Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 31.05.2000

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Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 31.05.2000 (rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 73 Kr 1075/98
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 15 KR 6/99
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. April 1999 wird
zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Krankenkasse verpflichtet ist, die Kosten für eine privatärztlich
durchgeführte Extrakorporale Stoßwellen (ESW)-therapie an der linken Schulter des Klägers in Höhe von 1.275,00 DM
zu erstatten.
Der 1950 geborene Kläger ist freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten. Er leidet an einer Verkalkung der rechten
und linken Schulter (Tendinosis calcarea).
Die Beklagte gewährte dem Kläger im März 1998 einen Kostenzuschuss in Höhe von 1.275,00 DM für eine an der
rechten Schulter durchgeführte ESW-Therapie. Der Kläger beantragte im Juli 1998 auch eine Kostenbeteiligung der
Beklagten in Höhe von 1.275,00 DM für die Behandlung der linken Schulter und legte hierzu eine ärztliche
Bescheinigung des Arztes für Orthopädie H. M.vom 16. Juli 1998 vor. Hiernach sei es bereits nach dreimaliger ESW-
Therapie bei der rechten Schulter zu einer radiologisch deutlichen Rückbildung der Verkalkung gekommen und der
Erfolg dokumentiert. Bei gleichem Leiden an der linken Schulter sei ebenfalls eine ESW-Therapie mit guten
Erfolgsaussichten indiziert.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 24. Juli 1998 die Gewährung eines Zuschusses für die ESW-Behandlung ab
und führte zur Begründung aus, dass die ESW-Therapie nicht mehr zu den vertragsärztlichen Leistungen der
gesetzlichen Krankenkassen gehöre. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung habe keine Möglichkeit der
Befürwortung mehr gesehen.
Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30. September 1998).
Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger geltend gemacht, dass die bisherigen anderen Behandlungen keine
Linderung der Beschwerden gebracht hätten. Die ESW-Therapie stelle die geringste Beeinträchtigung und Belastung,
insbesondere gegenüber der Operation dar. Nach der Behandlung der rechten Schulter sei er schmerzfrei und auch die
nunmehr durchgeführte Behandlung der linken Schulter (Behandlungstage am 29. Juli, 2. und 30. September 1998 und
13. Januar 1999; Rechnungen Bl. 44 - 47 Gerichtsakte) habe zur Schmerzfreiheit geführt. Entgegen der Entscheidung
des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen handele es sich bei der ESW-Therapie um eine
wissenschaftlich anerkannte Maßnahme.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30. April 1999 abgewiesen und zur Begründung im
Wesentlichen ausgeführt: Eine Kostenübernahme für die ESW-Therapie sei bei orthopädischen, chirurgischen und
schmerztherapeutischen Indikationen nicht möglich. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen habe diese
Methode in die Anlage „B“ seiner Richtlinien über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden
und über die Überprüfung erbrachter vertragsärztlicher Leistungen gemäß § 135 Abs. 1 i. V. m. § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr.
5 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) aufgenommen. In dieser Anlage seien diejenigen Methoden aufgeführt, die
nicht als vertragsärztliche Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden dürfen. Eine derartige
Entscheidung sei von der Verwaltung und den Gerichten zu beachten.
Gegen den ihm am 31. Mai 1999 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit seiner Berufung vom 24.
Juni 1999 und verfolgt sein Begehren auf Kostenerstattung fort. Er meint, der Bundesausschuss der Ärzte und
Krankenkassen habe die ESW-Therapie zu Unrecht in die Anlage „B“ aufgenommen, da er seine Entscheidung ohne
Berücksichtigung des aktuellen Standes des Wissens im medizinisch-wissenschaftlichen Bereich getroffen habe. Für
ihn habe keine Alternative zur durchgeführten Behandlung bestanden, insbesondere sei eine Operation mit den
unabwägbaren Risiken abzulehnen gewesen. Im Übrigen sei die Entscheidung des Bundesausschusses der Ärzte und
Krankenkassen vom 24. April 1998, die erst im Bundesanzeiger am 25. Juli 1998 veröffentlicht worden sei, und erst
einen Tag später Gültigkeit erlangt habe, für seinen Fall nicht einschlägig. Die Beklagte habe ihren ablehnenden
Bescheid bereits zuvor am 24. Juli 1998 erlassen und sich damit zu Unrecht auf die zu diesem Zeitpunkt noch nicht
in Kraft getretene Regelung berufen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. April 1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Juli
1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. September 1998 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, ihm 1.275,00 DM für die an der linken Schulter durchgeführte ESW-Therapie zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat eine Auskunft des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen - Arbeitsausschuss „Ärztliche
Behandlung“ - vom 16. März 2000 eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen
und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese
Unterlagen haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht die Klage abgewiesen. Der
Kläger hat keinen Anspruch auf Kostenerstattung für die an der linken Schulter durchgeführte ESW-Therapie.
Als Rechtsgrundlage für den Kostenerstattungsanspruch kommt allein § 13 Abs. 3 SGB V in Betracht. Danach hat die
Krankenkasse, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu
Unrecht abgelehnt hat, dem Versicherten die für die Beschaffung der Leistung aufgewendeten Kosten zu erstatten.
