Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 25.02.2010
LSG Berlin-Brandenburg: diabetes mellitus, psychoorganisches syndrom, berufskrankheit, ddr, gutachter, stand der technik, anerkennung, medikamentöse behandlung, medizinische abklärung, alkoholismus
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Gericht:
Landessozialgericht
Berlin-Brandenburg
31. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 31 U 455/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
Anl 1 Nr 1305 BKV
Gesetzliche Unfallversicherung - Berufskrankheit -
haftungsbegründende Kausalität - Brückensymptome -
Konkurrenzursache - Enzephalopathie - Polyneuropathie -
hirnorganisches Psychosyndrom - Alkohol - chronische
Schwefelkohlenstoffintoxikation
Leitsatz
Besteht eine Latenzperiode zwischen Expositionsende und Auftreten der ersten
Krankheitssymptome von 25 Jahren, ohne dass in dieser Zeit Brückensymptome festzustellen
waren, kann ein Ursachenzusammenhang zwischen Exposition und Erkrankung nicht bejaht
werden, wenn es darüber hinaus auch noch an wissenschaftlichen Erfahrungen über
Langzeitfolgen und Latenzintervalle bei chronischen Schwefelkohlenstoffintoxikationen fehlt.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 15. Juni
2004 wird zurückgewiesen.
Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Polyneuropathiesyndroms sowie
eines hirnorganischen Psychosyndroms als Berufskrankheit nach Nr. 1305
(Erkrankungen durch Schwefelkohlenstoff) der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung
(BKV; im weiteren Text: BK Nr. 1305), beziehungsweise der BK Nr. 17 der
Berufskrankheiten-Verordnung der ehemaligen DDR (BKVO/DDR).
Die 1938 geborene Klägerin hat unter anderem von 1959 bis 1974 als HKZ-(Halb
Kontinuierliche Zentrifugalspinnmaschine) Fahrerin im VEB Chemiefaserwerk F in P
gearbeitet. Von 1974 bis 1979 war sie in diesem Betrieb als Gartenarbeiterin,
Werkzeugausgeberin, Küchenhilfe beziehungsweise Hausmeister/-verwalter tätig. Von
1979 bis 1982 hat sie als Melkerin und von 1982 bis 1994 als Gärtnerin gearbeitet.
Danach war sie arbeitslos.
Am 1. März 1999 zeigte die Fachärztin für Arbeitsmedizin Dr. B der Beklagten den
Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit an und führte unter anderem aus, die
Klägerin leide unter einem Taubheitsgefühl in Armen und Beinen beidseits, einem
Kribbeln in den Armen sowie Schmerzen und kalten Füßen. Es liege eine Erkrankung
durch Schwefelkohlenstoff vor. Sie führe diese auf ihre Tätigkeit in einem Spinnsaal für
Kunstseide zurück. Die Klägerin leide unter den Vorerkrankungen Magendurchbruch mit
zwei Drittel Magenresektion, Gallenoperation und Alkoholentziehung.
Die Beklagte holte eine Auskunft des Nachfolgebetriebes des VEB Chemiefaserwerk F
der M AG, P, zur Tätigkeit der Klägerin von 1959 bis 1974 als Maschinenfahrerin ein, aus
der sich ergab, dass die Klägerin während dieser Zeit den Spinnkuchen aus den
Spinnzentrifugen abnehmen, Einstrumpfen und für den Transport auf speziellen Wagen
fertig machen musste. Zu ihren Aufgaben gehörte die ständige Kontrolle an den
Spinnmaschinen. Beim Spinnprozess wurde Schwefelkohlenstoff freigesetzt, der sich
ständig in der Raumluft der Spinnerei befand. In der Spinnerei standen 237
Spinnenmaschinen. Die Klimahaltung erfolgte über Be- und Entlüftungsanlagen. Die
Zuführung von Frischluft und Absaugung der Abluft erfolgte auch innerhalb der
Maschinen. Ein Maschinenfahrer hatte circa acht Maschinen zu bedienen.
Konzentrationsmessungen hinsichtlich der Beladung der Raumluft mit entstehenden
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Konzentrationsmessungen hinsichtlich der Beladung der Raumluft mit entstehenden
Schadstoffen wurden durchgeführt. Die Be- und Entlüftungsanlagen in der Spinnerei und
in den Spinnmaschinen wurden mit dem Anfahren der Anlage in Betrieb genommen. Es
gab entsprechende Arbeits- und Bedienungsanweisungen. Belehrungen wurden
durchgeführt. Die vorgeschriebene Schutzausrüstung für die Spinnereiarbeiter bestand
aus einem säurefesten Schutzanzug sowie Gummischuhen (Igelitschuhen). Beides
wurde von den Arbeitern auch getragen. Es gab besondere Wasch- und Duschzeiten für
die Spinnereiarbeiter.
Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten führte unter dem 21. Mai 1999 unter
anderem aus, die Klägerin sei von 1959 bis 1974 in der Reganspinnerei als
Maschinenfahrerin tätig gewesen. Bei der Reganspinnerei handle es sich um eine Halle
mit den Abmaßen von circa 40 m mal 70 m mal 20 m, in welcher sich 238
Spinnmaschinen befinden. Die Spinnmaschinen seien die Hauptemissionsquellen für die
Schadstoffe CS
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(Schwefelkohlenstoff)und H
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S (Kohlenwasserstoff). Bei der
Fadenherstellung würden hier 83 % des eingesetzten Schwefelkohlenstoffs als
Luftschadstoffe CS
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und H
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S frei. Die Spinnmaschinen seien nicht gekapselt und
entsprächen damit nicht dem Stand der Technik. Dadurch gelange ein großer Teil der
Schadstoffe aus den Maschinen in den Spinnsaal. Der hohe Schadstoffausstoß an den
Spinnmaschinen werde durch eine Besonderheit des Verfahrens bewirkt - den
Waschprozess des Einzelfadens an der Maschine. Dazu werde die obere
Entsäuerungswalze mit Wasser berieselt. Hier werde der Großteil des eingesetzten CS
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frei und das im oberen Maschinenbereich, also in der Hauptarbeitshöhe des Personals.
Ein bedeutender Teil gelange durch die Zentrifugalkräfte zur Koagulations- und
Entsäuerungwalze in den Spinnsaal und werde durch die Maschinenabsaugung nicht
direkt erfasst. Das bedeute eine hohe Raumluftbeladung. In den Jahren ab 1967 hätten
sich die Messwerte zwischen 45 bis 70 mg/m
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bewegt. Der MAK-Wert von 30 mg/m
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sei
also teilweise um mehr als das zweifache überschritten gewesen. Dies ergebe sich aus
den auch in der Anlage übersandten Messprotokollen. Zusammenfassend müsse
eingeschätzt werden, dass die Klägerin über einen Zeitraum von 15 Jahren erhöhten CS
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-Expositionen ausgesetzt gewesen sei. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen für
die Entstehung einer Berufskrankheit nach der BK Nr. 1305 seien somit gegeben.
Die Klinische Psychologin Dr. Sch (Z) diagnostizierte in ihrem Psychodiagnostischen
Befund vom 16. September 1999 ein Psychoorganisches Syndrom.
