzneimittel nach sich ziehen. So
enthält Ziffer 4.2 („Dosierung, Art und Dauer der Anwendung“) der Fachinformation für
Bisoprolol-ratiopharm 10 u.a. folgende Hinweise:
„Die Dosierung sollte individuell angepasst werden. Es wird empfohlen, mit der
geringst möglichen Dosis zu beginnen. Bei manchen Patienten können 5 mg/Tag
ausreichend sein. Die übliche Dosis beträgt 10 mg 1-mal täglich bei einer empfohlenen
maximalen Tagesdosis von 20 mg.
…
Die Behandlung sollte nicht abrupt beendet werden (siehe Abschnitt 4.4
“Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung”). Die Dosierung sollte
langsam durch eine wöchentliche Halbierung der Dosis verringert werden.“
Hinweise dieser Art veranlassen zur Prüfung, ob sich die Behandlung mit dem
beanstandeten Arzneimittel in der Anfangs- oder Endphase befindet. Denn z.B. bei
erstmaliger Verordnung wäre nach den o.g. Anwendungshinweisen zu prüfen, ob und
ggf. wie lange zunächst Bisoprolol-ratiopharm 5 einzunehmen ist, sodass ggf. auch eine
N1-Packung dieses Arzneimittels in den Preisvergleich eingestellt werden müsste.
Entsprechendes gilt bei letztmaliger Verordnung.
Der Beschwerdeausschuss darf an dieser Stelle jedoch auch nicht außer Acht lassen,
dass weder der Vertragsarzt noch der in der Regel pflichtversicherte Patient gehalten
sind, zahlreiche Therapieversuche durchzuführen. Macht der Vertragsarzt z.B. geltend,
einem Versicherten schon zwei preiswertere Arzneimittel mit demselben
Anwendungsgebiet verordnet zu haben, die beide zu unerwünschten Nebenwirkungen
geführt hätten, dürfte er nicht verpflichtet sein, vor Verordnung des teureren (Original-
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geführt hätten, dürfte er nicht verpflichtet sein, vor Verordnung des teureren (Original-
)Präparates zunächst sämtliche preiswerteren Nachahmerprodukte (Generika) bei
diesem Versicherten auszutesten. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass „der
Gesetzgeber durch die Anordnung von Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht in
einem öffentlich-rechtlichen Verband der Sozialversicherung die allgemeine
Betätigungsfreiheit des Einzelnen durch Einschränkung ihrer wirtschaftlichen
Voraussetzungen nicht unerheblich einengt“ (BVerfGE 115, 25 m.w.N.), erscheint es
auch im Lichte des Wirtschaftlichkeitsgebots unzumutbar, (Pflicht-)Versicherten im
Rahmen der Versorgung mit Arzneimitteln Therapieexperimente abzuverlangen.
Unabhängig hiervon hält es der Senat für möglich, dass der Versuch, bei einem
Versicherten vor Verordnung eines teureren zunächst möglichst viele preiswertere
Arzneimittel zum Einsatz zu bringen, im Ergebnis unwirtschaftlicher sein kann, weil nach
jedem Abbruch der Therapie mit einem der preiswerteren, aber medizinisch (z.B. wegen
unerwünschter Nebenwirkungen) ungeeigneten Präparate der größte Teil der
verordneten Medikamentenpackung ungenutzt bleibt.
cc.) Schließlich ist eine Entscheidung über die Höhe des Regressbetrages zu treffen. In
diesem Zusammenhang können Abschläge wegen Unsicherheiten über die konkrete
Schadenshöhe (z.B. für den soeben dargestellten Fall von Empfehlungen zur
aufbauenden bzw. ausschleichenden Dosierung des Alternativpräparates)
vorgenommen werden. Denkbar ist jedoch auch der völlige Verzicht auf die Festsetzung
eines Regresses, weil in Anbetracht der Umstände des Einzelfalles (z.B. Anfängerpraxis,
geringe Schadenshöhe, Vielzahl der in Betracht zu ziehenden Alternativpräparate,
Vielzahl der Begleiterkrankungen der konkreten Versicherten) eine Beratung als
ausreichende Reaktion angesehen wird.
