Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 10.02.2006
LSG Berlin und Brandenburg: bedingung, umgestaltung, vertretung, beratungspflicht, amtshandlung, hinweispflicht, hauptsache, gerichtsakte, genehmigung, hinterbliebenenrente
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 10.02.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 35 RA 4847/00
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 1 RA 24/03
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin macht einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auf Zulassung zur Nachentrichtung nach § 21 Abs. 1
Satz 2 und 3 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung
(WGSVG) geltend. Sie ist die Witwe des am 9. September 1998 verstorbenen J S.
Mit Schreiben vom 17. November 1980 beantragte J S durch seinen damaligen Bevollmächtigten Rechtsanwalt P
unter anderem, die "Genehmigung zur Nachentrichtung gem. RRG von Mindestbeiträgen nach Inkrafttreten der
Zusatzvereinbarung zum deutsch – israelischen Sozialversicherungsabkommen zu erteilen". Mit Bescheid vom 10.
Dezember 1985 stellte die Beklagte fest, dass J S zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge für den Zeitraum von
Januar 1956 bis Juni 1980 berechtigt sei. J S zahlte daraufhin Beiträge in Höhe von 31.752 DM an die Beklagte.
Diese bewilligte mit Bescheid vom 9. September 1986 die Zahlung von Altersruhegeld ab dem 1. Dezember 1980
aufgrund der freiwilligen Beiträge.
Mit Bescheid vom 15. April 1985 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 9. April 1986 lehnte die Beklagte
einen Antrag auf Anerkennung von Versicherungszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) ab. Mit Schreiben vom
2. Januar 1990 beantragte Rechtsanwalt P, die Rentenneuberechnung unter Berücksichtigung der im
Vertreibungsgebiet zurückgelegten Versicherungszeiten gemäß § 17 Abs. 1b FRG vorzunehmen. Sollte dabei eine
neue Zahlungserklärung und Vollmacht erforderlich sein, bitte er um entsprechende Rückäußerung bzw. Übersendung
des entsprechenden Formulars.
Mit Bescheid vom 3. September 1990 stellte die Beklagte für die Zeit ab 1. Januar 1986 das Altersruhegeld neu fest.
Sie erkannte dabei Pflichtbeitragszeiten von Januar 1936 bis Juli 1939 sowie Verfolgungszeiten von November 1939
bis Januar 1945 an.
Nach Versterben ihres Ehemannes beantragte die Klägerin die Zahlung einer Hinterbliebenenrente. Die Beklagte
bewilligte mit Bescheid vom 25. März 1999 eine große Witwenrente ab dem 1. Oktober 1998.
Mit Schreiben vom 18. Oktober 1999 beantragte die Klägerin die Zulassung der Nachentrichtung nach § 21 Abs. 1
Satz 2 und 3 WGSVG im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Aufgrund der nach § 14 Abs. 1
Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) bestehenden Verpflichtung zu beraten sei die Beklagte verpflichtet gewesen,
alle Ansprüche zu prüfen, die sich aus dem Antrag ergeben hätten. Auch bei Vertretung des Versicherten durch einen
rechtskundigen Bevollmächtigten sei die Beklagte verpflichtet, auf nahe liegende Gestaltungsmöglichkeiten
hinzuweisen, wenn sich die erkennbar drohenden Nachteile als besonders schwerwiegend darstellten. Zur Wahrung
der Beratungspflicht hätte ein Hinweis hinsichtlich der Nachentrichtungsmöglichkeit nach § 21 WGSVG ausgereicht.
Tatsächlich sei jedoch in keiner Weise auf diese Gestaltungsmöglichkeit hingewiesen worden, obgleich sowohl die
Vorschrift des § 17 Abs. 1b FRG als auch die direkt darauf Bezug nehmende Vorschrift des § 21 WGSVG in Form
des Rentenreformgesetzes 1992 eingefügt bzw. berichtigt worden seien. Speziell zu diesen beiden Vorschriften hätten
im Jahr 1990 in den hiervon betroffenen Dezernaten der Beklagten Schulungsveranstaltungen stattgefunden, so dass
jeder am Verfahren beteiligte Mitarbeiter sofort auf diese offen zu Tage getretene Gestaltungsmöglichkeit hätte
hinweisen können und müssen.
Mit Bescheid vom 14. Juli 2000 lehnte die Beklagte den Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen nach § 21 WGSVG
ab. Die gesetzliche Antragsfrist sei nicht eingehalten. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch bestehe nicht. Den
Widerspruch hiergegen wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16. Oktober 2000 zurück. Hiergegen hat die
Klägerin am 25. Oktober 2000 Klage erhoben. Das Sozialgericht hat im Erörterungstermin am 8. Januar 2003 den
früheren Bevollmächtigten des verstorbenen Ehemannes der Klägerin, Rechtsanwalt W P sowie den von diesem mit
Rentengutachten beauftragten Betriebswirt H S als Zeugen vernommen. Es hat dann mit Urteil vom 15. Januar 2003
die Klage abgewiesen. Ein rechtzeitiger Antrag nach § 21 WGSVG sei nicht erfolgt. Der Antrag hätte hierzu bis 31.