Der mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragte Facharzt für Neurologie und
Psychiatrie Dr. K führte in seinem Gutachten vom 13. Januar 2000 unter anderem aus,
die Klägerin habe anlässlich der Untersuchung über eine Vielzahl von Beschwerden,
vorwiegend Taubheitsgefühle in den Beinen, geklagt und betont, dass sie keine Reflexe
mehr habe und nunmehr auch eine Ausweitung der Gefühlsstörungen auf den gesamten
Rücken verspüre. Sie könne nicht mehr richtig schlafen, habe Gangstörungen sowie
Ohrgeräusche und Störungen des Kurzzeitgedächtnisses. Es fänden sich Hinweise auf
eine Übergewichtigkeit, eine subjektiv empfundene Hörminderung mit Tinnitus sowie
Zeichen einer Hypertonie. Es deute sich eine Hepatopathie an und es bestehe ein
Diabetes mellitus. Für eine Polyneuropathie als neurologischer Spätschaden einer
Schwefelkohlenstoffexposition ergebe sich kein Anhalt, zumal auch keine
Reflexauffälligkeiten nachweisbar seien. Die Sensibilitätsstörungen seien stark wechselnd
und keinem organisch begründbaren Verteilungsmuster zuzuordnen. Insgesamt biete
die Klägerin aus der Sicht des Fachgebietes der Psychiatrie und Neurologie das Bild einer
dissoziativen Störung mit gemischter Symptomatik. Aus der privaten Lebensführung
müsse auf einen Alkoholismus verwiesen werden, der zumindest schon 1979 zu einer
klinischen Behandlung geführt habe. Risiken im Hinblick auf ein zunehmendes
Gefäßleiden seien durch Übergewichtigkeit, Bluthochdruck und einen Diabetes mellitus
Typ II gegeben. Von den bei der Klägerin vorliegenden Erkrankungen und Beschwerden
könne die Hörstörung gegebenenfalls auf eine Schwefelkohlenstoffexposition bezogen
werden. Er empfehle insoweit eine fachärztliche Stellungnahme, da bei vorliegender
Hypertonie, einem Diabetes mellitus und dem Alkoholismus auch andere Genesen zu
diskutieren seien. Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht ergäben sich keine Hinweise
auf Krankheitsfolgen, die auf eine Schwefelkohlenstoffexposition zurück zu führen seien.
Für eine Polyneuropathie als Hauptschädigungssyndrom ergebe sich klinisch und
neurophysiologisch kein Anhalt. Die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen
seien wie folgt zu bezeichnen: Hypertonie, chronischer Alkoholismus, Diabetes mellitus,
Adipositas, Hepatopathie bei Alkoholismus, Hörminderung mit Tinnitus und dissoziative
Störung. Es bestehe keine Erwerbsminderung als Folge einer Berufskrankheit, eine MdE
sei daher nicht festzustellen.
Mit Bescheid vom 27. Januar 2000 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf
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Mit Bescheid vom 27. Januar 2000 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf
Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 17 - Erkrankungen durch
Schwefelkohlenstoff - der BKVO/DDR ab.
Im Widerspruchsverfahren übersandte die Klägerin ein von ihr veranlasstes Gutachten
der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. G vom 25. Juni 2000. Diese führte unter
anderem aus, die Klägerin leide unter einem schweren hirnorganischen Syndrom bei
hochgradigem Verdacht auf eine chronische Schwefelkohlenstoffintoxikation, einem
klinisch bestehenden Polyneuropathiesyndrom bei Verdacht auf exogen-toxische
Schädigung durch Schwefelkohlenstoff und einer chronischen
Schwefelkohlenstoffintoxikation. Die Erstmanifestation eines Polyneuropathiesyndroms
lasse sich bis an den Anfang der Sechzigerjahre zurückverfolgen. Durch die subjektiven
Beschwerden, bei denen brennende Schmerzen in Händen und Füßen,
Kribbelparästhesien und Taubheitsgefühl sowie schmerzhafte Verkrampfungen der
Muskulatur und zeitweilige Schwäche derselben im Vordergrund gestanden hätten, habe
sich die Klägerin in ihrer physischen Leistungsfähigkeit eingeschränkt gefühlt. Das
klinisch bestehende Polyneuropathiesyndrom habe sich in der EMG/ENG-Untersuchung
in der Landesklinik B vom Mai 2000 allerdings nicht bestätigen lassen; die
Nervenleitgeschwindigkeiten hätten durchweg noch im Normbereich gelegen, so dass
paraklinisch ein ausgeprägtes Neuropathiesyndrom nicht angenommen worden sei.
Anamnestisch sei der Zusammenhang zwischen der zwanzigjährigen
Schwefelkohlenstoffexposition und der Polyneuropathiesymptomatik nicht von der Hand
zu weisen, so dass von einer blanden chronisch-toxischen Polyneuropathie auszugehen
sei. Da die Beschwerden schon seit der Schwefelkohlenstoffexposition bestehen würden,
sei ein Zusammenhang mit dem 1998 entdeckten Diabetes mellitus wenig
wahrscheinlich, zumal die Blutzuckerwerte zwischen 5 und 6 mmol/l liegen würden und
eine medikamentöse Behandlung zurzeit noch nicht erforderlich sei. Gravierender seien
die Ausfälle im psychischen Leistungsbereich einzuschätzen. Im Rahmen der
Begutachtung habe sich, wie auch schon bei der psychodiagnostischen Untersuchung
am 16. September 1999 durch Dr. Schneider im Zentrum für Arbeits- und Umwelt-
Medizin, ein schweres hirnorganisches Psychosyndrom mit erheblichen Einschränkungen
der optischen Merkfähigkeit und einer erworbenen Intelligenzminderung, die aus
nervenärztlicher Sicht hochgradig wahrscheinlich auf die langjährige
Schwefelkohlenstoffexposition zu beziehen sei, gefunden. Von einer vorbestehenden
Intelligenzminderung und hirnorganischen Leistungsschwäche sei nicht auszugehen, da
die Klägerin noch bis 1974 Qualifizierungsmaßnahmen wahrgenommen habe. Daneben
schränke auch die hochgradige Verlangsamung die Leistungsfähigkeit erheblich ein.