Das Erfordernis vorgängiger Beratung stellt gemäß § 106 Abs. 5 Satz 2 SGB V a.F. nur
eine "Soll"-Vorgabe dar, die entsprechend dem Sinn und Zweck dieser Bestimmung
nicht für den Fall unzweifelhafter Unwirtschaftlichkeit gilt. Eine solche Konstellation ist bei
statistischen Durchschnittsprüfungen daran festgemacht worden, ob ein Mehraufwand
im Bereich des sog. offensichtlichen Missverhältnisses vorliegt; eine vorausgehende
Beratung ist dann nicht erforderlich. Nichts anderes gilt bei Regressen aufgrund von
Einzelfallprüfungen, wenn schon die Verordnungsfähigkeit fehlt. Dies ist ein
"Basis"mangel, sodass unzweifelhaft Unwirtschaftlichkeit gegeben ist und somit ein Fall
vorliegt, in dem eine vorgängige Beratung regelmäßig nicht mehr erforderlich ist (BSG,
Urteil vom 6. Mai 2009, a.a.O.). In Fällen, in denen die Unwirtschaftlichkeit auf der
Verordnung eines teureren Arzneimittel beruht, für das eine preiswertere,
therapeutische gleichwertige Alternative besteht, könnte ggf. etwas anderes gelten, weil
bereits eine Beratung dazu führt, dass der Vertragsarzt sich künftig die
unterschiedlichen Kosten vergegenwärtigt und einzelfallbezogen abwägt, ob der Einsatz
des preiswerteren Arzneimittels vertretbar ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 20. Oktober
2004, a.a.O.).
b. Ermessenserwägungen dieser Art finden sich in der angegriffenen Entscheidung des
Beklagten nicht. Ungeachtet der fehlenden Benennung eines konkreten
Alternativpräparates sowie der daraus folgenden fehlenden Auseinandersetzung mit
Begleiterkrankungen der Versicherten einerseits und Nebenwirkungen dieses
Alternativpräparates andererseits lässt die Entscheidung des Beklagten in keiner Weise
erkennen, dass er sich seines Ermessensspielraums bewusst war. Eine wertende
Würdigung der Umstände des Einzelfalls ist ihr nicht zu entnehmen.
Ohne die erforderliche Ermessensausübung ist der Bescheid des Beklagten gemäß § 54
Abs. 2 Satz 2 SGG rechtswidrig. Diese Vorschrift ist über ihren Wortlaut hinaus auch auf
den hier vorliegenden sog. Ermessensnichtgebrauch anzuwenden (Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer Sozialgerichtsgesetz, 9.A., § 54 Rd. 27). Im Falle des
Ermessensnichtgebrauchs ist auch eine Heilung des Begründungsmangels durch das
Nachschieben von Ermessenserwägungen (vgl. § 41 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 SGB X)
nicht möglich (a.a.O. Rd. 36 m.w.N.).
Deshalb kann offen bleiben, ob eine analoge Anwendung von § 114 Satz 2
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) hier in Betracht käme. Nach dieser Vorschrift kann
die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes
auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Die erstmalige Ausübung
von Ermessen während des gerichtlichen Verfahrens mit anschließender Mitteilung der
Ermessenserwägungen ist von § 114 Satz 2 VwGO jedoch nicht erfasst
(Bundesverwaltungsgericht DVBl. 07, 260).
Selbst wenn man das Nachholen einer Ermessensausübung während des
Gerichtsverfahrens für zulässig hielte, stünden dem im Rahmen der
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Gerichtsverfahrens für zulässig hielte, stünden dem im Rahmen der
Wirtschaftlichkeitsprüfung gewichtige Bedenken entgegen, sollte das Nachholen - wie
hier - allein durch den - grundsätzlich umfassend zur Vertretung des
Beschwerdeausschusses berechtigten - Vorsitzenden erfolgen. Denn die besondere aus
seiner Zusammensetzung herrührende Fachkunde dieses Gremiums, die die
Einräumung eines gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Ermessensspielraums
rechtfertigt, käme in einem solchen Fall nicht zum Tragen.
5. Ob die Entscheidung des Beklagten vom 2. Juni 2005 aus weiteren Gründen - etwa
wegen der Mitwirkung von Herrn S, wegen unzureichender „Begründung“ i.S.v. § 25 Nr. 2
Satz 1 PV oder wegen Missachtung der Bagatellgrenze - unwirksam ist, kann demzufolge
offen bleiben.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. SGG i.V.m. § 154 Abs.
2, § 162 Abs. 3 VwGO und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreites.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1
SGG).
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