Der Kostenerstattungsanspruch tritt an die Stelle eines an sich gegebenen Leistungsanspruchs, den die Kasse infolge
eines Versagens des Beschaffungssystems nicht erfüllt hat. Er kann deshalb nur bestehen, soweit die
selbstbeschaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, welche die gesetzlichen Krankenkassen als Sach-
oder Dienstleistung zu erbringen haben. Dies ist hier nicht der Fall, so dass offen bleiben kann, nach welcher der
beiden Alternativen des § 13 Abs. 3 SGB V der Anspruch gegebenenfalls zu beurteilen wäre und ob deren weitere
Voraussetzungen erfüllt sind.
Es handelt sich bei der Behandlung der Schulter des Klägers mittels ESW-Therapie um eine Therapiemaßnahme, die
nicht im Rahmen der vertragsärztlichen Leistung erbracht werden darf bzw. erbracht werden durfte (so auch: LSG-
Berlin, 9. Senat, Urteil vom 3. November 1999 - L 9 KR 85/98 -).
Nach § 135 Abs. 1 SGB V dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen
Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur dann erbracht werden, wenn die Bundesausschüsse der Ärzte und
Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V Empfehlungen u. a. über die Anerkennung des
diagnostischen und therapeutischen Nutzens der Methode abgegeben haben (vgl. BSG SozR 3 - 2500 § 135 Nrn. 4
und 5). § 135 Abs. 1 SGB V bezweckt die Sicherung der Qualität der Leistungserbringung in der gesetzlichen
Krankenversicherung; es soll gewährleistet werden, dass neue medizinische Verfahren nicht ohne Prüfung ihres
diagnostischen bzw. therapeutischen Nutzens und etwaiger gesundheitlicher Risiken in der vertragsärztlichen
Versorgung angewandt werden. Die Regelung ist deshalb in der Art eines Verbots mit Erlaubnisvorbehalt gefasst.
Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sind so lange von der Abrechnung zu Lasten der Krankenkasse
ausgeschlossen, bis der Bundesausschuss sie als zweckmäßig anerkannt hat (BSG SozR 3 - 2500 § 135 Nr. 4, S.
14).
Eine solche positive Feststellung liegt bislang für die ESW-Therapie bei orthopädischen, chirurgischen und
schmerztherapeutischen Indikationen nicht vor. Vielmehr ist die ESW-Therapie bei diesen Indikationen durch
Beschluss des Bundesausschusses vom 24. April 1998 zu den Richtlinien über die Einführung neuer Untersuchungs-
und Behandlungsmethoden und über die Überprüfung erbrachter vertragsärztlicher Leistungen in die Anlage B („nicht
anerkannt“) Nr. 2 als Methode aufgenommen worden, die nicht als vertragsärztliche Leistung zu Lasten der
Krankenkassen erbracht werden darf (BAnz 1998, S. 10507). Durch Beschluss des Bundesausschusses vom 10.
Dezember 1999 - veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 56 vom 21. März 2000 - sind die geltenden Beschlüsse in die
Richtlinien über die Bewertung ärztlicher Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gemäß § 135 Abs. 1 SGB V und
ihren Anlagen A („anerkannt“) und B („nicht anerkannt“) übergeleitet worden und die streitbefangene ESW-Therapie
nunmehr in der Anlage B Nr. 23 aufgeführt.
Insofern bestand weder im Zeitpunkt der Antragsstellung im Juli 1998 noch im Zeitpunkt der erfolgten
Therapiesitzungen am 29. Juli, 2. und 30. September 1998 und 13. Januar 1999 ein Anspruch auf Kostenübernahme
bzw. Kostenerstattung für die ESW-Therapie. Mithin geht auch der vom Kläger wiederholt vorgetragene Hinweis auf
die erst im Bundesanzeiger am 25. Juli 1998 veröffentlichte negative Entscheidung des Bundesausschusses der
Ärzte und Krankenkassen fehl. Denn eine Leistungspflicht der Krankenkassen bestand auch vor diesem Zeitpunkt
nicht. Damit entsprach die von der Beklagten übernommene Kostenbeteiligung als sogenannte Einzelfallentscheidung
auch nicht der geltenden Rechtslage.
Da es sich bei den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen um untergesetzliche
Rechtsnormen handelt, die in Verbindung mit § 135 Abs. 1 SGB V verbindlich festlegen, welche neuen
Untersuchungs- und Behandlungsmethoden Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung sind, kann der Kläger nicht
einwenden, die nicht anerkannte Methode sei gleichwohl zumindest in seinem konkreten Einzelfall zweckmäßig und
wirksam (BSG SozR 3 - 2500 § 135 Nr. 4, S. 20). Mithin war dem sinngemäß gestellten Beweisantrag des Klägers
nach Einholung eines Gutachtens zur Klärung der Frage, dass die ESW-Behandlung für ihn die einzige medizinisch
sinnvolle und erfolgversprechende Behandlungsmethode gewesen sei (Schriftsatz vom 26. Mai 2000), nicht von
Seiten des Senats nachzukommen.
Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Verfahren vor dem Bundesausschuss dem Zweck der
Ermächtigung oder rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprochen haben könnte (vgl. BSG SozR 3 - 2500 § 13 Nr. 17,
S. 81). Der Auskunft des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen ist zu entnehmen, dass der
Arbeitsausschuss „Ärztliche Behandlung“, nach dem mit Datum vom 28. Oktober 1997 die Beratung durch die
Kassenärztliche Bundesvereinigung beantragt worden war, seine Entscheidung nach Eingang der eingeholten
Stellungnahmen, sowie Recherche und Aufarbeitung der wissenschaftlichen Literatur getroffen hat. Der Vorsitzende
des Arbeitsausschusses „Ärztliche Behandlung“ führt in der Auskunft vom 16. März 2000 u. a. aus, dass die aktuelle
Analyse und Bewertung aller Stellungnahmen, der wissenschaftlichen Literatur und sonstigen Fundstellen keinen
hinreichenden Beleg für die Wirksamkeit und medizinische Notwendigkeit bei den verschiedenen Indikationen belegen
konnte. Untersuchungen zu Langzeitnebenwirkungen der ESW-Therapie hätten nicht vorgelegen, obwohl die Methode
bereits seit Jahren an Patienten erprobt werde. Insgesamt seien alle Artikel und Berichte, die die Methode
befürworteten, hinsichtlich ihrer Evidenz allenfalls auf Stufe II c der Beurteilungsrichtlinien des Bundesausschusses
der Ärzte und Krankenkassen einzuordnen gewesen. Auf Grund des fehlenden Wirksamkeitsnachweises und des
Fehlens von Studien mit einer ausreichenden Nachbeobachtungszeit, die die behauptete Sicherheit des Verfahrens
belegen könnten, habe der Arbeitsausschuss keine Möglichkeit gesehen, die ESW-Therapie für die vertragsärztliche
Versorgung anzuerkennen. Auch nach der Beschlussfassung im Jahr 1998 hätten wissenschaftliche Arbeiten keine
weiterführenden Informationen zum Nutzen, zur Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit erbracht, oder sie bestätigten die
Schlussfolgerungen des Bundesausschusses.
Im Hinblick darauf sah sich der Senat, trotz der vom Kläger im Schriftsatz vom 26. Mai 2000 geforderten weiteren
Sachverhaltsaufklärung und für notwendig erachteten Beweiserhebung, nicht veranlasst, weitere Ermittlungen
anzustellen. Soweit der Kläger darauf abstellt, der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen habe seiner
Entscheidungsfindung nicht aktuell vorliegendes wissenschaftliches Material, sondern hauptsächlich ein Gutachten
aus dem Jahr 1996 zu Grunde gelegt, entspricht dies nicht den Tatsachen. In der eingeholten Auskunft des
Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen - Arbeitsausschuss „Ärztliche Behandlung“ - wird ausgeführt, der
Ausschuss habe alle aktuellen Stellungnahmen, die maßgebliche wissenschaftliche Literatur sowie ein umfassendes
HTA-Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) von 1996 in die Abwägung einbezogen.
Darüber hinaus ergibt sich aus dem in der Auskunft benannten Abschlussbericht des Arbeitsausschusses „Ärztliche
Behandlung“, dass der Arbeitsausschuss ebenso die Stellungnahmen der Deutschen Gesellschaft für Extrakorporale
Stoßwellentherapie (DGST) bzw. der IGESTO, dort eingegangen am 3. März 1998, und die in dieser Stellungnahme
aufgeführte wissenschaftliche Literatur analysiert, bewertet und abwägend in seine Entscheidung einbezogen hat (3.7.
= S. 4 des Abschlussberichts). Ferner zeigt sich aus dem Literaturverzeichnis die Berücksichtigung
wissenschaftlicher Literatur bis zum Jahr 1998 (10 = S. 36 bis 38 des Abschlussberichts). Insbesondere wurde zu
dem Gutachten des MDK aus dem Jahr 1996 eine aktuelle schriftliche Stellungnahme des Projektleiters vom 28.
Januar 1998 eingeholt (7.2 = S. 22 des Abschlussberichtes) und des Weiteren wurden die in der Stellungnahme der
DGST/IGESTO benannten Bücher (J.-D. Rompe: Extrakorporale Stoßwellentherapie; Grundlagen, Indikationen,
Anwendungen, Chapman & Hall Verlag 1997; M. Loew, J.-D. Rompe: Stoßwellenbehandlung bei orthopädischen
Erkrankungen, Bücherei des Orthopäden, Band 71. Enke-Verlag 1998; C. Chaussey, F. Eisenberger, D. Jocham, D.
Wilbert: High Energy Shockwaves in Medicine, Thieme Verlag 1997; W. Siebert, M. Buch: Extracorporeal
Shockwaves in Orthopaedics, Springer Verlag 1997) diskutiert und bewertet (7.3 = S. 23; 7.4.4. = S. 33 des
Abschlussberichtes).
Die Berufung war nach alledem zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht
vorliegen.