Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 20.03.2008
LSG Berlin-Brandenburg: gefahr, berufskrankheit, unfallversicherung, firma, minderung, entstehung, vorbeugung, kausalzusammenhang, krankheitsverhütung, zukunft
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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
31. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 31 U 439/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 3 Abs 2 S 1 BKV, § 3 Abs 1
BKV, Anl 1 Nr 4101 BKV
(Gesetzliche Unfallversicherung - Übergangsleistung gem BKV §
3 Abs 2 - präventive Zielrichtung - versichertes Krankheitsbild -
keine fortbestehende Gefahr - Abgrenzung: konkrete
individuelle Gefahr - generelle Gefahr - allgemeine
Staubentwicklung am Arbeitsplatz - anerkannte Berufskrankheit
gem BKV Anl Nr 4104 eines Fassadenmonteurs)
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20.
März 2008 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht
zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung von Übergangsleistungen.
Der 1942 geborene Kläger war als Fassadenmonteur, zuletzt seit 1985 bei der Firma A
SAG, tätig. Am 25. Februar 2002 wurde er wegen seit 14 Tagen bestehender
rezidivierender retrosternaler, in den Rücken ausstrahlender Schmerzen stationär im
Krankenhaus Neukölln aufgenommen, wo er zunächst wegen eines akuten
Koronarsyndroms bei koronarer Zweigefäßerkrankung behandelt wurde. Im
Entlassungsbericht vom 05. April 2002 ist als Diagnose auch der Verdacht auf ein
Bronchialkarzinom des rechten Oberlappens genannt, welches in der Folgezeit operativ
entfernt wurde. Durch ein pathologisches Gutachten der Prof. Dr. M/Dr. J vom 20.
Dezember 2002 wurde eine relevant erhöhte Asbestbelastung des Lungengewebes
festgestellt, es bestehe eine Minimalasbestose und damit ein Befund im Sinne der
Berufskrankheit nach Nr. 4104 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).
Prof. Dr. F kam mit Gutachten vom 18. Dezember 2002 ebenfalls zu dem Ergebnis, dass
aufgrund der Befundkonstellation mit bösartigem primären Lungentumor sowie fokal
asbestassoziierten Lungenveränderungen unter dem Bild einer Minimalasbestose und
gesichert erhöhter beruflicher Asbeststaubexposition eine BK Nr. 4104 wahrscheinlich
sei.
Ermittlungen des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten ergaben ausweislich
eines Schreibens des Messtechnikers H vom 11. März 2003, dass die Firma A S AG zwar
seit Tätigkeitsaufnahme durch den Kläger im Juli 1985 keine Fassadenverkleidungen mit
Asbestzementproduktion ausgeführt habe, dass jedoch gelegentlich alte Asbestzement-
Fassaden hätten demontiert werden müssen. Die letzte derartige Baumaßnahme mit
Asbestfaser-Exposition, bei welcher der Kläger mit tätig gewesen sei, sei im Juli 2000
durchgeführt worden. Insgesamt sei eine Asbestfaser-Exposition gegeben. Die Beklagte
gewährte dem Kläger ab 14. März 2002 Verletztengeld und erkannte durch Bescheid
vom 25. Juli 2003 Lungenkrebs i. V. m. Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) als
Berufskrankheit nach Nr. 4104 der Anlage zur BKV an, gewährte eine Rente nach einer
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v. H. ab 29. Juli 2003. Die
Landesversicherungsanstalt (LVA) Berlin bewilligte dem Kläger durch Bescheid vom 14.
Juni 2004 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 01. Juli 2004.
Einen vom Kläger im November 2005 gestellten Antrag auf Übergangsleistungen lehnte
die Beklagte durch Bescheid vom 24. November 2005 ab. Denn der Kläger sei nur bis zu
seiner Aufnahme der Tätigkeit für die Firma SAG im Juli 1985, nicht jedoch danach
asbestexponiert tätig gewesen. Die davor bis Juli 1985 ausgeübte Tätigkeit sei nicht
wegen der Lungenkrebserkrankung aufgegeben worden. Hiergegen erhob der Kläger
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wegen der Lungenkrebserkrankung aufgegeben worden. Hiergegen erhob der Kläger
Widerspruch, mit dem er ausführte, dass eine schädigende Exposition nicht
auszuschließen gewesen sei, weil - wenn auch nur gelegentlich - noch alte
Asbestzementfassaden demontiert werden müssten; außerdem sei die allgemeine
Exposition am Arbeitsplatz z. B. durch Staub durchaus geeignet, die vorhandene BK zu
verschlimmern. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Dezember 2005 wies die Beklagte
den Widerspruch zurück. Nach den Ermittlungen des TAD könne für die Zeit nach Juli
2000 eine Asbestfaserbelastung während der beruflichen Tätigkeit ausgeschlossen
werden. Damit habe auch kein objektiver Zwang zur Unterlassung der beruflichen
Tätigkeit als Fassadenbaumonteur bestanden.