Andere hirnorganische Ursachen, die außerhalb der Schwefelkohlenstoffintoxikation für
das hirnorganische Psychosyndrom verantwortlich zu machen seien, hätten sich nicht
eruieren lassen. Das kraniale Computertomogramm habe keinen Anhalt für eine
intrakranielle Raumforderung, Blutungen oder einen Hirninfarkt gezeigt. Die leichtgradige
supratentoriell betonte Hirnvolumenminderung werde noch als altersgerecht
eingeschätzt, sie sei zudem ein unspezifischer Befund. Aus nervenärztlicher Sicht sei der
Grad der MdE mit 60 v. H. zu beziffern. Aufgrund der zwanzigjährigen
Schwefelkohlenstoffexposition mit überschrittenen MAK-Werten am Arbeitsplatz und den
bestehenden klinischen Beschwerden eines Polyneuropathiesyndroms sowie eines
schweren hirnorganischen Psychosyndroms, die beide als Folge einer chronischen
Schwefelkohlenstoffintoxikation möglich seien, sei das Vorliegen einer BK Nr. 1305
wahrscheinlich. Retrospektiv gesehen sei natürlich die 100-prozentige Beweisführung des
Kausalzusammenhanges unter der chronischen Intoxikation mit Schwefelkohlenstoff und
den daraus resultierenden Folgen schwierig, da frühere neurologische und psychiatrische
Befunde aus der Zeit der Schwefelkohlenstoffbelastung nicht zur Verfügung gestanden
hätten. Andererseits würden sich gegenwärtig keine weiteren Ursachen oder Noxen
ausmachen lassen, die für das jetzige Polyneuropathiesyndrom und für das
hirnorganische Psychosyndrom verantwortlich sein könnten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 2000 wies die Beklagte den Widerspruch
zurück und führte zur Begründung unter anderem aus, es liege keine Berufskrankheit
nach Nr. 17 der BKVO/DDR vor. Die berufliche Exposition gegenüber Schwefelkohlenstoff
von 1959 bis 1974 sei unumstritten. Seit 1. Mai 1974 sei die Klägerin jedoch keinen
Schwefelkohlenstoffexpositionen mehr ausgesetzt gewesen. Dr. K habe in seinem
Gutachten ausführlich und schlüssig dargelegt, dass kein Hinweis auf Krankheitsfolgen
bestehe, die auf eine Schwefelkohlenstoffexposition zurückzuführen seien. Dies hätten
ebenfalls die Untersuchungen der Landesklinik B vom 9. Mai 2000 (EMG, ENG) ergeben.
Für eine Polyneuropathie liege klinisch und neurophysiologisch kein Anhalt vor. Dr. G
habe in ihrem Gutachten vom 25. Juni 2000 nur aus der Tatsache der stattgehabten
Exposition und den geschilderten Symptomen (Kribbeln, Kältegefühl etc.) einen
Zusammenhang gesehen, der klinisch jedoch durch Befunde nicht belegt werden könne.
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Der im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Potsdam als
Sachverständiger bestellte Chefarzt der Klinik für Neurologie des Klinikums E Prof. Dr. Ch
hat in seinem Gutachten vom 3. Mai 2002 unter Einbeziehung des psychologischen
Zusatzgutachten des Dipl.-Psych. R vom 20. Februar 2002 unter anderem ausgeführt,
die Klägerin leide an einer Somatisierungsstörung. Eine Polyneuropathie liege nicht vor.
Weder der klinische Befund noch die Elektromyographie gäben einen entsprechenden
Hinweis. Unter Würdigung des psychologischen Zusatzgutachtens des Dipl.-Psych. R und
des eigenen Untersuchungsbefundes sowie des EEG´s fände sich auch kein Anhalt für
ein hirnorganisches Psychosyndrom. Die erfassten Leistungsminderungen seien vor dem
Hintergrund der deutlichen Aggravationstendenzen nicht als ein ausreichender Beleg für
das Vorliegen eines hirnorganischen Psychosyndroms zu werten. Möglicherweise liege
bei der Klägerin nach wie vor ein chronischer Alkoholabusus vor. Detaillierte Aussagen zu
ihrem Alkoholkonsum seien von ihr nicht zu erhalten. Sie betone immer wieder, wie
verärgert sie darüber sei, dass alles auf den Alkohol geschoben werde. Aktenkundig
dokumentiert sei ein weiterer Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik der Landesklinik B
vom 25. Dezember 1998 bis zum 13. Januar 1999. Der Epikrise sei zu entnehmen, dass
es zu einem ausgeprägten vegetativen Entzugssyndrom gekommen, die Klägerin sehr
fixiert auf ihre körperlichen Beschwerden gewesen sei und ihr Alkoholproblem
bagatellisiert habe. Keine der bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen sei
wahrscheinlich auf die in der Zeit von 1959 bis 1974 ausgeübte Tätigkeit als
Maschinenfahrerin in der Garnspinnerei zurückzuführen. Es liege keine Berufskrankheit
vor, eine MdE sei nicht festzustellen.
Die Klägerin übersandte zu diesem Gutachten eine gutachterliche Stellungnahme des
Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Dr. B vom 16. November 2002. Dieser
führte unter anderem aus, nach eigener Untersuchung und kritischer Beurteilung der
Vorbefunde bleibe eine hirnorganische Schädigung festzustellen. Wegen der
komplizierten Zusammenhänge gebe es niemanden, der eindeutig eine Kausalität
belegen könne. Bei einer 20-jährigen, nachweislich übermäßigen Exposition, könne der
Zusammenhang zu einer CS
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-Intoxikation nicht widerlegt werden. Messe man dem
Alkohol eine Rolle zu, dürfe man dessen besondere Auswirkung in Verbindung mit der
Noxe nicht außer Acht lassen. In der kritischen Zeit der Krankengeschichte kulminiere
das Geschehen durch eine Oberbaucherkrankung, deren Symptomatik sehr
wahrscheinlich einen Zusammenhang mit der Berufstätigkeit habe. Die vorliegenden
Informationen würden gegen einen permanenten Alkoholmissbrauch sprechen, sondern
für dessen passageren Einsatz. Das lasse sich durch die Behandlungszeiträume sichern.
Gegenwärtig gebe es keine Anhaltspunkte für Alkoholmissbrauch. Jetzt gefundene
neurologische Störungen seien geringfügig und würden selbst bei einem
Zusammenhang zur toxischen Substanz nicht ins Gewicht fallen. Eine Erwerbsminderung
sei aus klinischer Sicht in der Höhe von 60 v.H. zu beziffern.
Das Sozialgericht Potsdam hat die Klage mit Urteil vom 15. Juni 2004 abgewiesen und
zur Begründung unter anderem ausgeführt, der mit der Klage geltend gemachte
Anspruch setze voraus, dass die vor dem 1. Januar 1992 eingetretene und nach dem 31.
Dezember 1993 der Beklagten gemeldete Erkrankung als Berufskrankheit sowohl nach §
221 Arbeitsgesetzbuch der DDR in Verbindung mit der Nr. 17 der BK-Liste (DDR) als
auch nach § 551 RVO in Verbindung mit Nr. 1305 der Liste zur BK-Verordnung zu
entschädigen sei. Das von den Sachverständigen auch schon im Verwaltungsverfahren
festgestellte Krankheitsbild entspreche der Berufskrankheit Nr. 17 der DDR-Liste (unter
anderem Polyneuropathie und ausgeprägte psychische Störungen, die im Allgemeinen
auf die Einwirkung von Schwefelkohlenstoff zurückgeführt werden könnten). Das
Tatbestandsmerkmal der Erkrankung im Sinne dieser Definition sei somit zu bejahen.