Dezember 1990 gestellt werden müssen. Ein Anspruch, im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zur
Nachentrichtung bzw. zur Umgestaltung der Nachentrichtung zugelassen zu werden, scheitere, weil ein
Beratungsfehler nicht vorliege. Die Beklagte habe zum einen nicht generell auf die Gestaltungsmöglichkeiten
hinweisen müssen. Zum anderen bestehe unabhängig hiervon jedenfalls keine konkrete Beratungspflicht aufgrund der
rechtskundigen Vertretung des J S im Jahre 1990.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin. Diese ist nicht begründet worden.
Dem schriftsätzlichen Vorbringen lässt sich der Antrag der Klägerin entnehmen,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Januar 2003 sowie den Bescheid vom 14. Juli 2000 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Umgestaltung der
vom verstorbenen Ehemann der Klägerin nach Artikel 12 DV/DISVA durchgeführten Nachentrichtung gemäß § 21
Abs. 1 Satz 2 und 3 WGSVG zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die Akte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Es konnte entschieden werden, obgleich in der mündlichen Verhandlung für die Klägerin niemand erschienen ist. Die
Beteiligten sind nach § 110 Abs. 1 Satz 2 SGG darauf hingewiesen worden, dass im Falle des Ausbleibens nach Lage
der Akten entschieden werden kann.
Die Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet.
Der Klägerin steht kein Anspruch auf eine neue Nachentrichtung nach §§ 21, 10 WGSVG im Wege eines so
genannten sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zu. Die Ablehnung dieses Begehrens ist rechtmäßig und beschwert
die Klägerin nicht (§ 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Die Voraussetzungen eines Herstellungsanspruches sind nicht erfüllt. Ein solcher setzt eine Pflichtverletzung
gegenüber dem Betroffenen voraus, welche zumindest mitursächlich einen Nachteil des Betroffenen bewirkt hat. Die
Pflicht muss darauf gerichtet sein, vor diesem Nach
teil zu schützen (Schutzzweckzusammenhang). Außerdem muss sie zumindest gleichwertige Bedingung für die
Rechtsbeeinträchtigung gewesen sein. Der Nachteil muss schließlich durch eine rechtlich zulässige Amtshandlung
beseitigbar sein (vgl. BSG, Urt. v. 25. Januar 1996 –7 Ar 60/94- SozR 3200 § 86a Nr. 2; Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer-Meyer-Ladewig SGG § 131 Randnr. 4a mit weiteren Rechtssprechungsnachweisen).
Hier scheitert ein Herstellungsanspruch jedenfalls an der Voraussetzung der zumindest gleichwertigen Bedingung
einer etwaigen Beratungspflichtverletzung für die Rechtsbeeinträchtigung:
Die Verletzung der Hinweispflicht muss die wesentliche Bedingung für die Beeinträchtigung des sozialen Rechts
gewesen sein. Nur dann ist nämlich im Rentenversicherungsrecht gerechtfertigt, die im Einwand der verspäteten
Antragstellung gesetzlich ausgestalteten Wertung "herstellungsrechtlich" zu verdrängen (so BSG, Urteil vom 6. März
2003 – B 4 RA 38/02 R – BSGE 91,1 = SozR 4-2600 § 115 Nr. 1 Randnr. 61 zu § 99 SGB VI). An dieser Bedingung
fehlt es, wenn vielmehr ein wissentliches oder fahrlässiges Nichtnachfragen die wesentliche Bedingung dafür ist, dass
Rechte nicht ausgeübt werden (BSG, a. a. O. Randnr. 62). Die Zeugen, der damalige Prozessbevollmächtigte des
verstorbenen Ehemannes der Klägerin Rechtsanwalt P und dessen Rentengutachter Shaben bei ihrer Vernehmung
erklärt, dass sich ihnen im Jahre 1990 das Problem der Zahlbarmachung von Beitragszeiten, die in der Gegend
vonLodz zurückgelegt wurden, gestellt habe (so der Zeuge Rechtsanwalt P) bzw. dass das neue Problem § 21
WGSVG gewesen sei (so der Zeuge S). Der Ehemann der Klägerin bedurfte also keiner Beratung. Er muss sich auf
Grundlage des aus § 27 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch 10. Buch (SGB X) sowie zu § 67 Abs. 1 Satz 2 SGG von
der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Grundsatzes die Kenntnis seines Bevollmächtigten zurechnen lassen
(vgl. hierzu BSG, Urteil vom 15. August 2000 – B 9 VG 1/99 R – SozR 3-3100 § 60 Nr. 3 mit weiteren Nachweisen).
Die Kostenentscheidung nach § 193 SGG entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.