Im hiergegen angestrengten Klageverfahren hat das Sozialgericht Berlin eine erneute
Stellungnahme des TAD angefordert, in welcher der technische Angestellte H unter dem
05. Juli 2006 nach einer Befragung des ehemaligen Bauleiters des mittlerweile
insolventen Betriebes A S AG, Herrn R, ausführte, dass nach Juli 2000 keine weiteren
Arbeiten auf „Asbestbaustellen“ ausgeführt worden seien.
Das Sozialgericht Berlin hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 20. März 2008
abgewiesen. Die in § 3 Abs. 2 BKV in Bezug genommene Gefahr einer Verschlimmerung
einer Berufskrankheit im Sinne von § 3 Abs. 1 BKV setze entgegen der Auffassung des
Klägers ebenso wie die Gefahr der Entstehung oder des Wiederauflebens einer
Berufskrankheit voraus, dass weitere Gesundheitsschäden im Sinne des versicherten
Krankheitsbildes gerade durch fortgesetzte berufliche Einwirkungen im Sinne des
betroffenen Berufskrankheitentatbestandes drohten. Der eindeutige und keine andere
Auslegung zulassende Wortlaut des § 3 Abs. 2 Satz 1 BKV verlange als
Anspruchsvoraussetzung für Übergangsleistungen dementsprechend, dass wegen einer
fortbestehenden Gefahr im Sinne von § 3 Abs. 1 BKV die gefährdende Tätigkeit
unterlassen werde. Gefährdend im Sinne der beim Kläger bestehenden BK 4104 der
Anlage zur BKV seien berufliche Tätigkeiten mit Asbeststaub-Exposition. Derartige
Tätigkeiten seien nach den Ermittlungen des TAD im Betrieb des Klägers zuletzt im Juli
2000 durchgeführt worden. Im Januar 2002, als der Kläger zuletzt in seinem Betrieb
gearbeitet habe, habe es zum einen eine Gefahr im Sinne von § 3 BKV und zum anderen
eine gefährdende Tätigkeit, die der Kläger aufgeben konnte, nicht mehr gegeben.
Gegen diesen am 5. April 2008 zugegangenen Gerichtsbescheid richtet sich die am 9.
April 2008 eingegangene Berufung des Klägers. Der Kläger trägt vor, dass sich seine
Berufskrankheit auch aufgrund anderer beruflicher Einwirkungen als durch Asbest hätte
verschlechtern können. Das Bundessozialgericht (BSG) habe im Übrigen für die MdE-
Bemessung klargestellt, dass auch nicht berufsbedingte Vorschäden, die zu einer
wechselseitigen Beeinflussung der Unfallfolgen führten, durchaus zu berücksichtigen
seien.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. März 2008 und den Bescheid
der Beklagten vom 24. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
20. Dezember 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom
25. Februar 2002 bis 30. Juni 2004 Übergangsleistungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verweist auf ihre Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid
und den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid.
Die Beteiligten haben sich mit Schriftsatz vom 08. April 2008 und vom 23. Juli 2008 mit
einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze
der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der
Verwaltungsakte der Beklagten (2 Bände) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Über die Berufung konnte gemäß § 153 Abs. 1, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden
werden.
Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Der erstinstanzliche Gerichtsbescheid
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Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet. Der erstinstanzliche Gerichtsbescheid
und der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 24. November 2005 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 20. Dezember 2005 sind rechtmäßig und verletzen
den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung
von Übergangsleistungen für den von ihm geltend gemachten Zeitraum.
Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 BKV hat der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung einem
Versicherten, der die „gefährdende Tätigkeit“ einstellt, weil die Gefahr einer Entstehung,
eines Wiederauflebens oder einer Verschlimmerung einer BK für ihn nicht zu beseitigen
ist, zum Ausgleich der hierdurch verursachten Minderung des Verdienstes oder sonstiger
wirtschaftlicher Nachteile eine Übergangsleistung zu gewähren. Der Kläger hat
vorliegend eine gefährdende Tätigkeit im Sinne dieser Vorschrift nicht mehr ausgeübt
und eine solche daher auch nicht aufgeben können, so dass Übergangsleistungen nicht
zu gewähren sind. Zur Begründung wird zunächst gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die
Ausführungen im erstinstanzlichen Gerichtsbescheid Bezug genommen, denen sich das
Gericht nach eigener Prüfung anschließt. Allein diese Sichtweise entspricht auch Sinn
und Zweck der Übergangsleistungen, wie er in der bisher ergangenen Rechtsprechung
umfassend dargelegt ist.