Auch die für die Nr. 17 der DDR-Liste vorauszusetzende Exposition in den Jahren 1959
bis 1974 in der P Kunstfaserproduktion liege zur Überzeugung der Kammer vor; sie sei
von der Beklagten auch nicht im Verwaltungsverfahren bestritten worden. Problematisch
sei vorliegend allein der auch nach dem Berufskrankheitenrecht der DDR zu fordernde
ursächliche Zusammenhang zwischen beruflicher Exposition und Erkrankung. Aus
neurologisch-psychiatrischer Sicht ergäben sich, wie der Gerichtssachverständige in
seinem schriftlichen Gutachten vom 3. Mai 2002 überzeugend ausgeführt habe, keine
Hinweise auf Krankheitsfolgen, die auf eine Schwefelkohlenstoffexposition
zurückzuführen seien. Selbst wenn hirnorganische Schädigungen als Folge toxischer
Einwirkungen vorliegen würden, wie Dr. Dr. B in seiner ausführlichen, von der Klägerin
veranlassten, Stellungnahme vom 16. November 2002 zum Gutachten des
Gerichtssachverständigen annehme, so sei es doch wegen der vielen Jahre nach
Beendigung der Exposition heute und auch schon zum Zeitpunkt der Meldung eines BK-
Verdachtes nicht mehr möglich, die Kausalität zwischen Exposition und derzeitiger
Erkrankung eindeutig zu belegen. Allein auf den (positiven) Beweis der Kausalität komme
es an, nicht darauf, dass ein Zusammenhang nicht widerlegt werden könne. Ein
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es an, nicht darauf, dass ein Zusammenhang nicht widerlegt werden könne. Ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen der Schwefelkohlenstoffexposition und der
Erkrankung der Klägerin sei zur vollen Überzeugung der erkennenden Kammer auch in
Würdigung der sachverständigen Äußerungen im Verwaltungsverfahren nach dem
Ergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahme nicht erwiesen. Lägen schon die
Voraussetzungen für eine Anerkennung der Erkrankung als Berufskrankheit nach DDR-
Recht nicht vor, so komme es nicht darauf an, ob die Erkrankung auch als
Berufskrankheit nach bundesdeutschem Recht zu entschädigen sei. Die
Beweiserleichterung nach § 9 Abs. 3 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII)
gelte somit vorliegend nicht.
Gegen das ihr am 6. August 2004 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 6. September
2004 Berufung vor dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegt. Sie ist
weiterhin der Ansicht, sie leide unter einer Berufskrankheit nach Nr. 17 der Liste der
Berufskrankheiten (DDR) beziehungsweise nach Nr. 1305 BKV. Dies ergebe sich bereits
aus dem Gutachten des Dr. Dr. B, welches das Sozialgericht falsch ausgelegt habe. Des
Weiteren stütze sie sich auf das von ihr überreichte arbeitsmedizinische Gutachten
(nach Aktenlage) des Doz. Dr. K vom 30. September 2004 sowie der ergänzenden
Stellungnahme hierzu vom 2. Mai 2007. Dieser führt unter anderem aus, an den
Arbeitsplätzen der Klägerin habe eine schichtbegleitende, langjährige, erhebliche MAK-
Wert-überschreitende Exposition gegen Schwefelkohlenstoff mit der Gefahr des
Entstehens einer chronischen CS
2
-Vergiftung bestanden. Eine größere Zahl
einschlägiger Berufskrankheiten sei im Kunstfaserwerk Premnitz sowie weiteren
vergleichbaren Betrieben in der DDR vorgekommen. Die bei der Klägerin beschriebenen
unterschiedlichen Gesundheitsstörungen auf neuro-psychischem Gebiet entsprächen
weitestgehend denen einer toxischen Enzephalopathie beziehungsweise dem
psychoorganischen Syndrom, wie es aus der Literatur gut bekannt sei. Nach Durchsicht
der bereits vorliegenden vier neurologischen Gutachten sei festzustellen, dass zwei
davon diese Diagnose auch bestätigt hätten, ein weiteres allerdings nur in
„verschlüsselter Form“ und mit anderer Interpretation durch den Gutachter. Der
anamnestisch eruierte und durch ärztliche Behandlungsberichte bestätigte
Alkoholabusus stelle einen konkurrierenden Faktor bei der Kausaldiskussion dar, der in
seiner Bedeutung aber nicht überbewertet werden dürfe. Aus seiner Sicht seien die
Voraussetzungen für die Anerkennung der bei der Klägerin vorliegenden Erkrankung des
zentralen Nervensystems als BK Nr. 1305 (BKV) beziehungsweise BK Nr. 17 (BKVO/DDR)
erfüllt, und zwar im Sinne der wesentlichen Teilursache. Der Beginn der Berufskrankheit
lasse sich aufgrund der Aktenlage und der konkurrierenden Einflüsse objektiv nicht mehr
rückwirkend feststellen. Er schlage unter pragmatischen Gesichtspunkten vor,
gegebenenfalls den Zeitpunkt der Berufskrankheitverdachtsmeldung (1. März 1999) als
Beginn der Berufskrankheit anzunehmen. Die MdE betrage 30 v.H. Für den ursächlichen
Zusammenhang zwischen der Arbeitstätigkeit der Klägerin und ihrer Erkrankung auf
neurologischem Gebiet sprächen die zu keiner Zeit bestrittene, mindestens 11-jährige
Exposition gegen Schwefelkohlenstoff als Spinnerin in der M Kunstfaserfabrik zwischen
1959 und 1974 unter erheblicher und kontinuierlicher Überschreitung des damals (und
erst recht des heutigen) geltenden Grenzwertes für CS
2
, die von der Mehrheit der im
Laufe dieses Berufskrankheitenfeststellungsverfahrens mit den
Untersuchungsergebnissen befassten Ärzte/Arbeitspsychologin bestätigte Diagnose
eines toxischen hirnorganischen Psychosyndroms, das zumindest durch eine
einschlägige Querschnittsuntersuchung erwiesene Persistieren von diversen psychischen
Abnormitäten vier Jahre nach zweifelsfreier Expositionsabkehr und die additive Wirkung
der schädigenden Faktoren Schwefelkohlenstoff und Alkohol auf das Nervensystem.
Gegen den Kausalzusammenhang seien die lange Latenzperiode zwischen
Expositionsende (1974) und der ersten, durch Untersuchungsergebnisse
dokumentierten Befunderhebung am Zentralenervensystem (1999), der nicht zu
erbringende Nachweis von krankhaften Befunden oder Beschwerden in diesem
Zeitabschnitt, die als Brückensymptome für die Folgen der stattgehabten
Schwefelkohlenstoffexposition zu werten gewesen wären, sowie die weit gehend
mangelnde wissenschaftliche Erfahrung über Langzeitfolgen und Latenzintervalle bei
chronischen Schwefelkohlenstoffintoxikationen in der Fachliteratur anzuführen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 15. Juni 2004 sowie den Bescheid der
Beklagten vom 27. Januar 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.
Dezember 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Anerkennung
einer Berufskrankheit nach Nr. 1305 - Erkrankung wegen Schwefelkohlenstoff - der
Berufskrankheitenverordnung eine Verletztenrente nach einer MdE von 55 v. H. zu
gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf das von ihr veranlasste und übersandte arbeitsmedizinische
Zusammenhangsgutachten des Prof. Dr. Sch vom 22. Februar 2005 sowie eine
ergänzende Stellungnahme hierzu vom 20. April 2004. Dieser führte unter anderem aus,
die Klägerin leide unter einem pseudoneurasthenischen Syndrom, einem rezidivierenden
Alkoholismus, einem Diabetes mellitus Typ II, einem Bluthochdruck und einem
Lumbalsyndrom. Das pseudoneurasthenische Syndrom stehe in keinem
wahrscheinlichen Zusammenhang mit der beruflichen Exposition gegenüber
Schwefelkohlenstoff im Zeitraum von 1959 bis 1974. Das Krankheitsbild der CS
2
-
Vergiftung sei vielgestaltig und überwiegend durch zerebrale, polyneuritische und
hormonale Störungen gekennzeichnet. Ein Zusammenhang der von der Klägerin seit
1999 geklagten unspezifischen psychiatrischen Beschwerden mit der bereits 1974
beendeten beruflichen Exposition gegenüber Schwefelkohlenstoff sei vor allem
deswegen nicht wahrscheinlich zu machen, weil notwendige „Brückensymptome“ im
Sinne einer chronischen Schwefelkohlenstoffvergiftung nicht vorgelegen hätten. Auf
diese Problematik habe bereits Dr. K zutreffend hingewiesen, aber gemeint, sie dadurch
erklären zu können, dass die Frage einer CS
2
-Intoxikation bis 1999 nicht zielgerichtet
verfolgt beziehungsweise durch die Diskussion um Alkoholismus überlagert worden sei.
Diese Feststellung treffe nicht zu. Im Zeitraum zwischen dem Expositionsende 1974
beziehungsweise zumindest den stationären Aufenthalten von 1977 und 1979 und der
erst wieder ab 1999 (nach der Akutbehandlung wegen eines akuten Alkoholexzesses
Ende 1998/Anfang 1999) dokumentierten Beschwerde- und Befundlage seien keine
krankhaften Veränderungen dokumentiert, die auf eine chronische CS
2
-Vergiftung
hinweisen würden. Dies mache einen ursächlichen Zusammenhang mit der beruflichen
Tätigkeit nicht nur höchst unwahrscheinlich, sondern schließe ihn praktisch aus.
Diesbezüglich sei auch besonders darauf hinzuweisen, dass die Klägerin noch von 1974
bis ins Rentenalter 1994 in der Kantine, in der Landwirtschaft beziehungsweise in der
Gärtnerei gearbeitet habe. Sie sei anschließend bis zum Eintritt in die Altersrente im
August 1998 arbeitslos und nicht etwa arbeitsunfähig gewesen. Hinweise auf ein
chronisches Krankheitsgeschehen, wie es im Falle einer chronischen CS
2
-Schädigung
zu erwarten gewesen wäre, habe es in diesem Zeitraum von fast 25 Jahren offensichtlich
nicht gegeben. Die Annahme eines ursächlichen Zusammenhanges der erstmals 1999
dokumentierten Symptomatik mit der CS
2
-Exposition würde voraussetzen, dass dieser
Stoff ohne entsprechende vorherige Erscheinungen Latenzschäden beziehungsweise
Spätschäden verursache, die noch nach Jahren - im Falle der Klägerin sogar noch 20 bis
25 Jahre nach Expositionsende (April 1974) - zum Ausbruch kommen könnten. Für diese
Annahme gebe es aber keine wissenschaftlichen Belege. CS
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begünstige zwar die
Entwicklung einer Arteriosklerose, die relativ frühzeitig vor allem auch das
Zentralnervensystem betreffen könne. Dies hätte bei der Klägerin aber schon wesentlich
früher zu Symptomen führen müssen. Bei ihr sei bisher aber auch nicht einmal ein
typischer arteriosklerotischer Zustand festgestellt worden. Als berufsunabhängige
Risikofaktoren für eventuelle spätere Schäden dieser Art lägen bei der Klägerin aber ein
Diabetes mellitus und ein Bluthochdruck vor. Die sachlichen Voraussetzungen für die
Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit im Sinne der BK-Nrn. 16 oder 17
der BKVO/DDR beziehungsweise der Nrn. 1202 oder 1305 der aktuellen BKV lägen nicht
vor. Auch aus dem in den Sozialversicherungsausweisen dokumentierten
Krankheitsverlauf ergäben sich im Hinblick auf fehlende Brückensymptome und
berufsunabhängige Krankheitsursachen keine Hinweise auf einen wahrscheinlichen
ursächlichen Zusammenhang zwischen der inzwischen über 30 Jahre zurückliegenden
beruflichen Exposition gegenüber Schwefelkohlenstoff und dem aktuellen seit März 1999
bekannten neurologisch-psychiatrischen Zustand der Klägerin.
Der gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Sachverständiger bestellte Facharzt für
Neurologie/Psychiatrie und Arbeits-/Umweltmedizin Dr. Z hat in seinem Gutachten vom
15. September 2009 unter anderem ausgeführt, die Klägerin leide unter einer toxischen
Enzephalopathie unter dem Bilde eines speziellen psychoorganische Syndroms mit
pseudohysterischer Verhaltenstörung, einem toxischen Sniffing-Syndrom mit den Folgen
eines episodischen Alkoholismus sowie dem Verdacht auf eine toxische vegetative
sensible Polyneuropathie mit den Folgen einer peripheren Gefäßschädigung. Sowohl die
Gutachter, die bei der Klägerin ein toxisches psychoorganisches Syndrom gefunden
hätten, als auch die Gutachter, die als Hauptstörung eine neurotische Fehlhaltung
hätten erkennen wollen, hätten bis zu einem gewissen Grade recht. Beide
Gutachtergruppen hätten aber nicht berücksichtigt, dass die psychometrischen Tests
auf ein spezielles psychoorganisches Syndrom hinweisen würden und die neurotischen
auf ein spezielles psychoorganisches Syndrom hinweisen würden und die neurotischen
Fehlhaltungen organisch bedingte pseudoneurotische Affektstörungen sein könnten.
Sowohl Frau Dr. Sch als auch der Dipl.-Psych. R hätten eigentlich den Widerspruch
zwischen psychischer Verlangsamung und hoher sensomotorischer Genauigkeit in ihren
psychodiagnostischen Befunden dargestellt, aber keine Schlussfolgerungen daraus
gezogen. Alle im vorliegenden Fall tätig gewordenen ärztlichen und psychologischen
Gutachter seien von dem üblicherweise mit der Diagnose psychoorganisches Syndrom
assoziierten Krankheitsbild ausgegangen, nämlich einer im Vordergrund stehenden
Merk- und Konzentrationsschwäche bei einer allgemeinen gleichmäßigen Minderung der
psychischen Leistungsgrößen, wie man es etwa beim psychoorganischen Syndrom durch
zerebrovaskuläre Insuffizienz finde. Sicher finde man dieses Bild auch häufig unter
toxischen Enzephalopathien durch CS
2
. Die toxische Enzephalopathie werde ja vielfach
als Folge einer toxischen zerebralen Gefäßschädigung angesehen. Es gebe aber auch
eine direkte zelluläre Schädigung der Nervenzellen im Gehirn durch CS
2
. Dabei sei in
der Regel nicht das ganze Gehirn betroffen, sondern individuell besonders empfindliche
Nervenzellbereiche. Diese Schäden seien also nicht durch eine allgemeine gleichmäßige
Minderung der psychischen Leistungen ausgezeichnet. Aufgrund der bei der Klägerin
erhobenen leistungspsychologischen Befunde müsse von einer derartigen direkten
zentralen Nervenzellschädigung ausgegangen werden. Der Psychiater Karl Bonhoeffer
habe bereits 1930 die Vielfalt der psychoorganischen Schäden durch
Schwefelkohlenstoff dargestellt, vor allem die Häufigkeit von organisch bedingten
affektiven und Verhaltensstörungen, die er aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit hysterischen
Störungen als pseudoneurotische und pseudohysterische Störungen bezeichnet habe.