Die Übergangsleistung hat als unterstützende Maßnahme den Zweck, den Versicherten
im Rahmen der Prävention und zur Vorbeugung weiterer Gesundheitsgefahren zur
Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit zu veranlassen, so genannte „Anreizfunktion“. Die
bei einem Arbeitsplatzwechsel auftretende Verdienstminderung und sonstigen
wirtschaftlichen Nachteile sollen abgefedert und dem Versicherten so ein Übergang auf
eine ggf. wirtschaftlich ungünstigere Situation erleichtert werden. Im Vordergrund steht
bei § 3 Abs. 2 Satz 1 BKV also der Anreiz, die gefährdende Tätigkeit einzustellen. § 3 BKV
hat dabei eine klare präventive Zielrichtung und ist als Maßnahme der Vorbeugung und
Krankheitsverhütung von den sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung üblichen
Entschädigungsleitungen zu unterscheiden. Die Vorschrift ist in die Zukunft gerichtet
und will den Versicherten vor aktuellen Gesundheitsgefahren schützen. Ausdrücklich
führt das BSG aus, dass § 3 BKV entsprechend dieser Zielrichtung auch bei bereits
eingetretenem Versicherungsfall einer BK nicht ausgeschlossen ist, „wenn er trotzdem
weiterarbeitet“ und damit „weiterhin den Einwirkungen dieser BK ausgesetzt ist“ (BSG,
Urteil vom 07. September 2004, Aktenzeichen B 2 U 1/03 R, SozR 4-5671 § 3 Nr. 1; zum
Übrigen auch BSG, Urteil vom 07. September 2004, Aktenzeichen B 2 U 27/03 R, SozR
4-5671 § 3 Nr. 2, m.w.N.). Neben dem Bestehen einer konkret individuellen Gefahr als
erster Voraussetzung ist als Zweitvoraussetzung für den Anspruch auf Übergangsgeld
die Einstellung der „gefährdenden Tätigkeit“ erforderlich. Des Weiteren ist ein doppelter
Kausalzusammenhang Voraussetzung: Es muss ein rechtlich wesentlicher
Zusammenhang einerseits zwischen der drohenden Berufskrankheit und der Einstellung
der gefährdenden Tätigkeit und andererseits zwischen dieser Einstellung und der
Minderung des Verdienstes oder sonstiger wirtschaftlicher Nachteile bestehen (BSG,
Urteil vom 20. Februar 2001, Aktenzeichen B 2 U 10/00 R, SozR 3-5670 § 3 Nr. 5).
Die Zusammenschau dieser Voraussetzungen macht deutlich, dass bereits die
generelle Gefahr, durch bestimmte schädigende Einwirkungen, die zur Aufnahme in die
BK-Liste geführt haben, nicht ausreicht, um ein Tätigwerden des Versicherungsträgers
bzw. Leistungen nach § 3 BKV beanspruchen zu können. Erforderlich ist vielmehr, dass
der Versicherte über die generelle Gefahr hinaus den besonderen schädigenden
Einwirkungen durch seine Arbeit ausgesetzt ist und deswegen unter einer „konkreten,
individuellen“ Gefahr steht, an einer BK zu erkranken. Das BSG hat deshalb bereits
ausdrücklich ausgeführt, dass „die für eine BK relevanten, besonderen, schädigenden
Einwirkungen … den Versicherten am konkreten Arbeitsplatz treffen und in seiner Person
die individuelle Gefahr begründen (müssen), dass sie im Sinne der
Kausalitätsanforderungen in der gesetzlichen Unfallversicherung eine BK entstehen,
wiederaufleben oder verschlimmern lassen (BSG, Urteil vom 16. März 1995,
Aktenzeichen 2 RU 18/94, HV-Info 1995, 1505, m. w. N., zur Vorgängervorschrift § 3
BKVO). Eine nicht im Zusammenhang mit dem einschlägigen BK-Tatbestand stehende
Exposition wie die vom Kläger beispielhaft genannte allgemeine Staubentwicklung auf
Baustellen reicht damit nicht aus, um eine Gefährdung im Sinne des § 3 Abs. 2 BKV zu
bejahen; hierbei handelt es sich gerade nicht um eine konkrete, individuelle, sondern um
eine generelle Gefahr, die man im Übrigen auch bei jeder beruflichen Stressbelastung
bejahen würde. Hier würde es am notwendigen Kausalzusammenhang zwischen der
drohenden Berufskrankheit, die nur bei Auslösung durch eine bestimmte Exposition als
solche anerkannt wird, und der Einstellung der gefährdenden Tätigkeit fehlen.
Wie bereits erstinstanzlich ausgeführt, sind daher die Voraussetzungen für die
Gewährung von Übergangsleistungen nicht erfüllt. Denn der Kläger hat eine gefährdende
Tätigkeit bereits zeitlich deutlich vor Bekanntwerden seiner Berufskrankheit nicht mehr
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Tätigkeit bereits zeitlich deutlich vor Bekanntwerden seiner Berufskrankheit nicht mehr
ausgeführt. Der Senat entnimmt der Auskunft des TAD vom 05. Juli 2006, dass jedenfalls
nach Juli 2000 durch den Betrieb, bei dem der Kläger tätig war, „ausschließlich“
Leichtmetallfassaden aus Aluminium hergestellt worden sind. Irgendeine im Hinblick auf
die anerkannte BK 4104 relevante oder gefährdende Tätigkeit wurde im Betrieb des
Klägers damit nicht mehr verrichtet.
Den vom Kläger angeführten Grundsätzen zur MdE-Feststellung unter Berücksichtigung
von Vorschäden vermochte der Senat für die hier einschlägige Problematik nichts zu
entnehmen.
Nach alledem war die Berufung daher zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, sie folgt dem Ergebnis in der
Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
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