Es sei unschwer erkennbar, dass bei der Klägerin sowohl ein spezielles
Enzephalopathiesyndrom mit Störung der Sensomotorik als auch ein organisches
pseudohysterisches Syndrom vorliege. Dieses Syndrom sei durch die durchgeführten
Tests weitestgehend gesichert. Es ergebe sich damit die Frage, ob diese beiden
Syndrome durch Alkohol oder den Diabetes verursacht sein könnten. Dies sei nicht der
Fall. Sowohl die diabetische als auch die ethylische Enzephalopathie würden bevorzugt
mit Störungen des Kurzzeitgedächtnisses und allgemeinen diffusen psychischen
Leistungsminderungen einhergehen, wie sie bei der Klägerin nicht vorliegen würden.
Auch die Frage, ob bei der Klägerin eine prämorbide Debilität mit entsprechenden
Leistungsminderungen vorgelegen habe, sei zu verneinen. Die Klägerin habe ganz am
Anfang ihrer CS
2
-Expositionen die 9. und 10. Klasse mit erfolgreichem Abschluss
nachgeholt. Das sei mit einem Intelligenzquotienten von 65 (Dr. G) oder 70 (Dipl.-Psych.
R) völlig ausgeschlossen. Diese niedrigen IQ-Werte müssten daher später erworben
worden sein, nämlich durch die CS
2
-Expositionen. Ausgehend von einer
pseudoneurotischen Enzephalopathie seien die von 1972 bis 1976 im Ausweis
eingetragenen Diagnosen „Nervosität“, „Nervensystem-Symptome“, „Neurosen“ mit
hoher Wahrscheinlichkeit als Brückensymptome in diesem Sinne zu betrachten. Der
Einwand Prof. Sch, dass hier Diagnosen umgedeutet würden, sei richtig. Wenn
erforderliche differenzialdiagnostische Abwägungen bezüglich einer Diagnosenstellung
von Diagnosestellern nicht erfolgen würden, dann müsse das natürlich nachträglich
geschehen, und das umso mehr, wenn es sich um Diagnosen handle, die häufig als
Verlegenheitsdiagnosen benutzt würden. In der Diskussion um die mögliche CS
2
-
Vergiftung der Klägerin stünde das soeben behandelte psychoorganische Syndrom ganz
im Vordergrund. Dennoch müsse den schon in den sechziger Jahren aufgetretenen
Sensibilitätsstörungen Bedeutung eingeräumt werden. Die Angaben zu diesen
Beschwerden seien glaubwürdig, gerade weil sie konstant vorgetragen würden und kein
psychogener Ausbau der Beschwerden erfolgt sei. Bereits Bonhoeffer habe das
Auftreten von Sensibilitätsstörungen betont. Zu Bonhoeffer´s Zeiten habe es keinen
ENG- und EMG-Nachweis gegeben. Die Diagnose sei rein klinisch gestellt worden. Es sei
aber heute bekannt, dass Schäden an den vegetativen Nerven durch CS
2
und andere
Lösungsmittel sehr häufig seien und zu vegetativen Sensibilitätsstörungen führen
könnten. Diese seien im ENG/EMG nicht nachweisbar. Die Hauterscheinungen an den
Unterschenkeln könnten auf vegetativ bedingte vaskuläre Ursachen der
Sensibilitätsstörungen hinweisen. Die medizinische Abklärung vegetativer und
peripherer-vaskulärer Störungen sei bei der Klägerin bisher vernachlässigt worden. Die
erforderliche Diagnostik sei aufwändig, und ihre Ergebnisse seien differenzialdiagnostisch
beim jetzigen Gesundheitszustand der Klägerin kaum eindeutig einzuordnen. Da die
Enzephalopathie eindeutig im Vordergrund stehe, sei auf die weitere Verfolgung dieser
Diagnostik verzichtet worden. Die Ergebnisse würden keinen erhöhenden Einfluss auf die
MdE haben, die durch die Enzephalopathie bestimmt werde. Im Zusammenhang mit
dem psychischen Befund sei jedoch festzustellen, dass die Sensibilitätserscheinungen
der Klägerin nicht simuliert seien, sondern reale und erlebte Gesundheitsstörungen, die
mit der CS
2
-Exposition zusammenhängen würden. Das Auftreten dieser Symptome in
den sechziger Jahren sei daher auf die Exposition zurückzuführen. Es sei also nicht so,
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den sechziger Jahren sei daher auf die Exposition zurückzuführen. Es sei also nicht so,
dass während der Exposition keine toxischen Symptome bei der Klägerin aufgetreten
seien. Auch die subjektiven psychischen Beschwerden, die von der Klägerin in den
sechziger Jahren als Ermüdung wahrgenommen worden seien, seien als Frühzeichen der
sich entwickelnden Enzephalopathie zu bewerten. Da die Klägerin von Natur aus nicht
klagsam sei, habe sie diese Erscheinungen bei ihrem ersten Auftreten nicht in den
Vordergrund gestellt. Die neurotisch klassifizierten Arbeitsunfähigkeiten ab 1972 seien
als Ausdruck der toxischen Enzephalopathie zu betrachten. Die haftungsbegründende
Kausalität für eine BK durch CS
2
sei voll gegeben. Der passagere und episodische
Alkoholmissbrauch der Klägerin sei durch CS
2
-Sniffing vermittelt und keine typische
chronische Alkoholabhängigkeit. Insofern habe potenziell die stattgehabte CS
2
-
Exposition unmittelbar zu dem Alkoholmissbrauch beigetragen. Die MdE durch die
toxische Enzephalopathie betrage 55 v. H., denn es könnten höhere thematische
Integrationsleistungen vom Gehirn nicht mehr bewältigt werden. Soweit Dr. K eine MdE
von 30 v. H. vorgeschlagen habe, beziehe sich dies auf neuere Expositionsszenarien mit
nur geringen und gelegentlichen MAK-Überschreitungen. Er habe selbst am
Zentralinstitut für Arbeitsmedizin langjährig Hochexponierte aus dem Zellwollwerk W
untersucht. Minderungen der Erwerbsfähigkeit bis 60 oder gar 70 v. H. seien keine
Seltenheit gewesen. Die CS
2
-Konzentrationen seien denen in P vergleichbar gewesen.
Auch aus der Tschechoslowakei seien ähnlich hohe Entschädigungen berichtet worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der
Beteiligten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, aber
unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene
Bescheid in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid erhalten hat, ist
rechtmäßig und beschwert die Klägerin nicht. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf
Anerkennung einer Berufskrankheit und dementsprechend keinen Anspruch auf
Gewährung entsprechender Leistungen.
Anders als vom Sozialgericht angenommen ist vorliegend einzig und allein das ab dem
01. Januar 1997 geltende Siebente Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) anzuwenden, denn
es lässt sich nicht feststellen, dass ein möglicher Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten
des SGB VII eingetreten wäre (§ 212 SGB VII). Keiner der im Laufe des Verfahrens
gehörten Sachverständigen oder Gutachter konnte einen Versicherungsfall vor dem 01.
Januar 1997 feststellen. Der Gutachter Dr. K hat als Zeitpunkt des Eintritts des
Versicherungsfalles mangels eines anderen plausiblen Zeitpunktes den Tag der
Berufskrankheitenverdachtsanzeige vorgeschlagen, dem schließt sich der Senat an. Ein
anderer nachvollziehbarer Zeitpunkt für den Beginn der bei der Klägerin vorliegenden
Gesundheitsstörungen lässt sich nicht feststellen.
Berufskrankheiten sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII, Krankheiten, die die
Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche
bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder
6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Zu den vom Verordnungsgeber
bezeichneten Berufskrankheiten gehören nach Nr. 1305 der Anlage zur BKV
Erkrankungen durch Schwefelkohlenstoff.
Voraussetzung für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als
Berufskrankheit ist, dass die vorliegende Erkrankung konkret individuell durch
entsprechende Einwirkungen des Stoffes wesentlich verursacht bzw. verschlimmert
worden ist und dass die Einwirkungen wesentlich durch die versicherte Tätigkeit
verursacht worden sind. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die
durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im
Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit -
nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als
Voraussetzung für die Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht
geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die
(hinreichende) Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht
(ständige Rechtsprechung, vgl. nur BSG Urteil vom 02. Mai 2001, Az. B 2 U 16/00 R SozR
3-2200 § 551 RVO Nr. 16 m.w.N.). Eine solche Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn
nach vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden
Faktoren ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass die richterliche Überzeugung
hierauf gestützt werden kann (BSG, Urteil vom 06. April 1989, Az. 2 RU 69/87, zitiert
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hierauf gestützt werden kann (BSG, Urteil vom 06. April 1989, Az. 2 RU 69/87, zitiert
nach Juris; Urteil vom 02. Februar 1978, Az. 8 RU 66/77, BSGE 45, 285, 286).
Unter Beachtung dieser Vorgaben hat die Klägerin zur Überzeugung des Senats keinen
Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen der BK Nr. 1305 vorliegen,
denn es lässt sich zwischen den seit März 1999 diagnostizierten Erkrankungen und den
bis zur Aufgabe der Tätigkeit 1974 auf die Klägerin einwirkenden schädlichen
Expositionen kein ursächlicher Zusammenhang herstellen.
Unstreitig war die Klägerin von 1959 bis 1974 bei Berücksichtigung sämtlicher
krankheits- und schwangerschaftsbedingter Ausfälle in einem Zeitraum von ca. 11,5
Jahren Schwefelkohlenstoffen in gefährdender Höhe ausgesetzt, wie sich auch aus der
Stellungnahme des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten vom 21. Mai 1999
ergibt. Hier schätzte der Technische Aufsichtsbeamte Dipl.-Chem. S ein, dass die
Klägerin erhöhten CS
2
-Expositionen ausgesetzt gewesen sei, so dass die
arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Entstehung einer Berufskrankheit nach der
BK Nr. 1305 gegeben seien.
Es erscheint jedoch schon fraglich, ob bei der Klägerin ein Krankheitsbild gefunden
werden kann, welches (überhaupt) durch eine CS
2
-Exposition hervorgerufen werden
kann. Die Klägerin klagt seit 1999 eine Vielzahl unspezifischer psychiatrischer
Beschwerden, die dazu geführt haben, dass die im vorliegenden Fall bisher tätigen
Sachverständigen und Gutachter unterschiedliche Diagnosen gestellt haben. So hat der
im erstinstanzlichen Verfahren zum Sachverständigen bestellte Prof. Dr. Ch eine
Somatisierungsstörung diagnostiziert, eine Polyneuropathie konnte er bei der Klägerin
nicht feststellen. Die von der Klägerin beauftragten Dr. G und Dr. Dr. B fanden ein
schweres hirnorganisches Psychosyndrom; Dr. G bestätigte zusätzlich eine
Polyneuropathie. Der ebenfalls von der Klägerin beauftragte Dr. K führte aus, die bei der
Klägerin beschriebenen unterschiedlichen Gesundheitsstörungen auf neuro-psychischem
Gebiet würden weitestgehend denen einer toxischen Enzephalopathie bzw. einem
psychoorganischen Syndrom entsprechen; er verneinte eine Polyneuropathie
ausdrücklich. Der gemäß § 109 SGG als Sachverständiger bestellte Dr. Z diagnostizierte
eine toxische Enzephalopathie unter dem Bilde eines speziellen psychoorganischen
Syndroms mit pseudohysterischer Verhaltenstörung, ein toxisches Sniffing-Syndrom mit
den Folgen eines episodischen Alkoholismus sowie den Verdacht auf eine
Polyneuropathie. Der von der Beklagten beauftragte Gutachter Prof. Dr. Sch stellte bei
der Klägerin ein pseudoneurasthenisches Syndrom fest. Der im Verwaltungsverfahren
tätige Gutachter Dr. K fand eine dissoziative Störung.
Nach Auswertung dieser medizinischen Sachverständigengutachten und
Stellungnahmen steht für den Senat fest, dass eine Polyneuropathie bei der Klägerin
nicht mit der erforderlichen Sicherheit, d. h. im Vollbeweis, festgestellt werden kann.
Einzig die Gutachterin Dr. G bejaht eine solche Polyneuropathie, legt ihrer
Diagnosestellung aber überwiegend die Symptombeschreibungen der Klägerin
zugrunde. Demgegenüber stellt u. a. auch der Gutachter Dr. K für den Senat
überzeugend und nachvollziehbar fest, dass wiederholte klinische und
elektroneurographische Untersuchungen eine Polyneuropathie nicht haben bestätigen
können. Dem steht auch nicht die Verdachtsdiagnose des Sachverständigen Dr. Z
entgegen, denn auch dieser konnte die Polyneuropathie nicht nachweisen, sondern
äußert lediglich den Verdacht auf das Vorliegen einer solchen.
Auch ein schweres hirnorganisches Psychosyndrom bzw. eine toxische Enzephalopathie
lassen sich zur Überzeugung des Senates nicht mit der notwendigen Sicherheit
diagnostizieren. Überzeugend hat der Sachverständige Dipl.-Psych. R ausgeführt, dass
eine hirnorganische Genese der bei der Klägerin vorliegenden Leistungsminderung zwar
nicht ausgeschlossen, aber aufgrund der deutlichen Aggravationstendenz auch nicht
verifiziert werden könne. Allein die Möglichkeit einer Erkrankung reicht jedoch nicht aus,
die Krankheit muss vielmehr im Vollbeweis nachgewiesen sein. Auch der
Sachverständige Dr. Z führt aus, dass die von ihm gestellte Diagnose eines organischen
pseudohysterischen Syndroms lediglich durch die von ihm durchgeführten Tests
weitestgehend gesichert sei. Soweit er im Übrigen ausführt, dass es unschwer erkennbar
sei, dass bei der Klägerin sowohl ein spezielles enzephalopathisches Syndrom mit
Störung der Sensomotorik als auch ein organisches pseudohysterisches Syndrom
vorliegen, kann sich der Senat dem nicht anschließen. Dagegen, dass diese Erkrankung
„unschwer erkennbar“ sei, sprechen die doch sehr unterschiedlichen Diagnosen, die
bereits oben dargestellt wurden.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass die bei der Klägerin beschriebenen
unterschiedlichen Gesundheitsstörungen auf neuro-psychischem Gebiet weitestgehend
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unterschiedlichen Gesundheitsstörungen auf neuro-psychischem Gebiet weitestgehend
denen einer toxischen Enzephalopathie bzw. dem psychoorganischen Syndrom
entsprechen, wie dies die Gutachter Dr. K, Dr. Z und im Ergebnis ähnlich Dr. G und Dr.
Dr. B getan haben, fehlt es zur Überzeugung des Senates an dem hinreichend
wahrscheinlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen Erkrankung und schädigenden
Einwirkungen. Denn allein das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen reicht
zur Bejahung einer Berufskrankheit nicht aus, es muss vielmehr auch der kausale
Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und den bei der Klägerin
vorliegenden Gesundheitsstörungen hinreichend wahrscheinlich sein.
Bereits Dr. G hatte in ihrem Gutachten vom 25. Juni 2000 ausgeführt, das das Vorliegen
einer BK Nr. 1305 wahrscheinlich sei, retrospektiv jedoch eine 100-prozentige
Beweisführung hinsichtlich des Kausalzusammenhanges schwierig sei. Ähnliches hat Dr.
Dr. B in seinem Gutachten vom 16. November 2002 ausgeführt: „wegen der
komplizierten Zusammenhänge gibt es niemanden, der eindeutig eine Kausalität
belegen könne. Andererseits führte er aus, die toxische Substanz mache im Bereich der
Psyche ausgesprochen diffuse Beschwerden. Ähnlich verhalte sich aber auch der Alkohol
als toxische Substanz. Dr. K weist in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 02. Mai
2007 selbst daraufhin, dass insbesondere der nicht zu erbringende Nachweis von
krankhaften Befunden oder Beschwerden in dem Zeitabschnitt von 1974 bis 1999, die
als Brückensymptomatik für die Folgen der stattgehabten Schwefelkohlenstoffexposition
zu werten gewesen wären, gegen einen Kausalzusammenhang sprechen würden. Sehr
ausführlich befasst sich mit diesem Problem auch der Gutachter Prof. Dr. Sch in seiner
ergänzenden Stellungnahme vom 20. April 2006 unter Auswertung der SV-Ausweise und
der in ihnen enthaltenen Diagnosen. Soweit der Sachverständige Dr. Z die 1972 bis
1976 im Versicherungsausweis eingetragenen Diagnosen „Nervosität“, „Nervensystem-
Symptome“ und „Neurosen“ mit hoher Wahrscheinlichkeit für Brückensymptome hält,
vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen, denn um hierin Brückensymptome für
die von ihm diagnostizierten pseudoneurotischen Enzephalopathien zu sehen, muss er
die eigentlich niedergelegten Diagnosen zunächst umdeuten.
Soweit der Sachverständige Dr. Z ausführt, eine prämorbide Debilität der Klägerin liege
nicht vor, da sie am Anfang der CS
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-Exposition die 9. und 10. Klasse (1970 bis 1972)
nachgeholt habe, schließt sich der Senat dieser Einschätzung an. Auch zum Ende der CS
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-Exposition hin waren jedoch nach Aussagen der Klägerin noch
Qualifizierungsmaßnahmen zur Meisterin geplant. 1984, also 10 Jahre nach Ende der
Exposition, hat sie eine weitere Qualifizierungsmaßnahme erfolgreich abgeschlossen.
Auch zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin offensichtlich ausreichend geistig belastbar.
Soweit der Sachverständige Dr. Z hieraus schließt, dass die von Dr. Ge und Dipl.-Psych.
R gefundenen niedrigen IQ-Werte später erworben worden sein müssen, ist dies für den
Senat nachvollziehbar, nicht nachvollziehbar ist jedoch der Schluss, dass dies durch die
1974 beendete CS
2
-Exposition erfolgt sein müsse. Differenzialdiagnostisch dürfte hier
ebenso der spätestens 1979 beginnende Alkoholabusus in Betracht kommen. Im
Übrigen enden auch die von Dr. Z angenommenen Brückensymptome spätestens 1976.
Es würde sich auch nichts anderes ergeben, wenn man die Voraussetzungen der
Anerkennung einer Berufskrankheit - wie vom Sozialgericht vorgenommen - unter der
Annahme des Eintritts eines Versicherungsfalles vor dem 01. Januar 1992 prüft. Gemäß
§ 215 Abs. 1 S. 1 SGB VII ist für die Übernahme der vor dem 01. Januar 1992 im
Beitrittsgebiet eingetretenen Unfälle und Krankheiten als Arbeitsunfälle und
Berufskrankheiten nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung § 1150 Abs. 2
und 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der bis zum 31. Dezember 1996
geltenden Fassung weiter anzuwenden. Gemäß § 1150 Abs. 2 RVO gelten als
Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des Dritten Buches (der RVO) Unfälle und
Krankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und die nach dem im
Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der
Sozialversicherung waren. Dies gilt nicht für Unfälle und Krankheiten, die einem ab 1.
Januar 1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach
dem 31. Dezember 1993 bekannt werden und die nach dem Dritten Buch (der RVO)
nicht zu entschädigen wären. Sind Versicherungsfälle somit vor dem 01. Januar 1992
eingetreten und wie hier dem Versicherungsträger erst nach dem 01. Dezember 1993
gemeldet worden, müssen sowohl die Voraussetzungen der Anerkennung einer
Berufskrankheit nach dem Dritten Buch der RVO als auch nach dem Recht des
Beitrittsgebietes vorliegen. Da die Voraussetzungen nach dem Dritten Buch der RVO, die
denen des SGB VII entsprechen, wie oben dargestellt, nicht vorliegen, kommt es auf die
Prüfung des Rechts des Beitrittsgebietes nicht mehr an.
Nach alledem ist die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
36 Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, sie folgt dem Ergebnis in der
Hauptsache. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2
SGG liegen nicht vor.
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